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Kann man sich selbst zu sehr lieben?

Foto: Beth Sacca.
„Danke dir selbst dafür, dass du es heute hierher geschafft hast und dich selbst liebst“, ruft die Yoga-Lehrerin quer durch den halbdunklen, verschwitzten Raum, in dem ich gerade beim Hot Yoga versuche, mein Gehirn abzuschalten. 
Die Nachricht, dich „selbst zu lieben“, ist gefühlt überall: in Lizzos Songs („I’m my own soulmate“), in inspirierenden Instagram-Posts („Die wichtigste Beziehung, die du jemals führen wirst, ist die zu dir selbst!“) und in den Messages, die dir auf TikTok von Leuten mit zero psychologischem Fachwissen um die Ohren gehauen werden.
Je länger ich lebe, desto hohler hören sich diese Sprüche für mich an. Damit meine ich nicht nur mein eigenes Leben, sondern auch die Lebenserfahrungen, die ich indirekt über mein nächstes Umfeld sammle – zum Beispiel, wenn ich Freund:innen tröste, deren Eltern schwer erkranken, mir anhöre, wie ihre Langzeitbeziehungen in die Brüche gehen, oder wenn ich frischgebackene Mütter umarme, die sich überwältigt fühlen.
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Das Konzept der „Selbstliebe“ hört sich für mich wie ein weiteres Mindset an, an dem vor allem Frauen „arbeiten sollten“, um glücklich sein, gesunde Beziehungen führen und professionelle Ziele erreichen zu können.

Ich sehe den Trend zur „Selbstliebe“ sehr ähnlich wie die Sache mit der Body Positivity: Jemandem, der oder die mit dem eigenen Leben unzufrieden ist, zu sagen, „Versuch dich selbst einfach ein bisschen mehr zu lieben!“, kommt mir nicht nur wahnsinnig banal vor, sondern drückt dieser Person meiner Meinung nach sogar eine weitere Last auf.
Das Konzept der „Selbstliebe“ – laut dem du dich zum Beispiel „empowered“ fühlen oder irgendwas „manifestieren“ solltest – hört sich für mich wie ein weiteres Mindset an, an dem vor allem Frauen „arbeiten sollten“, um glücklich sein, gesunde Beziehungen führen und professionelle Ziele erreichen zu können.
Selbstliebe“ ist inzwischen überall. Die Selbstliebe-Bewegung ist so groß, dass sie mittlerweile quasi eine eigene Religion sein könnte. Auf Instagram gibt es 98,5 Millionen Posts zu #selflove, und auf TikTok haben Videos mit demselben Hashtag ganze 56,1 Milliarden Views gesammelt. Popstars singen darüber. Hailee Steinfeld liebt sich selbst, Nicki Minaj „fühlt“ sich selbst und Selena Gomez musste ihre Liebe für jemanden aufgeben, um sich selbst zu finden. Und auch in meinem Alltag fällt mir immer häufiger auf, dass Leute Dinge sagen wie: „Ich konzentriere mich gerade einfach nur auf mich selbst“, „XY bringt keine gute Energie in mein Leben“, oder: „Ich liebe mich selbst und verdiene X, Y und Z“.
Klar: In der Welt der Selbsthilfe und Selbstoptimierung ist der „Glaube an dich selbst“ definitiv kein neues Konzept. Schon 2006 schrieb Rhonda Byrne mit The Secret – Das Geheimnis ein ganzes Buch über die Vorstellung, du müsstest dich bloß selbst lieben, damit dich andere Leute lieben und dir gute Dinge – wie die teure Handtasche, die du dir wünschst – quasi zufliegen, allein dank „guter Vibes“.
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Die Logik dahinter ist offensichtlich. Wenn du voller Selbsthass zu einem Treffen mit Freund:innen, einem Bewerbungsgespräch oder einem Date auftauchst, werden andere eher einen Bogen um dich machen wollen. So weit, so verständlich. Aber auch darin liegt ein Problem.
Die Psychologin Dr. Linda Blair arbeitet seit mehr als 40 Jahren als Therapeutin. Sie befürchtet, dass unsere gegenwärtige Kultur (mit ihrer Tendenz zum Individualismus und Abkehr vom Kollektivismus) Selbstliebe mit Selbstrespekt und Selbstakzeptanz verwechselt.
„Ich merke, dass diese Vorstellungen gerade oft miteinander verwechselt werden“, erzählt Dr. Blair. „So viele Social-Media-Posts stellen die Vermutung auf, du müsstest dir bloß selbst am wichtigsten sein, um glücklich und erfolgreich zu sein. So funktioniert das aber nicht.“ 
Laut Blairs Meinung sollten wir uns nämlich eher auf Selbstakzeptanz anstatt auf Selbstliebe konzentrieren.
„Denk mal an den griechischen Mythos von Narcissus“, sagt sie. „Er war so verliebt in sein eigenes Spiegelbild im Wasser, dass er dem Wasser zu nah kam – und schließlich ertrank.“

Ich finde es definitiv toll, deine eigenen Vorzüge zu kennen und zu feiern. Das sollte aber dadurch ausgeglichen werden, dass du dir deiner Makel bewusst bist und dich darum bemühst, an ihnen zu arbeiten.

Dr. Linda Blair
Die Philosophie der Selbstliebe besagt, dass alles, was sich für dich gut und richtig anfühlt, unbedingt immer wiederholt werden sollte. Alles, was sich hingegen schlecht anfühlt, was dir Energie raubt, ein bisschen schwierig ist oder Empathie für die Bedürfnisse anderer Menschen erfordert, sollte demnach ausgeblendet und ignoriert werden.
Es ist nicht schwer, den Reiz hinter diesem Denken zu verstehen. Der:die eigene „Seelenverwandte“ zu sein (wenn du an sowas glaubst), ist definitiv sicherer, als anderen – unperfekten – Leuten deine Gefühle anzuvertrauen. Eine der schwierigsten Lektionen, die wir im Laufe des Lebens lernen müssen, ist die, dass uns jede:r – egal, wie wunderbar und liebevoll diese Person sonst sein mag – irgendwann mal enttäuschen wird. Wenn du dich hingegen nur auf dich selbst verlässt, kann sich das sicherer anfühlen.
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Aber kann dir Selbstliebe wirklich schwierige Gefühle ersparen? Kann sie dich wirklich glücklich machen?
„Ich finde es definitiv toll, deine eigenen Vorzüge zu kennen und zu feiern. Das sollte aber dadurch ausgeglichen werden, dass du dir deiner Makel bewusst bist und dich darum bemühst, an ihnen zu arbeiten“, meint Dr. Blair. „Sobald du nämlich akzeptierst, wer du bist – mit all deinen Fehlern –, kannst du diese Form der Akzeptanz auf andere Leute übertragen. Und genau das ist die eigentliche Liebe. Meiner Meinung nach liegt Glück nämlich nicht darin, dich selbst zu lieben, sondern darin, anderen Menschen Liebe zu schenken und sie mit ihnen zu teilen.“
Im Kontext unserer heutigen Welt ist das eine mächtige Vorstellung. Wir brauchen andere Menschen aktuell mehr, nicht weniger. Und doch ist die Form von Selbstliebe, wie sie in den sozialen Medien und der Popmusik zelebriert wird, hyperindividualistisch.
Ob du dich selbst lieben kannst, hängt aber natürlich davon ab, wer du bist und von wo du kommst. Mein Yoga-Kurs kostet rund 20 Euro. Ich kann mir das leisten – sowohl in finanzieller als auch in zeitlicher Hinsicht, weil ich mich abgesehen von mir um niemanden sonst kümmern muss. Trotzdem bin ich nicht überzeugt, dass es wirklich „Liebe“ ist, auf einer verschwitzten Yogamatte rumzuliegen; weder Liebe für mich selbst noch für andere. Vielleicht hilft mir der Kurs, mal eine Verschnaufpause einzulegen und über mein Leben nachzudenken – was es mir wiederum erlaubt, meinen Liebsten die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienen. Kurz gesagt: Mit Liebe hat diese Stunde definitiv nur dann zu tun, wenn ich sie in meinem sozialen Kontext betrachte, aber nicht, wenn ich sie nur für mich selbst mache. Denn dann ist sie eher selbstsüchtig.
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Klar ist es wichtig, die Person, die du bist, zu mögen und zu akzeptieren, stolz auf deine eigenen Erfolge und dir deiner Grenzen bewusst zu sein. Gleichzeitig solltest du dir aber auch deine Fehltritte vor Augen halten. Um dich selbst zu mögen, dein Leben mit Integrität zu führen und zu deinen Handlungen zu stehen, brauchst du nämlich Selbstwert und vor allem Respekt. Nicht nur für dich selbst, sondern auch für die Menschen, die dir nah stehen. Das ist etwas völlig anderes, als im Zeichen der „Selbstliebe“ alles andere, alle anderen, zu opfern.
Liebe, Lieben, ist eine aktive Erfahrung – eine Fähigkeit, die wir trainieren und entwickeln müssen. Liebe erfordert Mühe. Liebe ist wie ein Cardio-Workout: Je mehr du dich darauf einlässt, desto besser wird dein Muskelgedächtnis, und desto leichter fällt dir das Ganze. Du möchtest dich doch sicher mit einer Welt voller Leben und Energie umgeben, anstatt dich im Spa (oder, noch schlimmer, zu Hause) zu isolieren und die Außenwelt komplett auszublenden, weil du irgendeine fehlgeleitete Form der „radikalen Selbstliebe“ praktizierst.
Es kann schwer sein, sich der Message zu entziehen, unabhängige Frauen müssten sich „selbst lieben“, bevor sie Liebe von außen empfangen können. Diese Selbstliebe wird inzwischen sogar von diversen Firmen ausgenutzt, um uns beispielsweise Kosmetika zu verkaufen. Und obwohl es sicher besser ist, dass uns diese Brands mithilfe ihrer Marketing-Strategien mehr Selbstbewusstsein einreden wollen, anstatt unsere Unsicherheiten auszunutzen, entsteht daraus eine ganz neue Art der Unsicherheit. Selbstliebe ist mittlerweile eine weitere Aufgabe auf einer endlosen To-do-Liste für Frauen – wieder etwas, was wir „perfektionieren“ sollen, und woran wir schlussendlich doch oft scheitern, weil eben das unmöglich ist.
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Natürlich kannst du dir einreden, es sei Selbstliebe, dich vor schwierigen Gesprächen zu drücken. Du kannst dir vormachen, es sei Selbstliebe, wenn du dich egoistisch verhältst – und wenn du lieber viel Geld in Beauty-Behandlungen investierst, anstatt Zeit mit deinen Liebsten zu verbringen.
Aber was, wenn du an deiner Karriere zweifelst und Rat brauchst? Wenn du dir immer Sorgen um deine Finanzen machen musst, weil es günstiger wäre, mit anderen zusammenzuleben? Was, wenn du dich trotz aller „Selbstliebe“ oft einsam fühlst, weil wir soziale Wesen sind?
Liebe war nie eine Einbahnstraße, auf der du dein ganzes Leben lang allein fahren kannst. Sie ist eine Serpentinenstraße, die zwangsläufig die Pfade anderer Menschen kreuzt – von Freund:innen, Verwandten, Kolleg:innen, Partner:innen. Wir verwechseln Selbstliebe mit Selbstakzeptanz, und Erstere kann ohne Letztere nicht existieren, weil Liebe aus Gemeinschaft entsteht. Um wirklich lieben zu können, musst du dich der Welt öffnen, von deiner Yogamatte aufstehen und dir überlegen, wie du lernen kannst, dich selbst genug zu akzeptieren, um andere unterstützen zu können.
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