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Hilfe, ich habe romantische Gefühle für meinen Therapeuten

Foto: Poppy Thorpe.
Als Beth* eine Therapie begann, war sie schockiert, als sie sexuelle Fantasien rund um ihren deutlich älteren Therapeuten entwickelte. „Ich kam zu meiner Sitzung und erzählte von meiner Woche, und dann war es plötzlich so, als hätte sich in mir ein Schalter umgelegt: Ein besonders sexueller Teil von mir übernahm plötzlich die Kontrolle. Als ich die Sitzung verließ, dachte ich mir: Oh mein Gott, was war da gerade los? Es war, als sei ich in diesem Zimmer zu einem ganz anderen Menschen geworden“, erzählt sie.
Ihre Erfahrung ist dabei aber nicht ungewöhnlich. Sigmund Freud, Begründer der Psychotherapie, identifizierte dieses Phänomen schon 1915 und nannte es „erotische Übertragung“. Seitdem haben sich viele Expert:innen mit dem Thema beschäftigt. Der Psychotherapeut David Mann hat darüber sogar mehrere Bücher geschrieben und erklärt, die erotische Übertragung könne viele verschiedene Formen annehmen – von intensiver Hingezogenheit bis hin zu subtileren oder sogar beängstigenden Gefühlen. „Manche Patient:innen fühlen sich hinsichtlich sexueller Erregung womöglich sehr gehemmt, vielleicht wegen eigener vergangener Erfahrungen. Es geht dabei also nicht immer um positive Lust“, erklärt er. „Manchmal lösen diese Gefühle beispielsweise auch Frust aus. Der oder die Betroffene weiß, dass ich [also der oder die Therapeut:in] unerreichbar bin, dass ich diese Grenze niemals überschreiten würde.“
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Der erotischen Übertragung liegt die Theorie zugrunde, dass sich Beziehungsmuster aus der persönlichen Vergangenheit in der Therapie oder anderen Lebensbereichen häufig wiederholen. Wenn du zum Beispiel mit kritischen, kühlen Eltern aufgewachsen bist, hast du vielleicht das Gefühl, deine Vorgesetzten würden dich und dein Verhalten genauso missbilligen. Oder wenn deine Eltern unzuverlässig waren, fühlst du dich womöglich zu romantischen Partner:innen hingezogen, die sich nie ganz auf dich einlassen. Im besonders intensiven, privaten Umfeld einer Therapie spielen sich diese Wiederholungen umso eher ab. 
Mann fasst das so zusammen: „Deine Vorgesetzten sind nicht dein Vater oder deine Mutter. Trotzdem benimmst du dich so, als seien sie es.“ Und das tust du oft, ohne es selbst zu bemerken.
Wenn du nun in der Therapie sexuelle oder romantische Gefühle erlebst, heißt das nicht, dass du inzestuöse Lust für deine Eltern empfindest. Es kann aber doch auf dein frühes Bedürfnis nach Bindung hinweisen. Laut der Psychotherapeutin Erin Stevens passiert das besonders oft den Leuten, deren emotionale Bedürfnisse in ihrer frühen Kindheit missachtet wurden.
Kate* hat vor 18 Monaten eine Therapie begonnen, um an ihrer schwierigen Beziehung zu den Männern in ihrem Leben zu arbeiten. Sie macht für ihre Erfahrung mit erotischer Übertragung die Beziehung zu ihrem Vater verantwortlich, den sie während ihrer Kindheit nur selten zu Gesicht bekam. Obwohl sie sich anfangs nicht zu ihrem Therapeuten hingezogen fühlte, wurde ihr im Laufe der Therapie noch bewusst, dass sie sich wünschte, er würde auf sie stehen – und anfing, sich so zu verhalten, dass er Interesse entwickeln könnte.
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„Manchmal bemerkte ich das, wenn ich über mein Sexleben sprach“, erzählt sie. „Ich fragte mich, ob er das heiß fand oder ob er sich mich dabei in einem sexuellen Kontext vorstellte.“
Als sie sich an einige Gespräche mit ihrem Vater während ihrer Jugend zurückerinnerte, fielen ihr Parallelen auf. Als Kind hatte Kate versucht, ihren Vater zu beeindrucken, indem sie sich Beziehungen zu (imaginären) Freunden ausdachte, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Er hatte damals immer wieder eine Freundin“, erinnert sie sich. „Ich sah, wie er diese Frauen anschaute und hatte auf irgendeiner Ebene das Gefühl, er würde sie mir vorziehen und sie würden ihm etwas geben, was er bei mir nicht bekam. Dadurch entwickelte ich die Überzeugung, die sexuellen Bedürfnisse eines Mannes erfüllen zu müssen, um sein Interesse zu behalten.“ Diese Erkenntnisse kamen Kate nicht über Nacht, sondern im Laufe vieler Therapiesitzungen mit ihrem Therapeuten, dem sie sich damit anvertraute.
Es ist überhaupt nicht unangebracht, mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin über erotische Gefühle zu sprechen, betont Stevens – sondern kann sogar sehr nützlich sein, um dich selbst besser zu verstehen. Das gilt auch für die erotischen Gefühle, die du während der Therapie empfindest. Wie Beth feststellen musste, kann das dennoch schwierig sein. „Für mich war das mit viel Scham verbunden“, erklärt sie. „Ich fühlte mich so schlecht, weil ich diese Gedanken [über meinen Therapeuten] hatte und redete mir ein, davon niemandem erzählen zu können. Selbst heute, wenn ich darüber spreche, geht es mir immer noch ein bisschen so.“ Das führte schließlich dazu, dass sie ihre Therapie abbrach, ohne das Thema anzusprechen.
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Auch manche Therapeut:innen fühlen sich mit dem Thema ein wenig unwohl. Als Mann seine therapeutische Ausbildung begann, sprachen ihn manche Patient:innen auf ihre erotische Übertragung an. Es fiel ihm schwer, darauf zu reagieren. „Ich wusste nicht, was ich sagen oder wie ich damit umgehen sollte“, gibt er zu. „Und ich glaube, in den ersten Jahren meiner Ausbildung hemmte mich das und behinderte die Entwicklung meiner Patient:innen.“
Fast 40 Jahre und zwei Bücher zur erotischen Übertragung später heißt er Gespräche darüber in seinen Therapiestunden willkommen, ist sich aber durchaus bewusst, dass nicht alle Therapeut:innen dahingehend dasselbe Selbstbewusstsein haben. Es sollte auch unbedingt erwähnt werden, dass manche Therapieformen dieses Phänomen als weniger wichtig klassifizieren. Wenn du zum Beispiel gerade eine kognitive Verhaltenstherapie machst, die sich mehr darum dreht, wie sich deine Gedanken und Überzeugungen auf deine Gefühle und dein Verhalten auswirken, wird das Thema eher unwahrscheinlich aufkommen. Oder wenn du in der Therapie bist, um beispielsweise über ein Problem am Arbeitsplatz zu sprechen, ist es vielleicht gar nicht nötig, darüber zu reden, meint Stevens.
Leider gibt es auch eine kleine Minderheit an Therapeut:innen, die negativ oder gar schädlich auf das Phänomen reagieren könnten. Obwohl es laut Stevens für Patient:innen sehr lehrreich sein kann, über die erotische Übertragung zu sprechen, kann das doch schaden, wenn der oder die Therapeut:in damit nicht gut umgeht. Du solltest auf jeden Fall vorsichtig sein, wenn dein:e Therapeut:in versucht, dich für deine Gefühle zu beschämen, oder dir mitteilt, deine Gefühle zu erwidern – und eure Beziehung daraufhin ändern zu wollen. Aufgrund des therapiebedingten ungleichen Machtverhältnisses würde das die Therapie kaputtmachen (und wäre zusätzlich höchst unmoralisches Verhalten seitens des Therapeuten bzw. der Therapeutin).
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Die Hauptaufgabe von Therapeut:innen sollte laut Stevens sein, ihren Patient:innen das Gefühl zu geben, voll und ganz sie selbst sein zu können. „Viele Leute kommen sehr gehemmt in die Therapie und möchten nur wenig über sich selbst verraten, weil ihnen vielleicht schon eingeredet wurde, ihre Gefühle seien ‚zu viel‘. Wenn sie sich entscheiden, über solche Themen [wie die erotische Übertragung] zu sprechen, sollte das von den Therapeut:innen mit Respekt belohnt werden“, sagt Stevens. Für Therapeut:innen ist es außerdem wichtig, diese Gefühle zu normalisieren – da die erotische Übertragung sogar ziemlich verbreitet ist. „Schließlich ist das eine sehr intensive Beziehung, in der sich dein:e Therapeut:in voll und ganz auf dich konzentriert. Wo sonst bekommen wir diesen intimen, fokussierten Kontakt unter vier Augen?“
Für Kate war es jedenfalls eine fantastische Erfahrung, mit ihrem Therapeuten über ihre erotische Übertragung zu sprechen. „Es fühlt sich an, als hätte ich dadurch einen Teil meiner Lebenserfahrung geöffnet, den ich mir vorher nie angesehen hatte“, erzählt sie. „Ich fühle mich jetzt in der Beziehung zu meinem Therapeuten viel freier und so, als könnte ich noch mehr ich selbst sein. Etwas Großes, das ich immer im Dunkeln gehalten habe,  kam jetzt endlich ans Licht – und es fühlt sich an, als sei das längst überfällig gewesen. Zwar ist der Prozess noch nicht abgeschlossen und ich werde sicher noch viel daraus lernen, aber ich bin wirklich froh, das Gefühl zu haben, mich damit jetzt auseinandersetzen zu können.“
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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