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Zwangsgedanken sind nicht das, wofür du sie hältst

Foto: Flora Maclean.
Triggerwarnung: Der folgende Artikel enthält Beschreibungen von Zwangsgedanken, die manche Leser:innen verstören könnten.
Hast du selbst schon mal an einem Gleis gestanden und einfach nur auf die Bahn gewartet, als dir dein Gehirn plötzlich die bizarre Idee einflüsterte, vor den einfahrenden Zug zu werfen? Oder hast du schon mal im Auto gesessen und laut zum Radio mitgesungen, als dir auf einmal die Vorstellung in den Sinn kam, das Auto von der Straße zu lenken? Was du da erlebt hast, war vermutlich ein Zwangsgedanke.
Diese unwillkommenen Fantasien sagen überhaupt nichts über die Absichten oder den moralischen Charakter einer Person aus. Fast jede:r hatte schon mal solche Zwangsgedanken, selbst wenn man sie selbst zu dem Zeitpunkt nicht als solche erkannte. Meistens hakt man diese Gedanken dann schnell wieder ab und widmet sich wieder dem Alltag.
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„Ein Zwangsgedanke unterscheidet sich meist von typischen, alltäglichen Gedanken und kann unüblich gewaltvoll sein“, erklärt die Psychologin und Coach Zoe Mallett. „Wenn dich ein Gedanke verstört und du feststellst, dass du dich von ihm abzulenken versuchst, weil du ihn aus deinem Kopf verdrängen möchtest, handelt es sich womöglich um einen Zwangsgedanken. Meistens ist das etwas, wovon du dir wünschst, dass es niemand über dich erfährt, und gibt dir das Gefühl, dich dafür schämen zu müssen oder nicht ‚normal‘ zu sein.“

Wenn meine Zwangsgedanken wirklich gewinnen würden, würde man mich für den Rest meines Lebens einweisen.

@thoughtfulbae auf twitter
Studien haben ergeben, dass 94 Prozent aller Menschen diese ungewollten, aufdringlichen Gedanken erleben. Das spiegelt sich auch auf TikTok wider, wo der Hashtag #intrusivethoughts über eine Milliarde Views hat. Obwohl also (fast) jede:r dieses Phänomen kennt, kann es auch ein medizinisches Problem sein, das oft mit Zwangsstörungen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung in Verbindung gebracht wird. Manchmal können Zwangsgedanken aber auch von starkem Stress oder Phasen der intensiven Angst und Anspannung ausgelöst werden.
Dank ihrer Viralität sind die Zwangsgedanken auf TikTok inzwischen schon zu einem Schlagwort geworden, mit dem Menschen willkürliche, alltägliche Impulse beschreiben. Virale Videos, in denen Leute etwas Ungewöhnliches machen – wie den Alarmknopf in einem Aufzug zu drücken, sich selbst zu tätowieren oder eine dreckige Haltestange in der U-Bahn zu berühren –, bekommen dann Captions wie „Meine Zwangsgedanken haben gewonnen“. In den Kommentaren unter solchen Videos kritisieren meistens zahlreiche User:innen die Content Creators dafür, dass sie den Begriff „Zwangsgedanken“ falsch verwenden und verharmlosen. Viele Betroffene fürchten nämlich, der falsche Gebrauch des Begriffs könnte die Bedeutung eines echten geistigen Gesundheitsproblems verwässern.
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Creators wie diese haben vielleicht durchaus schon mal einen plötzlichen Impuls zu irgendeiner Handlung verspürt und sind ihm gefolgt. Wer aber einen tatsächlichen Zwangsgedanken erlebt, verhält sich meist genau gegensätzlich – und greift sicher nicht zum Handy, um das Ganze zu filmen. Laut der Anxiety & Depression Association of America (ADAA) ist der gefährlichste Mythos, der mit Zwangsgedanken verknüpft ist, nämlich der, dass diese Gedanken automatisch zur Handlung führen würden. In Wahrheit entsprechen Zwangsgedanken aber überhaupt nicht den Wünschen oder Überzeugungen der betroffenen Person, die sich typischerweise stark darum bemüht, gegen diese Gedanken anzukämpfen.
Die Psychologin Dr. Sarah Bishop erklärt: „Für Betroffene einer Zwangsstörung kann es sehr schädlich sein, ungenaue Informationen zur Natur von Zwangsgedanken zu bekommen.“
„Unsere Gedanken und unser Verhalten sind zwei voneinander getrennte Einheiten“, sagt sie. „Ein Verhalten ist, wie wir in der Realität auf ein mentales Erlebnis reagieren – zum Beispiel auf einen Gedanken oder ein Gefühl. Zwangsgedanken sind mentale Erlebnisse, die eine Person als zutiefst verstörend empfindet und denen sie nicht Folge leisten will. Wir haben ein gewisses Maß an Entscheidungskraft über unser Verhalten. Über das natürliche Nebenprodukt unserer mentalen Aktivität – unsere Gedanken – haben wir hingegen keine Entscheidungskraft.“
Manche Betroffenen erleben sehr viele Zwangsgedanken, und es kann dadurch umso schwieriger sein, sie abzuschütteln. Diese Gedanken sind oft von unangebrachter oder gar „verbotener“ Natur, vielleicht im Zusammenhang mit Kindern, Tieren, inzestuösen oder gewalttätigen Themen (rund 13 bis 21 Prozent der Menschen mit einer Zwangsstörung erleben Zwangsgedanken rund um sexuelle Besessenheiten). Gelten diese Gedanken als „tabu“ – entweder auf persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene –, ist der Druck, sie geheim halten zu wollen, für Betroffene oft so stark, dass sie sie jahre- oder sogar lebenslang für sich behalten.
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„Betroffene einer Zwangsstörung leiden wegen ihrer Zwangsgedanken unter intensivem Stress und fühlen sich dann dazu gezwungen, die damit einhergehenden Verhaltensweisen auszuführen, weil sie verzweifelt versuchen, den Gedanken damit zu stoppen. Für manche kann diese Störung daher den gesamten Alltag bestimmen“, erklärt Bishop. Einige Betroffene bekommen einen solchen Zwangsgedanken einfach nicht aus dem Kopf oder verfallen in Zwangsverhalten wie Klopfen oder Zählen, um den Gedanken wieder loszuwerden. 
Die sozialen Medien haben bereits einen großen Beitrag darin geleistet, Lücken in der öffentlichen Debatte rund um geistige Gesundheit zu füllen, indem sie Raum für Communitys geschaffen und Stigmata abgebaut haben. Dennoch können sich falsche Selbstdiagnosen und die falsche Verwendung medizinischer Fachbegriffe negativ auf tatsächliche Betroffene dieser ernsten Störungen auswirken. In der unkontrollierten Welt von Social Media können sich Fehlinformationen ausbreiten wie ein Lauffeuer – und wer die eigenen wahren Erfahrungen mit Zwangsgedanken teilt, macht sich damit leider auch anfällig für Mobbing.
„Für Betroffene von Zwangsgedanken, die womöglich sogar den Kriterien einer Zwangsstörung entsprechen, ist es eine der größten Herausforderungen, die Fähigkeit zu entwickeln, diese Gedanken zu akzeptieren, ohne sie zu verurteilen oder darauf zu reagieren“, erklärt Dr. Bishop. „Wenn wir Fachbegriffe dahingehend falsch verwenden, entkräften wir damit nicht nur die realen Schwierigkeiten von Betroffenen, sondern können das Problem durch Fehlinformationen sogar noch verschlimmern.“
„Wenn du schon mal einen Gedanken hattest, der dir eingeflüstert hat, du solltest dir mit jemandem einen Scherz erlauben, und du ihn befolgt hast, um Likes oder Views auf TikTok zu bekommen, ist das kein Zwangsgedanke“, fügt sie hinzu. „Dieser Gedanke ist nämlich gewollt, absichtlich und geplant – genau das Gegenteil von Zwangsgedanken und impulsivem Verhalten.“
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Zwangsgedanken allein sind noch nicht gefährlich. Wenn dieser Gedanke aber eine Grenze überschreitet und sich auf die Fähigkeit auswirkt, den Alltag bewältigen zu können, ist es wichtig, sich psychologische oder psychiatrische Hilfe zu suchen. „Wir sollten alle bedenken, dass man keine Lizenz oder Qualifikation braucht, um einen Social-Media-Account zu erstellen. Das bedeutet, dass sich jede:r eine Plattform erstellen kann, um Informationen rund um medizinische Diagnosen und Behandlungsmethoden zu verbreiten“, warnt Mallett. „Wir alle sollten viel kritischer mit dem umgehen, was wir online konsumieren. Wenn du einen neuen Begriff oder von einem neuen ‚Trend‘ rund um geistige Gesundheit hörst, hinterfrage das bitte.“
Ein TikTok-Video dazu zu posten, dass du dir spontan die Haare gefärbt oder impulsiv irgendwas Albernes in der Öffentlichkeit gemacht hast, und es mit „Meine Zwangsgedanken haben gewonnen“ zu betiteln, wirkt vielleicht erstmal harmlos. Wie eine Twitter-Nutzerin aber sehr passend schrieb: „Wenn meine Zwangsgedanken wirklich gewinnen würden, würde man mich für den Rest meines Lebens einweisen.“
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