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Warum ist es so verdammt schwer, Tagebuch zu schreiben?

Foto: Tayler Smith.
Ich war nie die Art Mensch, die Tagebuch schreibt. Klar hatte ich mit 12 oder 13 Jahren dieses flauschige Büchlein mit einem kleinen Schloss dran – aber seine Existenz fiel mir nur alle paar Monate mal ein. Wenn ich es heute aus dem Chaos meiner Kindheitserinnerungsstücke rauskramen würde, wären 85 Prozent der Seiten vermutlich völlig leer, 10 Prozent davon mit irgendwelchen Zeichnungen vollgekritzelt, und 5 Prozent „Spionagenotizen“ zu meiner Familie (es geht doch nichts darüber, jede Bewegung deiner Liebsten genauestens zu notieren, oder?).
Trotzdem habe ich mir – wie viele andere auch – schon unzählige Social-Media-Videos zu den Morgen- und Abend-Routinen von Influencer:innen angeschaut. Unzählige Videos. Und ja, mir ist durchaus aufgefallen, dass in fast allen davon ein Tagebuch zum Einsatz kommt. Das ergibt auch durchaus Sinn: Studien haben wiederholt erwiesen, dass regelmäßiges Tagebuchschreiben Stress reduzieren, Ängste kontrollieren und Symptome einer Depression minimieren kann, das Selbstbewusstsein und die Gefühlsregulierung stärken kann, eine Chance zum positiven Selbstgespräch bietet und sogar die Widerstandsfähigkeit gegenüber Herausforderungen verbessert. Vorausgesetzt, du bleibst auch wirklich dran.
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Weil sich all das für mich ziemlich reizvoll anhört und ich neugierig war, ob mir das Tagebuch wirklich dabei helfen könnte, meinen eigenen Stress und meine Sorgen besser zu kontrollieren, beschloss ich, es selbst einmal auszuprobieren. Dazu sprach ich aber zuerst mit ein paar Expert:innen. Und wie du vielleicht schon vermutest, war das Tagebuch meiner Teenie-Zeit kein gutes Vorbild für diesen Versuch; um die psychologischen Vorteile des Tagebuchschreibens genießen zu können, würde ich das Ganze schon etwas anders angehen müssen.
„Tagebuchschreiben ist quasi eine andere Formulierung für ‚Gedanken und Gefühle zu Papier bringen‘. Du gibst ihnen damit einen Ort, an dem sie existieren können – außerhalb deines Kopfes“, erklärt mir die Mental-Health-Expertin, Autorin und auszubildende Psychotherapeutin Jo Love. Sie beschreibt das Tagebuch als „Werkzeug, das es uns erlaubt, unsere Gefühle zu verarbeiten und über uns selbst nachzudenken“.
„Seine Effektivität hängt von den individuellen Vorlieben und psychologischen Bedürfnissen ab“, ergänzt die Psychologin und Therapeutin Dr. Kalanit Ben-Ari. „Tagebuchschreiben hilft besonders beim Loslassen und Verarbeiten von Gefühlen und Gedanken, und gegen Angstzustände. Es verstärkt das Bewusstsein für das eigene Selbst. Während du schreibst, liest und vielleicht auch Einträge bearbeitest, erschaffst du eine psychologische Distanz zwischen dir und deinen Gedanken und Gefühlen. Dieser Prozess erlaubt es dir, Erlebnisse aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und sie vielleicht neu anders einzuordnen.“

Selbst wenn du nur eine einzelne Zeile schreibst, ist das völlig okay.

Love versichert mir, dass es keine Regeln dazu gibt, wie man ein Tagebuch „richtig“ führt. „Es gibt aber Tausende hilfreiche Ideen und Schreibanregungen da draußen, die dich antreiben können, wenn du nicht weißt, wie du anfangen sollst. Am wichtigsten ist es, dich vom Anspruch der Perfektion zu lösen“, erklärt sie. „Selbst wenn du nur eine einzelne Zeile schreibst, ist das völlig okay.“
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„Persönliche Vorlieben spielen dabei eine große Rolle“, betont auch Dr. Ben-Ari. „Manchen Leuten hilft es, sich morgens zum Schreiben hinzusetzen, um Absichten für den Tag zu formulieren und sich in ein positives Mindset zu versetzen. Andere schreiben lieber vor dem Schlafengehen, um den Tag Revue passieren zu lassen und den Geist zu beruhigen und auf einen erholsamen Schlaf einzustellen.“
Bewaffnet mit diesen Ratschlägen kramte ich ein unbenutztes Notizbuch aus einer Schublade und durchsuchte die Wohnung nach einem Stift (erfolglos; ich musste mir tatsächlich eine Packung Kugelschreiber kaufen), bevor ich beides neben mein Bett legte.
Ich will nicht lügen: An den ersten Abenden und Morgen fiel es mir extrem schwer, mir irgendwas zum Schreiben zu überlegen. In meinem Kopf hörte ich immer wieder die Worte meines Uni-Dozenten für Kreatives Schreiben – Fang einfach an, und die Worte kommen ganz von allein –, also machte ich das auch. Erst schrieb ich banale Sätze über meinen Tag: was ich gegessen hatte, zum Frühstück, Mittag- und Abendessen. Darüber, dass meine Züge Verspätung gehabt hatten. Über das Wetter. Wenig überraschenderweise betrachtete ich das Tagebuchschreiben dann schnell als eine Aufgabe, die ich erledigen musste, anstatt als wertvolle Zeit für mich selbst.
Das ist ganz normal: Wir Menschen sind tatsächlich sehr schlecht darin, neue Gewohnheiten zu entwickeln. Tatsächlich haben Studien erwiesen, dass 23 Prozent aller Leute schon in der ersten Januarwoche ihre Neujahrsvorsätze aufgeben, und 43 Prozent vor dem Monatsende. „Wie bei Neujahrsvorsätzen fängst du das Tagebuchschreiben vielleicht mit guten Absichten und fester Überzeugung an. Oft lässt beides aber innerhalb weniger Wochen nach“, meint auch Dr. Ben-Ari. „Vielen fällt es schwer, sich an ihren Tagebuch-Zeitplan zu halten, weil die mentalen und emotionalen Vorteile nicht für alle gleich stark ausgeprägt sind.“
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Zum Glück hatten beide meiner Expertinnen ein paar Tipps für mich, um das Meiste aus meinem Experiment herauszuholen – in der Hoffnung, mir die Gewohnheit doch ein bisschen länger zu bewahren.
„Behandle dein Tagebuch als private Erkundung für dich und sonst niemanden“, empfiehlt Love. „Nimm dir Zeit, um über deinen Tag, wichtige Erlebnisse oder Entscheidungen nachzudenken. Vielleicht schreibst du alles auf, worüber du dich sorgst oder ärgerst. Es kann auch helfen, dir zu überlegen, was dir ein gutes Gefühl gegeben hat oder woraufhin du stolz auf dich warst. Auch ein Brief an dein vergangenes oder zukünftiges Ich kann tatsächlich eine starke Wirkung haben.“
Dr. Ben-Ari hat einen anderen Vorschlag für mich. „In meiner Praxis ermutige ich meine Patient:innen dazu, ein Traumtagebuch zu führen, weil Träume Botschaften unserer inneren Weisheit und unseres Unterbewusstseins enthalten“, erzählt sie. „Sie aufzuschreiben, erfüllt drei Funktionen: Du erinnerst dich langfristig an die Träume; du erfährst mehr über ihre Themen und Narrative; und du beobachtest psychologische Entwicklungen.“
Ich fing also damit an, mir jeden Abend eine Tasse Kamillentee zum Bett mitzunehmen und daran zu nippen, während ich alle meine Gedanken und Gefühle zu Papier brachte, um einen klareren Blick auf meinen Geist – und meine Welt – zu entwickeln. Ich bin ein ziemlich sozial nervöser Mensch, der sich über jede Kleinigkeit den Kopf zerbricht; daher benutzte ich mein Tagebuch, um diese Ängste ein bisschen zu erkunden, anstatt im Bett darüber zu grübeln. Weil ich außerdem dazu neige, kritische Selbstgespräche in meinem Kopf zu führen, war es tatsächlich sehr schön, mir jeden Abend ein bisschen Zeit zu nehmen, um auch mal darüber nachzudenken, was ich an diesem Tag gut gemacht hatte – egal, wie scheinbar belanglos das auch gewesen war.
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Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass ich mich tagsüber schon darauf freute, mich abends mit meinem Tagebuch ins Bett zu kuscheln.

Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass ich mich tagsüber schon darauf freute, mich abends mit meinem Tagebuch ins Bett zu kuscheln. Und als jemand, die ansonsten viel Zeit damit verbringt, sich grübelnd im Bett hin- und herzuwälzen (und danach angsterfüllte, unruhige Träume zu durchleben, die ich heute immer aufschreibe), kann ich sogar behaupten, heute nach dem Tagebuchschreiben schneller einzuschlafen als früher. Meine Träume sind zwar so chaotisch wie eh und je, aber ich hoffe, dass sich auch sie im Laufe der Zeit durch das Tagebuchschreiben verbessern.
Wenn ich ganz ehrlich bin, wünschte sich meine innere Zynikerin wohl, dass dieses Experiment scheitern würde. Ich war nie ein Fan von ausschweifenden Morgen- und Abend-Routinen, und die ganzen „Hier shoppen“-Links in den Wellness-Videos auf TikTok und Co. ließen mich vermuten, dass es dabei letztlich doch nur um Geld ging.
Ich stellte fest, dass ein besonderes, glitzerndes Notizbuch dem Ganzen noch eine Extraportion Glamour verlieh. Tatsächlich tut es im Notfall aber auch jedes Stück Papier, das du finden kannst. Alles, was du wirklich brauchst, sind ein paar Minuten Zeit pro Tag. Ja, viele Leute versuchen, 15 bis 20 Minuten pro Tag einzuräumen; eine Gewohnheit verfestigst du aber am besten, indem du klein anfängst (und wenn es dir so geht wie mir, wirst du im Laufe der Wochen von ganz allein mehr und mehr schreiben).
Wenn du ein bisschen Starthilfe brauchst, empfiehlt Love, etwas wie ein Dankbarkeitstagebuch auszuprobieren und täglich drei Dinge zu notieren, für die du dankbar bist. Oder schreib nur einen Satz pro Tag, um dir selbst den Druck zu nehmen. „Es kann ein einfacher Einstieg ins Tagebuchschreiben sein, einfach all das niederzuschreiben, was dir an diesem Tag so durch den Kopf gegangen ist oder was du erlebt hast“, sagt sie.
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Eine kleine Warnung habe ich doch: Obwohl das Tagebuchschreiben vielen Leuten enorm geholfen hat – und auch ich inzwischen davon überzeugt bin –, ist es wichtig, dabei auch darauf zu achten, wie du dich währenddessen fühlst. Jede:r ist anders. 
„Wenn du dich überwältigt fühlst, kann dir das Tagebuchschreiben dabei helfen, deine Erfahrungen und Gefühle einzuordnen und damit deinen Geist zu beruhigen“, erklärt Dr. Ben-Aro. „Ich rate allerdings davon ab, das Tagebuchschreiben zum Erstellen von ‚To-do-Listen‘ zu nutzen, weil das deinen Stresspegel sogar verstärken oder von tieferen Problemen ablenken kann, denen du dich eher widmen solltest. Es kann dich außerdem stressen, übermäßig über negative Erfahrungen oder Gefühle zu schreiben. Und was ebenfalls wichtig ist: Nicht jedem Menschen macht Schreiben auch Spaß.“
In diesem Fall eignet sich eine andere Methode vielleicht einfach besser – wie Kunst oder andere kreative Beschäftigungen, die deinen Gefühlen Ausdruck verleihen. Wir sollten dabei immer bedenken, dass das Tagebuchschreiben – und andere Formen des emotionalen Ausdrucks – letztlich ein Werkzeug ist, das wir so einsetzen sollten, wie es für uns am besten funktioniert.
So, ich mache mich jetzt auf den Weg ins Bett. Und natürlich werde ich dort jetzt erstmal darüber schreiben, wie es für mich war, über das Tagebuchschreiben zu schreiben. Wow, jetzt wird es echt meta.

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