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Wenn deine beste Freundin todkrank ist

Foto: Beth Sacca
Lange Zeit war Krankheit für mich nichts anderes als die Tröpfcheninfektion, die mein Gegenüber mir im Bus zur Rush Hour ins Gesicht hustet. Irgendwann ist es dann das Wehwehchen von Oma oder Opa, das plötzlich ernst zu nehmen ist. Und dann fängt man an zu realisieren, dass ein Familienmitglied das Zeitliche segnen könnte. Noch schlimmer und unerträglicher wird der Gedanke an den Tod bei Geschwistern, der Mutter, dem Vater oder dem*der Lebenspartner*in.
Tod und Freunde waren für mich immer meilenweit voneinander entfernt. Ich habe sie erst gar nicht miteinander assoziiert. Die Existenz der engsten Buddies war einfach selbstverständlich: Sie sind da und ihnen passiert nichts, fertig, aus. Aber ich wurde wach gerüttelt.
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Meine beste Freundin hat Krebs. Ein Leid, ein Schmerz, den ich bisher nicht erfahren musste und hoffentlich nie muss. Aber ich erfahre, wie es ist, dabei zuzusehen. Und mit ihrer Diagnose wurde auch ich krank. Denn Kummer kann zu Depressionen führen. Und eine Depression ist eine Krankheit. Das habe ich erst spät gemerkt und vielleicht auch vor Kurzem erst wirklich verstanden.

Liebeskummer existiert nicht nur für den*die Partner*in

Man sagt, der Schmerz, den man während eines Liebeskummers verspürt, sei so stark wie ein Herzinfarkt. Liebeskummer. Liebe und Kummer. Wieso nutzt man diesen Begriff nur für Liebesbeziehungen, für die Ehe, für Boy- oder Girlfriend? Man liebt seine Freunde, ebenso wie die Familie. Und bei Liebeskummer hat man doch Kummer, weil man jemanden liebt – Punkt. All diese Menschen können einem Kummer bereiten – so auch die beste Freundin. Ich spreche ganz bewusst von ihr, weil es meine beste Freundin betrifft.
Als Kind hatte ich viele verschiedene Freunde und alle waren nach ungefähr einer Woche wechselartig meine Besten (manchmal waren sie auch direkt meine Ehemänner, aber die Grundschul-Alufolien-Ring-Ehen wurden nach zwei Tagen annulliert). Ich glaube jetzt, mit 25, sagen zu können, dass sich die Freundschaften festigen, vielleicht schon gefestigt haben, und einige das Potenzial haben ewig zu halten. Was den oder die beste Freund*in definiert, muss jede*r subjektiv entscheiden.
Ich bin eine Frau, die viel Zeit für sich braucht und nicht 24/7 mit allen engen Buddies reden muss. Bei ihr aber fällt es mir auf, wenn wir uns mehrere Tage nicht sprechen. Ich muss wissen, wie es ihr geht, will up to date sein. Vielleicht, weil man auch für Menschen, die man aus tiefstem Herzen, aber ganz ohne körperliche Anziehung liebt, eine Art Mutterinstinkt entwickelt, denn meine Fürsorge für sie ist sehr groß. Ich möchte sie beschützen, das war von Anfang an so. Auch bevor ich erfuhr, dass sie todkrank ist.
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Die richtige Reaktion gibt es nicht

An diesen Moment erinnere ich mich genau. Sie hatte einen schrecklichen Frühling und Sommer, wollte und wollte sich von diversen Krankheiten einfach nicht erholen, als letztes von einer Mandelentzündung. Selbst nachdem diese operativ entfernt wurden, ging es ihr nicht besser. Hier hätte man es eigentlich schon ahnen können, denn wer muss während einer Mandel-OP reanimiert werden? Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei 0,000001%. Sie war dieses Millionstel.
Wir saßen auf meinem Balkon und sie sagte es gerade heraus: „Mir wurde Gewebe entnommen, es wurde getestet. Ich habe Lymphdrüsenkrebs.“
Wie habe ich reagiert? Wie reagiert man überhaupt richtig? Der erste Instinkt geht vielleicht in Richtung „der Magen zieht sich zusammen und man bricht in Tränen aus.“ Aber weder noch. Ich saß da, zunächst ganz ruhig und fing dann an Fragen zu stellen. Nicht, weil ich unglaublich tapfer bin; es lag schlicht und einfach daran, dass ich es nicht realisiert habe – vermutlich bis heute nicht.

Und ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, existiert ein Gedanke, der mich nie wieder verlassen wird: Meine beste Freundin könnte sterben.

Ich möchte an dieser Stelle nicht ins Detail gehen und die letzten anderthalb Jahre nacherzählen. Es geht um das Gesehenwerden. Darum, dass die Angehörigen eben auch Freunde sein können. Und ich glaube, zwei wichtige Punkte rücken oft in den Hintergrund: die Verantwortung, die beste Freunde tragen, und was diese impliziert.

Gewissen versus Respekt

Für Menschen, die man liebt, trägt man Verantwortung. Für Entscheidungen trägt man Verantwortung. Für das Handeln trägt man Verantwortung. Meine größte begann mit dem Bewahren dieses Geheimnisses. Und dem Respekt vor dem Menschen, aber vor allem vor ihrer Gesundheit. Der eigene Körper und die Gesundheit sind wohl das Intimste, das ein Mensch besitzt.
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Ich spreche von einem Geheimnis, weil ich diese Tatsache um meine beste Freundin eine sehr lange Zeit für mich behalten musste. Ein ganzes Jahr wusste ihre Familie nichts davon, denn sie hat eindringlich darum gebeten.
Ich habe mich gefragt: Kann ich das vertreten oder handeln wir fahrlässig? Wie würde es mir gehen, würde man mir verheimlichen, dass mein Bruder oder meine Schwester todkrank ist und ich ein Jahr lang nichts davon weiß? Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren?
Was ist wichtiger? Respekt oder Gewissen? Für mich war es Respekt, auch wenn es zeitweise unerträglich war. Der Respekt vor ihrem Leben und wie sie mit ihrem Leben umgehen möchte.

Wenn aus Fürsorge Sorge wird

Ich war überfordert. Wie verhält man sich richtig? Ist Mitleid und fast schon ängstliche Fürsorge angebracht? Oder sollte ich ihr so viel Normalität wie möglich verschaffen? Dafür gibt es kein Rezept und ich weiß es bis heute nicht. Ich traue mich auch bis heute nicht sie zu fragen, ob ich „gut genug“ für sie da bin. In Momenten, in denen sie voll von Angst war, musste ich lernen ruhig zu bleiben. Momente, in denen sie in meinem Bett lag und Blut in eine Schüssel hustete. Ich habe ihren Rücken gestreichelt und bin nicht in Panik geraten. Ich musste ruhig bleiben. In Momenten, in denen sie dabei war sich aufzugeben, gab es diverse Ansagen von mir, ganz nach dem Motto „Du musst weitermachen!“
In den anderen Momenten, die, in denen ich allein war oder mit meinem Bruder und meiner Freundin sprach, überkamen mich Tränen. Schwäche, mich panisch werden lassende Schnappatmung und Schmerzen im ganzen Körper – die totale und reine Angst.
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Und dann sind da die plötzlichen Verbote. Das Rauchen, das Alkoholtrinken und der plötzliche Verzicht auf die leckersten Lebensmittel. Es war Hochsommer und wir die absoluten Ausgehmenschen. Draußen sitzen, etwas Schönes snacken, einen Wein trinken und die Sonne genießen, all das wollte ich ihr nicht nehmen. Auch ihr Arzt riet dazu, sich ein kleines bisschen Alltag und Normalität zu bewahren. Und dafür sollte ich als beste Freundin sorgen. Aber was zum Teufel ist die Definition von „ein kleines bisschen“? Wann musste ich einschreiten und wann nicht? Wann war es angemessen, sie wie die krebskranke Freundin zu behandeln, wann wie die Freundin, die sie auch vor der Diagnose war?
Zu viele Fragen und die totale Überforderung wurden also ebenfalls meine alltäglichen Begleiter. Denn nicht ich war „krank“. Ich war ja körperlich gesund, dementsprechend musste auch mein Alltag weiterhin funktionieren. Es gab keinen Pause-Button für Klausuren und die Arbeit. Am meisten Energie genommen hat mir das Verheimlichen vor ihrer Familie, denen ich sehr nahe stand. Ich kam mir vor wie eine Lügnerin und ich glaube, es belastet mich noch immer. Ihre Familie weiß mittlerweile Bescheid und unterstützt sie auf allen erdenklichen Wegen aber die Enttäuschung gegenüber mir und ihrer Schwester sitzt tief. Ganz naiv bin ich da wohl nicht rangegangen, ich habe gewissermaßen damit gerechnet. Aber wenn die Bombe wirklich platzt, fragt man sich natürlich, ob man sich erneut so verhalten würde. Ich werde immer versuchen, die Wünsche meiner Freundin zu respektieren. Aber vielleicht würde ich heute deutlich mehr insistieren, sich der Familie mehr zu öffnen – Gründe hin oder her.
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Wann hat das ein Ende?

Immer wieder heißt es, das Schlimmste sei überstanden und sie könne erneut versuchen, sich einen Alltag aufzubauen. Wenn auch mit Medikamenten und regelmäßigen gründlichen Untersuchungen, aber ohne Strahlentherapie. Doch mein Puls schnellt jedes Mal in die Höhe, wenn ich merke, dass sie einmal besonders schlapp ist oder Gliederschmerzen hat. Ganz besonders auch dann, wenn sie neue Knoten entdeckt. Diese müssen per se gar nichts Schlechtes heißen, aber die Sorge und die Panik sind da.
Wann sich der Magen also wirklich zusammenzieht? Wenn die Nachricht kommt, dass eine neue Behandlung notwendig ist. Dann, wenn du kurz das Gefühl hattest, aufatmen und loslassen zu können. Nicht mehr nur funktionieren zu müssen – und dann ist da wieder ein fieser Stoß ins Herz und du fühlst dich wie gelähmt. Aber wir kämpfen weiter. Aufgeben, sich hängen lassen, steht gar nicht zur Debatte.
Doch ein weiterer, festsitzender Gedanke ist deshalb: „Wann hat das alles ein Ende?“ Werde ich mir jemals wieder keine Sorgen mehr um ihre Gesundheit machen müssen? Werde ich die Tatsache, dass meine beste Freundin neben mir läuft, tanzt und mit mir lacht, jemals wieder als selbstverständlich ansehen? Es ist ein Privileg, überhaupt so einen Menschen zu haben, das ist mir jetzt bewusster denn je. Aber ich frage mich auch, ob es egoistisch ist, sich zu wünschen, ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen und nur kurz mal wieder ihr Mittelpunkt zu sein? Zu fühlen, dass sie mich auffängt oder zumindest wieder auffangen kann?
Ich glaube, die Frage, wann das alles zu Ende ist, ist nicht egoistisch. Sie ist menschlich. Denn diesen Gedanken haben neben der betroffenen Person auch die Angehörigen jeden Tag und so eben auch die besten Freunde. Sie sind da, sie leiden mit und sind genauso Teil der Tragödie.
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