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„Skin Picking Disorder“ – so bekam ich meine Zwangsstörung in den Griff

Foto: freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Hannah Turner.
Meine Hände wandern von meinem Buch zu meinen Armen, während ich ängstlich in der Arztpraxis warte. Ich suche meine Haut nach winzigen Unreinheiten oder Unebenheiten ab; ich drücke und quetsche, bis Blut oder Eiter abgesondert wird; etwas, das andere aber oft nicht bemerken.
Ich erinnere mich daran, dass ich während einer langen Autofahrt mit einer Tante, als ich acht Jahre alt war, zum ersten Mal an meiner Haut zupfte. Unser Auto hatte eine Panne und die Sonne ging schnell unter. Ich hatte furchtbare Angst, dass wir nicht mehr wegkommen würden. Ich begann, die Sommersprossen auf meinen Armen mit meinen Fingern zu zählen. Als sie an rauen Stellen hängen blieben, riss ich diese weg. Seitdem habe ich damit einfach nicht mehr aufgehört. Selbst während ich diesen Artikel schreibe, zupfe ich immer noch an meiner Haut. Lästige Gedanken – dass ich schlecht in meinem Job bin, wie viel besser dieser Text sein könnte, wie schlecht ich mich als Erwachsene anstelle – führen dazu. Die Angewohnheit ist selbstzerstörerisch, wirkt aber beruhigend. Obwohl sie hässliche Narben hinterlässt und mein Selbstvertrauen zerrüttet, ermöglicht sie es mir, mit emotionalem Stress umzugehen – etwas, das ich mir nach einem harten Tag verdient habe.
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Meine Zupfstörung wird auch als „Skin Picking Disorder“ oder Dermatillomanie bezeichnet. Sie ist außerdem ein Symptom meiner Ängste. Obwohl diese Angewohnheit die geringste meiner Sorgen ist – immerhin erhalte ich Diagnosen, als wären sie akademische Auszeichnungen –, handelt es sich dabei dennoch um einen Zwang, den ich nicht im Griff hatte.
Dermatologin Dr. Angela Tewari berichtet gegenüber Refinery29, dass Dermatillomanie bei jungen Erwachsenen jetzt häufiger auftritt. „Insbesondere seit den COVID-bedingten sozialen Veränderungen und Einschränkungen habe immer mehr Patient:innen mit stressbedingten gesundheitlichen Problemen wie Dermatillomanie.“ Dr. Tewari rät Betroffenen dazu, nicht nur Dermatolog:innen und Therapeut:innen aufzusuchen, sondern auch eine Aktivität zu finden, die sie mit ihren Händen ausüben können, wann immer sie den Drang verspüren, an ihrer Haut zu zupfen. Genau diesen Tipp habe ich befolgt.
Ich lerne gerade, zu stricken. Ich wollte nämlich ein Hobby, das ich nicht zu Geld machen würde, ziemlich schwierig ist und viel Übung erfordert. Ich entschied mich aus einer Laune heraus fürs Stricken, weil mir die Idee gefiel, meine Kleidung selbst machen zu können, und ich mit Nähmaschinen nicht besonders gut umgehen kann. Bevor ich zu stricken begann, hatte ich meine Haut mit Cremes und Lotionen behandelt und hochgeschlossene Oberteile oder mehrere Schichten auf einmal getragen. Außerdem hatte ich Gummibänder um meine Handgelenke gebunden und meinen Partner gebeten, mich jedes Mal anzustupsen, wenn er sah, dass ich dabei war, an meiner Haut zu zupfen. Nichts davon funktionierte... bis ich Stricken für mich entdeckte.
Stricken beschäftigt beide Hände gleichzeitig. Durch den langsamen Rhythmus und die Konzentration, die es erfordert, können manchmal Stunden vergehen, ohne dass ich aufschaue. Wenn ich scrolle, anstatt zu stricken (ein Zeitvertreib für sich), schaue ich mir Videos von Personen an, die stricken, ihre Garnsammlung präsentieren oder eine neue Technik in Zeitlupe lernen. Von #knittok bis #knitstagram gibt es Tausende von Menschen, die online stricken und von denen viele ähnliche Erfahrungen teilen. Wir nutzen das Stricken, um mit Stress, Ängsten, Zwangsstörungen und den unzähligen anderen Arten, wie sich unser Gehirn gegen uns wendet, fertig zu werden.
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Mia (@anxiousgirlknits) ist 29 Jahre alt und strickt, um ihre chronische Übelkeit zu lindern, die durch Angstzustände ausgelöst wird. Dazu sagt sie Folgendes: „Ich war immer sehr gestresst, wenn es Zeit zum Essen war. Wenn ich dann essen wollte, war mir immer so schlecht, dass ich nichts herunterbringen konnte. Also fing ich an, vorm Essen zu stricken, damit ich mich auf etwas anderes konzentrieren konnte, und dann wurde ich irgendwann süchtig danach.“ Was Mia am meisten daran beruhigt, ist die sich wiederholende Bewegung. Früher trieb sie Sport, um mit ihrer schlechten psychischen Verfassung fertig zu werden, aber als ihre Übelkeit das unmöglich machte, fing sie mit dem Stricken an.
Niamh, 23, strickt, um ihre Hände zu beschäftigen, wann immer sie Ängste plagen. „Bei Angstzuständen kann mein Körper nie stillsitzen, ohne zu zucken oder etwas tun zu müssen. Stricken ist zu einem Ventil für mein überaktives Gehirn geworden. So kann ich mich auf etwas konzentrieren, das nichts mit dem Stress meiner Arbeit zu tun hat.“
Billie ist Anfang 30 und Autistin. Außerdem leidet sie an einer Zwangsstörung. Sie begann, zu stricken, weil es ihr wie ein cooles, kreatives Hobby erschien. Erst jetzt, nach Jahren, kann sie erkennen, wie sehr es ihr dabei geholfen hat, damit zurechtzukommen. „Mir wurde klar, dass meine Dermatillomanie ein Teil meiner Neurodivergenz ist und dass sich nicht alle Menschen zwanghaft an ihrer Haut zupfen.“ Durch das Stricken konnte ich mich beruhigen. Es hat Billie erlaubt, zu lernen, ihre zwanghaften Verhaltensweisen – vom Zupfen mit den Fingernägeln über Haareausreißen bis zum Kratzen der Kopfhaut – auf etwas umzulenken, das ihr keinen körperlichen Schaden zufügt. Obwohl Stricken für viele Menschen entspannend ist, kann es für Perfektionist:innen eine Herausforderung sein. Billie erklärt: „Durch meine Zwangsstörung und Angstzustände bin ich gezwungen, perfektionistische Gedanken zu hinterfragen und mit Unsicherheiten umgehen zu lernen.“
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Im April stricke ich dann schon seit vier Monaten. Gestern Abend sah ich nach dem Duschen mein Spiegelbild im Badezimmerspiegel und bemerkte meine Brust und meinen Hals, die normalerweise voller Wunden sind. Für gewöhnlich schnappe ich mir den Vergrößerungsspiegel, um zu sehen, woran ich noch etwas herumzupfen könnte. Letzte Nacht war mein Hautbild aber so gut wie klar und ich konnte meinem Zupfdrang widerstehen. Das war ein großer Schritt für mich.
Lauren McKeaney gründete die Picking Me Foundation, um das Bewusstsein für Dermatillomanie zu schärfen, nachdem sie selbst schwerwiegende Erfahrungen damit gemacht hatte. Die Stiftung unterhält Online-Selbsthilfegruppen mit über 800 Menschen, die mit Skin Picking zu kämpfen haben. Im Gespräch mit Refinery29 sagte Lauren: „Es ist sehr wirkungsvoll, mitzubekommen, dass auch andere von dieser Zwangsstörung betroffen sind. Ich bin stolz und fühle mich geehrt, diese Erfahrung fördern zu können.“ Neue Mitglieder sind willkommen und werden dazu ermutigt, an Aktivitäten teilzunehmen und ihre Bewältigungsmechanismen mit anderen Mitgliedern der Gruppe zu teilen.
Für mich ist Stricken nicht die perfekte Lösung. Sobald eine Sache gelöst ist, taucht eine andere auf. Meine Hände verkrampfen sich, manchmal zittere ich. Ich habe eine genetische Störung, die verhindert, dass die sehnigen Teile zwischen meinen Knochen und Muskeln richtig funktionieren. Das macht das Halten von Dingen schmerzhaft und wiederholte Bewegungen unangenehm. Wenn ich nachts zu lange stricke, habe ich am nächsten Tag Schmerzen. Aber im Moment ist das ein Preis, den ich bereit bin zu zahlen, um mit dem Skin Picking aufzuhören.

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