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Ist meine Krankheitsangst absurd oder gaslighten mich meine Ärzt:innen?

Ich trinke jeden Tag mindestens vier Liter Wasser. Und obwohl ich dafür oft beeindruckte Ooohs und Aaahs zu hören bekomme, ist meine eigene Reaktion darauf eher das Gegenteil. Ich frage mich: Wieso bin ich eigentlich dauernd so durstig? Ist das normal? Ich glaube, ich habe Diabetes. Oh Gott, ich habe Diabetes, oder?!
Die meisten von uns haben sich schon mal hilfesuchend an Dr. Google gewandt und unsere vermeintlichen Symptome als absolute gesundheitliche Katastrophe dramatisiert, bevor wir schließlich wieder zur Besinnung kommen. Vielleicht wurde dir danach schon mal klar, dass deine Kopfschmerzen auch einfach damit zu tun haben könnten, dass du letzte Nacht bis 3 Uhr feiern warst. Für manche von uns ist es aber viel schwerer, diesen Besinnungs-Schalter umzulegen. Wir reden uns ein, die Kopfschmerzen könnten ein Anzeichen von etwas Schlimmem sein. Von einem Hirntumor, zum Beispiel – oder einem bevorstehenden Aneurysma. 
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Obwohl es völlig normal ist, dir gelegentlich Sorgen um deine Gesundheit zu machen, können Betroffene von Krankheitsängsten (in ihrer stärksten Ausprägung auch Hypochondrie genannt) kaum an etwas anderes denken. Wir sind uns dann fast schon sicher, dass jeder Schmerz, jede komische Beule ein eindeutiges Symptom einer ernsthaften Erkrankung sein müsse – oder dass wir kurz davor stehen, zu erkranken. Hypochonder:innen sind regelmäßige Gäste bei ihren Ärzt:innen (oder machen einen weiten Bogen um jede Praxis), googeln andauernd ihre Symptome, befürchten ständig, ihre Liebsten könnten krank sein, und überprüfen ihren eigenen Körper immer und immer wieder. (Das kenne ich alles.) Es ist schwer in Worte zu fassen, wie lähmend dieser Zustand sein kann.
Die 30-jährige Anna hat sich selbst immer als „Kämpferin“ bezeichnet. Erst vor Kurzem wurde ihr aber so richtig klar, wie sehr ihre Ängste um ihre Gesundheit ihr Leben bestimmen. Sie traut sich nicht, neue Lebensmittel oder Medikamente auszuprobieren, weil sie sich vor einem anaphylaktischen Schock fürchtet – obwohl sie nie solche Allergien hatte. Jedes Mal, wenn sie Nudeln isst, hat sie Angst davor, sich zu verschlucken und zu ersticken. Ihre Angstzustände sorgen außerdem dafür, dass sie regelmäßig Herzrasen hat – was sich für sie jedes Mal so anfühlt, als würde sie sterben (vor allem, weil ihre Mutter an einem schwachen Herz leidet).
„Ich habe Angst zu sterben. Mir ist sehr bewusst, dass mein Körper anfällig ist und jederzeit aufhören kann zu funktionieren“, erzählt Anna gegenüber Refinery29. „Wenn ich irgendein Symptom bemerke, schaltet mein Gehirn sofort in den ‚Was, wenn…‘-Modus.“
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Es ist angsteinflößend, eine Hypochondrie diagnostiziert zu bekommen. Das Wort ist so negativ belastet.

anna, 30
Anna hat eine schwierige Beziehung mit ihrer Krankheitsangst und dem Begriff „Hypochonder:in“. Obwohl sie bereits für eine generalisierte Angststörung in Behandlung war, wurde gegen ihre gesundheitlichen Ängste bisher nichts unternommen. „Es ist angsteinflößend, eine Hypochondrie diagnostiziert zu bekommen, weil du dann eben akzeptieren solltest, dass du Hypochonder:in bist“, sagt Anna. „Das Wort ist so negativ belastet. Dadurch nehmen dich die Leute weniger ernst – selbst wenn deine Symptome echt sind.“
Betroffene einer Hypochondrie kennen die Stigmatisierung dieses Begriffs nur zu gut. In abschätzigen Kommentaren werden Hypochonder:innen oft als „dramatisch“ abgetan, als „Nervensägen“ oder „schamlose Lügner:innen“. Hypochonder:innen werden als „Witzfiguren, als komisch, als Simulant:innen“ empfunden, „verspottet und dafür verurteilt, unangebrachte Aufmerksamkeit und Ressourcen einzufordern“, meint Catherine Belling, Professorin für medizinische Bildung an der Northwestern University. Kurz gesagt: In der Welt der Medizin gelten wir als Gespött.
Wer aber selbst unter Krankheitsängsten oder einer Hypochondrie leidet, findet diesen Zustand überhaupt nicht witzig – und insbesondere betroffene Frauen und Personen of color bekommen häufig „medizinisches Gaslighting“ zu spüren, in Form von Sprüchen wie: Sie sind einfach nur ein bisschen dramatisch. Beruhigen Sie sich. Wissen Sie, dass Stress alles verschlimmern kann?
Madeleine, 32, erlebte genau so eine Reaktion. Nachdem sie sich schon seit Monaten mit einem hartnäckigen Husten herumgeschlagen hatte, wusste sie, dass da was nicht stimmte. Doch selbst nach Besuchen bei sieben verschiedenen Ärzt:innen hatte sie keine Antwort. Erst bei der achten Ärztin wurden einige Tests durchgeführt – und die Ergebnisse bestätigten Madeleines Instinkt: Sie hatte ein Hodgkins-Lymphom im zweiten Stadium. Das ist eine Krebserkrankung des lymphatischen Systems. 
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„Es gab mir ein Gefühl der Bestätigung, zu wissen, dass die warnenden Instinkte, die ich empfunden hatte, richtig gelegen hatten. Dass an der Realität, die ich lebte, wirklich etwas stimmte“, erzählt Madeleine.

Es kam mehrmals vor, dass sowohl ich als auch meine Mutter abgewinkt, unsere Reaktionen als „übertrieben“ abgestempelt wurden oder wir zu hören bekamen, wir sollten uns nicht so den Kopf zerbrechen.

Madeleine, 32
Seit ihrer Diagnose sind fast zehn Jahre vergangen, und noch immer ist Madeleine wütend darüber, wie sie von den Ärzt:innen behandelt wurde. „Ich kann mir verschiedene Realitäten vorstellen, in denen alles so viel leichter gewesen wäre – wenn mir doch nur schon beim ersten (oder zweiten oder dritten) Termin zugehört worden wäre.“
„Es kam mehrmals vor, dass sowohl ich als auch meine Mutter (die sich zurecht Sorgen machte) abgewinkt, unsere Reaktionen als ‚übertrieben‘ abgestempelt wurden oder wir zu hören bekamen, wir sollten uns nicht so den Kopf zerbrechen“, erzählt Madeleine weiter. „Nur wenige Wochen nach meiner Diagnose begann ich mit der Chemotherapie und bin immer noch extrem wütend darüber, wie alles davor ablief.“
Die Statistiken rund um die medizinische Behandlung (oder eben deren Ausbleiben) sind alarmierend – bestätigen aber die Erfahrungen jeder Frau, die schon mal in einer Praxis von ihren Bedenken erzählt hat und sich dort anhören musste, sie würde sich das alles nur einbilden. Eine Studie ergab, dass Frauen, die mit schweren Bauchschmerzen in die Notaufnahme fuhren, dort fast 33 Prozent länger warten mussten als Männer mit denselben Symptomen. Eine weitere Studie zeigte, dass Frauen doppelt so häufig wie Männer zum Arzt oder zur Ärztin gehen mussten, bevor sie wegen eines Verdachts auf Blasen- oder Nierenkrebs eine Überweisung an eine Spezialpraxis bekamen. Und eine andere Studie erwies, dass weibliche Patientinnen ihre Krebsdiagnose deutlich nach männlichen Patienten bekamen – etwas, wofür Madeleine der lebende Beweis ist. 
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Obwohl sie nun zum Glück in Remission ist, beeinträchtigt die Kombination aus ihrer Diagnose, der verzögerten Behandlung und dem medizinischen Gaslighting Madeleine bis heute. Bei Routine-Untersuchungen wird sie immer noch zittrig und dissoziativ, und ihr Puls schießt vor Aufregung in die Höhe.
Solche gesundheitlichen Ängste nach einer schweren Erkrankung sind nicht ungewöhnlich. Tatsächlich ist eine Krankheit einer der Hauptgründe dafür, warum jemand überhaupt Hypochondrie bzw. Krankheitsängste entwickelt, erklärt die Psychologin Ash King. „Vielleicht hatten wir eine:n Freund:in oder Verwandte:n, der oder die unter einer schweren Krankheit gelitten hat oder sogar gestorben ist. Vielleicht waren wir auch selbst schwer krank“, erzählt sie gegenüber Refinery29. „Oder wir hatten eine negative Erfahrung mit einem oder einer Mediziner:in, die dazu geführt hat, dass wir nicht mehr darauf vertrauen, dass diese Personen Aspekte unserer Gesundheit wirklich verstehen und behandeln können.“
Wenn wir uns die Schnittmenge zwischen gesundheitlichen Ängsten und medizinischem Gaslighting ansehen, wird klar, dass es dabei in Sachen Gender große Unterschiede gibt. Studien bestätigen, dass Hypochondrie in Frauen deutlich häufiger vorkommt als in Männern. Aber liegt das bloß daran, wie Frauen im medizinischen System behandelt werden?
Weil Madeleine schon lange vor ihrer Diagnose krank war (und von Ärzt:innen ignoriert wurde), empfand sie eine verwirrende Mischung aus einer Hyperwahrnehmung (ihre instinktive, panische Reaktion auf ihre Symptome) und dem Bedürfnis, nicht überreagieren zu wollen (ihre versuchte rationale Reaktion). Selbst heute empfindet sie diese widersprüchlichen Emotionen, während sie unter chronischen Schmerzen leidet. Diese gemischten Gefühle sind der Grund für viele ihrer heutigen Gesundheitsängste, sagt sie.
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 Ich habe enorm Schiss davor, dass meine Lebensqualität immer weiter nachlassen könnte, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann.

Madeleine
„Es ist schwierig, mich von der Wut und Frustration zu lösen, die mir mein Körper immer wieder beschert“, erzählt sie. „Die chronischen Schmerzen sorgen bei mir für viele Ängste. Ich habe erst vor Kurzem die Diagnose ADHS bekommen und jetzt enorm Schiss davor, dass meine Lebensqualität immer weiter nachlassen könnte, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann.“
Die Spannung zwischen „real“ und „eingebildet“ ist vielleicht einer der verwirrendsten Aspekte der Krankheitsangst. Wie sollst du wissen, was echter, wirklicher Schmerz ist – und was eine Reaktion auf ein Trauma oder eine Angst? Wann ist ein Husten eben nicht mehr „nur“ ein Husten?
„Das ist die größte Herausforderung für die meisten Betroffenen einer Angststörung: die Suche nach Sicherheit und Kontrolle“, erklärt King. „Leider lässt sich beides in Sachen Gesundheit nicht garantieren.“ Kommen dazu noch chronische Schmerzen oder Erfahrungen mit Krankheiten oder Gesundheitsängsten, ergibt das eine sehr verwirrende Realität, weil Kopf und Körper andauernd gegeneinander kämpfen und sich gleichzeitig gegenseitig misstrauen.
Obwohl es Möglichkeiten gibt, die eigenen Gesundheitsängste unter Kontrolle zu bringen (zum Beispiel, indem du deine eigenen Gedanken- und Verhaltensmuster anerkennst und dir dadurch bewusst wirst, wann du lediglich aus Angst handelst und reagierst, meint King), müssen wir dringend etwas dafür unternehmen, dass sich Frauen wohl genug fühlen, für sich selbst zu sprechen und einzutreten – obwohl unsere Krankheiten statistisch erwiesen weniger ernst genommen werden.
Obwohl ich absolut eingestehe, dass gesundheitliche Ängste und Hypochondrie reale, lähmende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben können, frage ich mich, ob der Begriff der „Krankheitsangst“ vielleicht zu simpel ist, um genau zu beschreiben, was Frauen und Menschen of color in medizinischen Praxen in aller Welt jeden Tag erleben. Als Frauen ist es ohnehin schon schwer genug, für uns selbst und unsere Gesundheit einzustehen – vor allem, wenn wir dabei das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Frauen direkt „Krankheitsängste“ oder gar eine „Hypochondrie“ attestieren würde, die sich einfach nur eine ordentliche medizinische Behandlung, Untersuchungen, Tests und Antworten erhoffen und darum bitten, hinsichtlich ihrer eigenen Gesundheit ernst genommen zu werden.
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Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir die Systeme hinterfragen, die die Gesundheit von Frauen ins abstrakte Reich der Hypothesen verbannen, anstatt sie anzuerkennen und ernst zu nehmen. Vielleicht sollten wir unsere „dramatischen“ Freund:innen nicht mehr als „Hypochonder:innen“ abstempeln, weil wir wissen, dass die gesundheitliche Angst vor allem für Frauen ein echter Kampf ist – den wir verlieren. Vielleicht sollten wir endlich damit anfangen, Untersuchungen, Medikamente oder Aufmerksamkeit einzufordern, wenn wir spüren, dass wir krank sind, ohne dafür direkt als Hypochonder:innen verurteilt zu werden. Vielleicht sollten wir einfach mal überreagieren.
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Wenn du selbst unter Ängsten leidest, wende dich bitte an eine:n Therapeut:in oder beispielsweise die Deutsche Angst-Hilfe e.V. unter 089 - 21 52 97 72.
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