Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Tod, Krankheit und Essstörungen.
Als die 26-jährige ein paar Tage vor seinem Tod am Bettende ihres Opas saß, wusste sie tief in ihrem Inneren, dass er eigentlich schon fort war. „Er würde nicht nochmal zurückkommen“, erzählt sie. „Wer auch immer sich da in diesem Bett noch quälte, war nicht mehr der Mann, den ich seit meiner Geburt geliebt hatte.“
Nachdem ihre Großmutter schon im Jahr zuvor gestorben war, wusste Ellie, dass auch ihr Opa nicht mehr lange hatte. Als sie ihn zum ersten Mal besuchte, nachdem er zum letzten Mal erkrankt war, wurde ihr bewusst, dass das der Anfang vom Ende war. „Er war schon vorher krank gewesen, hatte aber immer meine Oma zur Seite gehabt, die ihm durch die Krankheit geholfen hatte“, sagt sie. „Diesmal mussten wir aber mitansehen, dass er vergeblich kämpfte – in einem Kampf, den er auch gar nicht gewinnen wollte.“
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Obwohl er noch lebte, trauerte Ellie schon um ihren Großvater.
Vorausschauende Trauer (auch „antizipatorische Trauer“ genannt) beschreibt Gefühle der Trauer, die schon vor einem bevorstehenden Verlust einsetzen. Die können sich auf verschiedene Situationen beziehen – wie zum Beispiel auf eine scheiternde Beziehung, oder eben auch auf den unumgänglichen Tod einer geliebten Person aufgrund hohen Alters oder fataler Krankheit. Untersuchungen zufolge ähnelt diese Trauer der „konventionellen“, obwohl eine Studie herausfand, dass sie eher mit intensiverer Wut und fehlender emotionaler Kontrolle einhergeht.
„Antizipatorische Trauer beginnt, sobald das Leben einer geliebten Person bedroht ist“, erklärt die Trauerberaterin und Gründerin von Grief Specialists, Maria Bailey. „Wenn du weißt, dass ein geliebter Mensch sterben wird, ist das, als würde sich dieser Tod langsam anschleichen. Du verlierst immer weitere kleine Stücke dieser Person, anstatt sie im Ganzen auf einmal zu verlieren.“
In der Hinsicht ist das quasi wie Trauer-Microdosing; nach außen hin wirkt alles normal, vor allem, wenn die Person ansonsten noch halbwegs gesund ist. Dann erwischt es dich aber eiskalt, als würde man dir mit einer Axt eins überziehen: Dir wird ganz plötzlich bewusst, welcher Verlust dir droht. Mit einem Mal werden alle glücklichen Momente – Geburtstagsfeiern, Weihnachtsessen, gemeinsam verbrachte Zeit – von dem Unumgänglichen überschattet.
Was das Ganze umso schwieriger macht: Es fühlt sich unmöglich an, diese vorausschauende Trauer in Worte zu fassen. Ellie fiel es wahnsinnig schwer, jemandem ihre Gefühle anzuvertrauen. „Meine Familie saß natürlich im selben Boot. Sie waren aber entweder zu sehr damit beschäftigt, rund um die Uhr am Bett meines Opas zu sitzen, oder seinen bevorstehenden Tod zu verleugnen“, sagt sie. „Es fühlte sich auch falsch an, meinen Freund:innen zu erzählen, dass ich um jemanden trauerte, der ja noch lebte.“
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Carolyn Gosling, Spezialistin für das Überwinden von Trauer, hat dafür eine Erklärung: Wir sind gesellschaftlich nicht darin geübt, prinzipiell mit Trauer umzugehen; daher fällt es uns schwer, ihre verschiedenen Facetten zu verstehen. „Wir gehen davon aus, dass Trauer erst einsetzt, wenn der Verlust schon stattgefunden hat – nach einer Trennung oder einem Tod, zum Beispiel“, sagt sie. „Wenn du also auf einen Verlust vorausschaust, kommt uns das fremd vor.“ Selbst wenn du bereits Erfahrungen mit Tod und Trauer gemacht hast, kann dich niemand darauf vorbereiten, wie es sich anfühlt, um jemanden zu trauern, der oder die noch hier ist.
„Das war sehr schwer für mich“, erzählt Ellie. „Damit ging auch eine komische Form von Schuld einher – manchmal dachte ich, dass ich den Teufel an die Wand malte und ihn dadurch quasi zum Tod verdammte, obwohl ich natürlich wusste, dass das nicht stimmte. Dass es passieren würde, ob ich mich nun damit arrangierte oder nicht.“
Im Umgang mit antizipatorischer Trauer trauerst du nicht nur um einen geliebten Menschen, sondern auch um all die Momente, die diese Person noch verpassen wird: zum Beispiel deine Hochzeit, dein Einzug in ein neues Zuhause, deine Familiengründung. Auch das Wissen, dass dieser Mensch in Krisenzeiten nicht mehr für dich da sein wird, kann wehtun. Vielleicht kommt dir das selbstsüchtig vor – doch sind all diese Gefühle völlig normal.
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Es fühlte sich falsch an, meinen Freund:innen zu erzählen, dass ich um jemanden trauerte, der ja noch lebte.
EllIE, 26
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Gosling bezeichnet das als Verlust der Hoffnungen, Träume und Erwartungen. Du trauerst um deine Vorstellung deiner zukünftigen Realität. Bailey empfiehlt daher, die geliebte Person darum zu bitten, dir einen Brief zu schreiben, den du dir an wichtigen Tagen durchlesen kannst. So kann der geliebte Mensch weiterhin Teil dieser Anlässe sein.
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Auch handfeste Dinge können dich in dieser Situation beschäftigen – wie der Gedanke an Lebensversicherungen, Testamente und Beerdigungspläne. Bailey findet es sehr wichtig, sich auf diese Gespräche einzulassen und dem geliebten Menschen zu versichern, dass sich jemand um all das kümmert. „Das braucht diese Person“, sagt sie. Gleichzeitig können den Hinterbliebenen solche Gespräche vor dem Tod im Nachhinein viel Druck ersparen.
Gosling warnt davor, sich in ungesunde Bewältigungsmechanismen zu flüchten – wie den Drogenmissbrauch oder, im Fall der 22-jährigen Eliana, in eine Essstörung. Nach einer Stammzellentransplantation entwickelte Elianas Vater die sogenannte Transplantat-gegen-Wirt-Krankheit (GVHD, für graft-versus-host disease). Die sorgte dafür, dass die neuen Zellen seinen Körper angriffen und er im Krankenhaus landete.
Eliana flog Anfang November zu ihm nach Amerika, um drei Monate nach seiner Erkrankung bei ihm zu sein. Direkt nach ihrer Ankunft wurde ihr mitgeteilt, dass er wohl nur noch mehrere Tage überleben würde. Nachdem seine Medikamente abgesetzt wurden, ging es ihm aber vorübergehend besser und blieb weitere drei Wochen am Leben. Das Ganze war eine Achterbahnfahrt; Eliana schloss erst ihren Frieden damit, dass ihr Vater schnell sterben würde, und hatte kurz darauf plötzlich wieder Grund zur Hoffnung, er könnte überleben.
Überwältigt von ihrer Angst, Trauer und einer verwirrenden Mischung aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit verlor Eliana ihren Appetit. „Ich war so getriggert“, sagt sie. „Ich verlor sehr viel Gewicht.“ Daraufhin kam die Schuld – darüber, dass sie nicht genug Zeit mit ihm verbracht hatte –, gefolgt vom Verhandeln. „Ich machte quasi alle Phasen der Trauer durch, schon bevor er überhaupt tot war.“
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Das kann sich anfühlen, als würdest du emotional in der Schwebe hängen – vor allem, wenn noch Hoffnung besteht. Trotzdem ist es wichtig, dir deine Gefühle einzugestehen. Bailey empfiehlt, deine Emotionen konkret zu benennen und dich selbst auf sie einzulassen, bevor du mit ihnen abschließt. Obwohl es schwierig sein kann, rät sie außerdem dazu, mit jemandem darüber zu sprechen, was du durchmachst – ob nun mit einer vertrauten Person oder einem:einer Therapeut:in.
Als Elianas Vater schließlich doch verstarb, verebbte ihre Angst allmählich. Mit der Zeit konnte sie wieder essen. „Ich war einfach so erschöpft“, sagt sie. Ellie ging es ähnlich. Obwohl sie die Trauer nach dem Tod ihres Opas wie eine Welle überkam, empfand sie doch gleichzeitig ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung, weil ihr Großvater jetzt endlich seinen Frieden finden konnte.
Das ist ein Vorteil dieses langen Abschieds: Du hast nicht bloß mehr Zeit, um dich an die Vorstellung des Todes einer geliebten Person zu gewöhnen, sondern auch dafür, nichts unausgesprochen zu lassen. „Das ist einer der Hauptgründe dafür, warum viele Menschen in ihrer Trauer ‚stecken bleiben‘“, erklärt Bailey. „Sie hatten nicht die Chance, sich zu verabschieden. Ihre Liebe laut auszusprechen. Sich zu bedanken oder für irgendetwas zu entschuldigen, was vielleicht schon Jahre zurückliegt. Also nutze die Zeit, die dir bleibt.“
Dafür war Eliana zutiefst dankbar. Sie findet es außerdem sehr wichtig, Fotos mit der geliebten Person zu machen – selbst während der letzten Tage oder Stunden –, und so viel Zeit mit ihr zu verbringen, wie du kannst. „Selbst wenn dieser Mensch nicht in der besten geistigen Verfassung ist oder schläft: Setz dich daneben. Sprecht über eure liebsten Erinnerungen und schwelgt in der Vergangenheit. Nimm seine oder ihre Hand in deine eigene. Oder schau ihn oder sie einfach nur an. All das wird dir nämlich so sehr fehlen, wenn du das nicht mehr kannst.“
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