An einem drückend heißen Abend im August saß ich in einer Bar und schaute dabei zu, wie bei WhatsApp unter seinem Namen immer wieder „schreibt…“ auftauchte. In meinem Bauch schnürte sich etwas zusammen. Ich hielt meinen Atem an, zählte bis drei, und dann tauchte seine Nachricht endlich auf. „Tut mir so leid, dass ich das jetzt schreiben muss, aber ich habe einen Familiennotfall. Ich schaffe es heute Abend also nicht mehr.“
Die tatsächliche Nachricht war eigentlich deutlich länger und erzählte mir eine komplizierte Story rund um ein enges Familienmitglied in einer schweren Nervenkrise, die zu einer Leben-oder-Tod-Situation geführt hatte. Diese wiederum war der Grund dafür, dass mein Date (nennen wir ihn mal Paul) sofort die Stadt verlassen musste. Als ich mir seine Nachricht so durchlas, huschten mir mehrere Dinge durch den Kopf: Scham, Verzweiflung, und auch eine leichte Sorge um Pauls Familienmitglied. Ich stand auf, fest davon überzeugt, dass das Wort „KORB“ deutlich auf meiner Stirn zu lesen sein musste. Während ich meine Tränen wegblinzelte, verließ ich die Bar und trat in die drückende Hitze dieser dunklen Nacht hinaus, von der ich mir wünschte, sie würde mich verschlucken.
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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich mich wieder etwas beruhigt und empfand mehr Mitgefühl mit Paul. Während ich mich im Bett umdrehte und nach meinem Handy griff, schüttelte ich die restliche Unsicherheit ab und scrollte mich wie jeden Morgen erstmal durch die Leben von Fremden. Als ich mich so durch diverse Instagram-Storys klickte, stockte mir plötzlich der Atem. Das konnte doch nicht etwa…? Doch da war er, der Paul, mit ein paar Freunden im Pub, Bier trinkend, grinsend, sorgenfrei. Er hatte das Foto in seiner Story gepostet. Und – zack! – ganz plötzlich hatte ich vom Dating die Schnauze voll.
An dieser Stelle sollte ich wohl erstmal ein bisschen zurückspulen. Ich hatte schon immer große Angst vor Intimität; selbst mit sieben Jahren rannte ich schon auf dem Spielplatz vor Jungs weg, die uns Mädchen einen Kuss aufdrücken wollten. Die Vorstellung, von ihnen erwischt zu werden, gruselte mich – und gleichzeitig war ich doch jedes Mal enttäuscht, wenn mich niemand fing. Dieses Hin und Her aus Angst und Trauer darüber, nicht auserwählt worden zu sein, begleitete mich während meiner ganzen Jugend. Ich zeigte nicht mal den Hauch von Interesse an meinen Schwärmen, aus Angst davor, letztlich doch einen Korb zu bekommen. Stattdessen aalte ich mich in unerwiderter Liebe, die ich nur in meinem Kopf auslebte, anstatt mich der Angst – aber auch dem Glück – zu öffnen, die echte Intimität bringen kann.
Mit Anfang 20 erlaubte ich es mir dann zum ersten Mal, mich ein bisschen verletzlicher zu machen, indem ich mich auf lockere Situationships einließ und mich dann doch wunderte, wenn sich der Typ (meist unsicher oder gerade raus aus einer Beziehung) zurückzog, sobald es auch nur halbwegs ernst zwischen uns wurde. Wenn sich das Blatt aber wendete und mir jemand zu „intensiv“ wurde (weil er es wagte, mir „zu viel“ zu schreiben oder mir zu sagen, dass er mich mochte), schreckte ich entsetzt zurück und reagierte teilweise sogar richtig herablassend.
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Dieses Muster setzte sich fast ein Jahrzehnt lang so fort. Schließlich, nach einer besonders furchtbaren Trennung 2021 – von einem Mann, dessen nonexistentes Interesse an meinem Leben ich immer als bizarre Charaktereigenschaft abgetan hatte –, fiel ich in das bisher dunkelste Loch meines Lebens. Monatelang schwankte ich zwischen dem Wunsch, etwas fühlen zu wollen, und der Selbstbetäubung durch Alkohol, Drogen, Rauchen, Sport, zu viel und zu wenig Essen hin und her. Als keine dieser zerstörerischen Strategien meine Stimmung aber auch nur ansatzweise verbesserte, beschloss ich, es zum ersten Mal mit einer Therapie zu versuchen.
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Meine Männerwahl war eine Art Selbstsabotage gewesen. Ich hatte es immer auf die abgesehen, die sich nie so richtig auf mich einließen, und rannte vor denen weg, die es taten.
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Das war eine augenöffnende Erfahrung. Nach monatelanger, schmerzhafter Selbstreflexion, wegen der ich teilweise lautstark schluchzend im Park saß, wurde mir klar, dass mein Verhalten nichts mit irgendeinem „Fluch“ zu tun hatte, der mir bei meiner Geburt auferlegt worden war. Meine Männerwahl war stattdessen eine Art Selbstsabotage gewesen. Ich hatte es immer auf die abgesehen, die sich nie so richtig auf mich einließen, und rannte vor denen weg, die es taten. Im Laufe der Therapie dokumentierte ich meine eigenen ungesunden Angewohnheiten – vom zu wenigen Essen zum Binge-Essen bis hin zum regelmäßigen heftigen Alkoholkonsum. All diese Verhaltensweisen hatten denselben Auslöser: die zwanghafte Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Anstatt mich mit der Leere auseinanderzusetzen, die ich empfand, hatte ich mir beigebracht, die Trauer und Angst durch Essensentzug, Alkohol oder Netflix zu betäuben. Die Bindungstheorie ist heute ein großes Thema, und ich war das Bilderbuchbeispiel für den ängstlich-vermeidenden Bindungstyp: Ich sehnte mich zwar nach Liebe und Zuneigung, hatte aber gleichzeitig enorme Angst davor.
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In den hintersten Ecken meines Gehirns hatte ich Intimität und Bindung mit Zurücklassung, Ablehnung und Schmerzen gleichgesetzt. Indem ich Partner auf Abstand hielt oder mir immer nur Leute aussuchte, die meine Bedürfnisse niemals erfüllten, versuchte ich mich unbewusst selbst zu schützen. Größtenteils funktioniert das auch. Indem ich mich aber auf diese Art „schützte“, hatte ich mir einen sehr einsamen Käfig erschaffen. Die Therapie erlaubte es mir schließlich, verdrängte Erinnerungen und tief verwurzelte Überzeugungen ans Licht zu bringen und zu hinterfragen. Das Ganze fühlte sich für mich wahnsinnig befreiend an.
Ich war schon seit fast einem Jahr in Therapie, als das Paul-Debakel passierte. Ich hätte es also besser wissen sollen. Bereits ein Jahr davor hatte Paul mich immer wieder versetzt und geghostet, und war dann immer plötzlich wieder aufgetaucht, verdächtig enthusiastisch und verfügbar. Dieser emotionale Rückschlag war aber letztlich genau das gewesen, was ich gebraucht hatte. Auf den Rat meiner Therapeutin beschloss ich, mich ein ganzes Jahr lang vom Dating zu distanzieren und meine Energie stattdessen auf mich selbst zu konzentrieren.
Vorher hatte ich immer das Gefühl gehabt, eine Begleitung zu brauchen, wenn ich in den Urlaub fuhr. Einen Monat nach meinem Dating-Vorsatz beschloss ich aber, alleine eine Rundreise durch die italienische Seenlandschaft zu machen. Also schlürfte ich Aperol Spritz in Padua, schaute mir Gemälde von Tintoretto in Venedig an, zeichnete am Ufer des Iseosee und schaufelte mir hemmungslos Pasta in den Mund. Ich fing an, fast täglich Yoga zu machen und mir Podcasts zur somatischen Traumaheilung anzuhören. Ich versuchte, mit dem Rauchen aufzuhören und begann damit, jeden Morgen und Abend zu meditieren. Eines Tages hatte ich dann eine Eingebung: Ich wäre gern eine Künstlerin – und hatte diesen Wunsch mein ganzes Erwachsenenleben über unterdrückt. Innerhalb weniger Wochen nach meiner Rückkehr aus Italien hatte ich meinen Job gekündigt, mir eine neue Wohnung gesucht und mir einen Studienplatz an einer Kunst-Uni besorgt.
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Heute date ich wieder. Ich wünschte, ich könnte behaupten, die lange Pause hätte das Ganze leichter gemacht – nicht ganz. Die gestärkte Achtsamkeit dafür, was ich brauche und verdiene, erleichtert es mir aber definitiv, mir die richtigen Menschen auszusuchen. Ich weiß heute, dass ich jemanden verdiene, der verfügbar, offen und aufmerksam ist und es ernst meint; jemand, der zuhört, wenn ich rede, der mir echte Fragen stellt, der ehrlich, lieb und verlässlich ist. Bei einem Date war ich vor Kurzem richtig sprachlos, weil mir der Typ nicht bloß ehrlich interessiert zuhörte, sondern, als ich das Gespräch wieder auf ihn umzulenken versuchte, mich sogar darum bat, damit aufzuhören und weiter zu erzählen. Es ist traurig, dass mich solches Verhalten so erstaunt – aber es dauert eben mehr als nur zwei Monate, eine lebenslange „Programmierung“ abzulegen.
Die Pauls meines bisherigen Liebeslebens waren unreife, verwirrte Jungs, die sich kaum meine Drink-Bestellung merken konnten – geschweige denn meine Lieblingsfarbe. Es war aber nicht allein ihre Schuld, dass es mit uns nicht klappte. Ich war die ganze Zeit über nicht offen. Erst als ich lernte, mich selbst zu lieben, konnte ich mir die richtigen Leute aussuchen und auf Augenhöhe mit ihnen sprechen. Ich habe aufgehört, vor meinen Gefühlen davonzurennen – und laufe jetzt endlich auf etwas zu.
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