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„Das Schlimmste, das ich jemals wem angetan habe“: Bekenntnisse einer Frau mit Bindungsangst

Foto: Eylul Aslan
Vor ein paar Jahren entwickelte die 32-jährige Kari eine „tiefe emotionale Bindung“ zu einer Frau, die sie auf Twitter kennengelernt hatte. Irgendwann grenzte ihr Verhältnis dann schließlich an Romantik. Da sie zu dieser Zeit in einer Beziehung war, ließ sie sich aber auf nichts Weiteres ein. Als sie sich zu Beginn des Jahres aber von ihrem Freund trennte, beschloss Kari, den Kontakt zu dieser Person wieder aufzunehmen.
„Es wurde schnell intim zwischen uns“, erinnert sie sich. Als diese Frau ihr im August ein wohlüberlegtes Geschenk schickte, traf Kari die Entscheidung, es sei „an der Zeit, wirklich zu versuchen, etwas daraus zu machen“. Kari wollte ihr zeigen, dass sie ihr wichtig war.
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Kari versprach ihrer Bekanntschaft, quer durchs Land zu reisen, um sie an ihrem Geburtstag besuchen zu können (wenn es COVID zuließe). Sie hatten vor, zusammen ein Spa aufzusuchen, in einem schicken Hotel zu übernachten und eine malerische Stadt zu erkunden. „Ich sagte ihr, dass ich mich um alles kümmern würde: die Planung und das Finanzielle. Ich hatte einen Bonus bei der Arbeit bekommen. Der Trip würde mich also nicht finanziell belasten.“ Die beiden blieben in den Wochen vor dem anstehenden Geburtstag in Verbindung und Kari bestätigte immer wieder, dass die Reise immer noch stattfinden würde.
Der Knaller? „Als es dann soweit war und der große Tag kam, hatte ich nichts geplant, tat nichts und sagte nichts.“
Kari gibt uns einen Einblick in die Psyche einer vermeidenden Frau, eine Form von Beziehungsangst, die typischerweise Männern zugeordnet wird – sei es der schwer erreichbare Traummann auf einer Dating-App, der dich nach einigen Dates abblitzen lässt, oder der Freund, dem es vor einer Bindung graut und der sich jedes Mal zurückzieht und behauptet, er fühle sich, als würde er „erdrückt“, wann immer du seine Nähe suchst.

Kinder mit vielen vernachlässigten Bedürfnissen neigen dazu, einen vermeidenden Stil zu entwickeln.

BHAVNA JANI-NEGANDHI
In den 1950ern entwickelte der britische Psychologe und Psychiater John Bowlby seine Bindungstheorie. Dieses Rahmenwerk erlaubt es uns, zu verstehen, wie unsere frühesten Beziehungen zu unseren Eltern oder primären Bezugspersonen unsere lebenslange soziale und emotionale Entwicklung beeinflussen können. Seitdem wurde dieses Wissen in Bezug auf Beziehungen Erwachsener angewandt, insbesondere vom Psychiater und Neurowissenschaftler Dr. Amir Levine und der Psychologin Rachel Heller in Warum wir uns immer in den Falschen verlieben: Beziehungstypen und ihre Bedeutung für unsere Partnerschaft, einem Leitfaden zur Anwendung der Bindungstheorie bei der Suche nach Liebe. Indem du deinen eigenen Bindungsstil und den deines (potenziellen) Partners oder deiner (potenziellen) Partnerin identifizierst, kannst du Levine und Heller zufolge engere, erfüllendere Beziehungen aufbauen.
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Laut Levine und Heller gibt es drei Hauptbindungsstile: sicher, ängstlich und vermeidend (mit diesem Test kannst du deinen eigenen herausfinden). Sichere Personen haben kein Problem mit Intimität und sind in der Regel warmherzig und liebevoll, während sich ängstlich-gebundene Menschen über ihre Beziehungen den Kopf zerbrechen und damit kämpfen, sich mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin sicher zu fühlen. Vermeidende Typen wie Kari sind unabhängig, emotional distanziert und neigen dazu, Intimität mit einem Verlust ihrer Freiheit gleichzusetzen.
„Kinder mit vielen vernachlässigten Bedürfnissen neigen dazu, einen vermeidenden Stil zu entwickeln“, erklärt die klinische Psychologin Bhavna Jani-Negandhi. Als Ergebnis ihrer Erfahrungen lernen diese Kinder, sich auf sich selbst zu verlassen, um ihre eigenen Bedürfnisse erfüllen zu können. Sie kommen zu der Überzeugung, dass sie andere für Intimität und emotionale Unterstützung nicht brauchen.
Es kann dazu kommen, dass sie als Erwachsene emotional unerreichbare Partner:innen wählen oder selbst emotional unerreichbar werden, sagt die klinische Psychologin Dr. Jane Major. Außerdem kann es sein, dass sie „Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse und Emotionen zu äußern oder sich verletzlich zu geben, weil sie – vielleicht basierend auf früheren Erfahrungen – unbewusst Angst davor haben, ausgenutzt, verlassen oder mit unerträglichen Gefühlen allein gelassen zu werden.“
Obwohl Kari angibt, dass sie „ohne Frage vorhatte und sich wünschte, die Sache durchzuziehen“, war sie nicht in der Lage dazu. Ihre Bekanntschaft beendete die gemeinsame Beziehung deshalb bald darauf. „Sie sagte, sie könne so nicht weitermachen, dass ich sie zu tief verletzt und kein Verantwortungsgefühl gezeigt hätte.“ Kari entschuldigte sich bei ihr und akzeptierte ihre Entscheidung – wenn auch widerwillig.
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Dann, vor ein paar Wochen, meldete sich diese Frau, nachdem ihr Hund gestorben war, wieder bei Kari. Sie gab ihr eine letzte Chance, das Geschehene wiedergutzumachen. „Ich habe nicht geantwortet.“ Kari erklärt ihr Verhalten folgendermaßen: „Es wäre nicht fair von mir gewesen, mich emotional auf sie einzulassen. Es wäre egoistisch gewesen und ich hätte mich gefühlt, als würde ich mir ihre schmerzhafte Erfahrung zu Nutze machen. Denn mir war ja bewusst, dass ich mich nur weiter in meinen vermeidenden Bindungsstil hineinsteigern würde.“
Als Kari vor zwölf Jahren eine Therapie begann, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie sich vermeidend verhielt. Ihr wurde damals empfohlen, sich mit den unterschiedlichen Bindungsstilen zu beschäftigen und mehr über dieses Thema zu erfahren, um so ihr „schlechtes zwischenmenschliches Verhalten“ (in Karis Worten) zu verstehen. Immerhin hat sie mit diesem Benehmen ihre frühesten Freundschaften und nun offensichtlich auch ihr Liebesleben zerstört. „Alles in meinem Leben machte plötzlich Sinn. Mir war plötzlich klar, warum ich nicht die gleichen engen Bindungen eingehen konnte wie andere, warum ich mich nie von alleine meldete oder mich einsam fühlte, warum ich von Videospielen besessen war.“

Jetzt ist mir klar, dass ich noch einige komplexe und schwierige Dinge anzugehen habe, bevor ich mich in Zukunft tatsächlich auf andere einlassen kann. Diese Erfahrung war mir eine schmerzhafte Lehre, auf die ich gerne verzichtet hätte – zumindest hätte ich meine Lektion lieber ohne eine Person, die mir etwas bedeutet, gelernt.

KARI, 32
Einen Tag, nachdem Kari die Sache mit dieser Frau beendet hatte, sprach sie ihren vermeidenden Bindungsstil in der Therapie wieder an. „Jetzt ist mir klar, dass ich noch einige komplexe und schwierige Dinge anzugehen habe, bevor ich mich in Zukunft tatsächlich auf andere einlassen kann. Diese Erfahrung war mir eine schmerzhafte Lehre, auf die ich gerne verzichtet hätte – zumindest hätte ich meine Lektion lieber ohne eine Person, die mir etwas bedeutet, gelernt.“
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Kari beschreibt ihr Verhalten in dieser Situation als „das Schlimmste, das ich jemals jemandem angetan habe“ und erklärt, dass sie sich noch nie so schlecht gefühlt habe. Gleichzeitig gibt sie aber auch zu, dass sie jedes Mal erleichtert sei und sich darüber freue, wieder allein zu sein, wann immer eine Beziehung wie diese endet. „Irgendwann fühle ich mich erschöpft und freue mich über irgendeinen subjektiv empfundenen Fehler der anderen Person, auf den ich mich auf übertriebene Weise konzentrieren kann, damit ich die Beziehung nicht aufrechterhalten muss.“
Kari führt den Ursprung ihres eigenen Vermeidungsverhaltens auf die Beziehung zu ihrer Mutter zurück: eine „karrierebewusste [und] emotional unnahbare“ Frau, die sie zu früh zur Welt brachte und sich als alleinerziehende Mutter mit einer prestigeträchtigen Marketingkarriere in den ersten Jahren nicht um sie kümmern konnte.
Als Kind wurde Kari ständig als „unnahbar“ und „unzuverlässig“ abgestempelt. Zu Verabredungen mit Freund:innen tauchte sie nie auf, selbst wenn sie unbedingt hingehen wollte. „Meine Freund:innen rissen Witze darüber, dass sie mich immer abholen mussten, um mich sehen zu können. Meine Mutter gab mir sogar Geld, damit ich doch endlich einmal das Haus verließ.“
Karis vermeidender Bindungsstil wirkt sich auch auf ihre familiären Beziehungen aus: Sie verpasste den Tod ihres Großvaters, weil „Gefühle in Zusammenhang mit ihrer Familie bei ihr für Unbehagen sorgten“, und auch mehrere Freundschaften, die sie als Erwachsene geschlossen hatte, haben sich in Luft aufgelöst.
„Was Freundschaften betrifft, habe ich in der Vergangenheit viele Brücken hinter mir niedergebrannt, als Fragen in Bezug auf meine Unzuverlässigkeit und meine Unfähigkeit, Gefühle auf traditionelle Weise zu erwidern, aufkamen.“ Sie musste lernen, die Erwartungen von Menschen, die in ihr Leben treten, runterzukurbeln: Sie erklärt ihnen im Vorhinein, dass sie selten an Geburtstagsfeiern teilnimmt, ins Kino geht oder anderen gegenüber Zuneigung zeigt (obwohl sie es vielleicht gerne täte). Andere Personen darüber aufzuklären, was sie von ihr als Freundin erwarten können – nämlich sehr wenig –, „ist für mich der Schlüssel zu einem glücklichen Leben. Deshalb versuche ich allen, die ich in meiner Nähe haben möchte, mein Verhalten näher zu erklären“, fügt Kari hinzu.
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„Es spielt keine Rolle, ob wir seelenverwandt sind oder du der coolste Mensch der Welt bist. Mein Gehirn weiß einfach nicht, wie es eine Bindung herstellen soll. Das Einzige, was ich tun kann, ist, zu versuchen, den Schaden, den es anrichten kann, so gering wie möglich zu halten.“
Obwohl Karis Geschichte ein Beweis dafür ist, dass auch Frauen einen vermeidenden Bindungsstil haben können, werden solche Verhaltensweisen typischerweise mit Männern in Verbindung gebracht. Psychotherapeutin Anne Glynn erklärt, dass dieser Bindungstyp zwar häufiger bei Männern vorkommt, sie aber auch schon mit „einer beträchtlichen Anzahl“ von vermeidenden Frauen gearbeitet hat. In den meisten Fällen haben diese ein Kindheitstrauma – wie sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung, Verlassenwerden, elterliche Gewalt oder den Tod eines Elternteils – durchlebt.
Glynn hatte auch bereits mehrere Männer als Patienten, die sich in Beziehungen mit vermeidenden Frauen befanden und „bei jedem Versuch, Intimität und Vertrauen zu ihnen aufrechtzuerhalten, in Mitleidenschaft gezogen wurden“. Der Grund dafür, dass Vermeidungsverhalten typischerweise Männern zugeschrieben wird, liegt laut Glynn daran, dass einige der Einstellungen, die wir mit diesem Stil assoziieren, „männlich“ erscheinen können – wie zum Beispiel Härte, Emotionslosigkeit und Unabhängigkeit.
„Uns allen ist der Stereotyp der schwer zu fassenden ‚bindungsscheuen‘  Person bekannt. Dieser Begriff wird normalerweise mit Männern in Verbindung gebracht. Wir nehmen an, dass Frauen Beziehungen, Liebe, Bindung, Intimität und Mutterschaft anstreben, und es beruhigt uns vielleicht, zu wissen, dass es Frauen gibt, die nicht unseren Erwartungen entsprechen“, schließt Glynn.
Aber wie bei allem, das du dir abgewöhnen willst, ist es möglich, dein Bindungsverhalten zu ändern. Eine Therapie ist sehr empfehlenswert, sagt Barbara Honey, leitende Praxisberaterin. Sie ermöglicht es dir, zu verstehen, wie es überhaupt zu deiner Beziehungsangst gekommen ist. „Kleine Risiken einzugehen, wie sich zu trauen, ein Gefühl auszudrücken oder sich allmählich zu erlauben, sich jemandem zu nähern“, kann Vermeider:innen ebenfalls dabei helfen, ihre Muster zu ändern.
Und wenn du in einer Beziehung mit einem Vermeider oder einer Vermeiderin bist, „kann es sein, dass du oft Ängste verspürst und befürchtest, dass deine Erwartungen mit Bezug auf Sicherheit und Klarheit unangemessen sein könnten.“ Glynn versichert: „Das sind sie aber nicht. Levine und Heller [die Autoren von Warum wir uns immer in den Falschen verlieben] erklären: ‚Du bist nur so bedürftig wie deine unerfüllten Bedürfnisse‘.“
Kari ermutigt andere Vermeider:innen dazu, eine Therapie auszuprobieren und in den Sitzungen völlig ehrlich zu sein. „Vielleicht wirst du eines Tages in der Lage sein, neurotypische emotionale Bindungen aufzubauen. Möglicherweise kannst du die große emotionale Entfernung zwischen dir und anderen überwinden. Ich habe diesen Teil meiner Reise noch nicht erreicht. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass mir das je gelingen wird. Im Moment ist Kommunikation der Schlüssel zu meinem Glück und der Schlüssel dazu, andere um mich herum nicht zu verletzen.“
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