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Ich dachte, meine Anfälle wären „nur in meinem Kopf“ – ich lag falsch

Foto: Meg O'Donnell-Bath.
Im Jahr 2019 fing ich an, die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Ich bekam Krampfanfälle, die anfangs nur alle paar Monate einsetzten, mit der Zeit aber immer häufiger auftraten. Irgendwann hatte ich vier Anfälle pro Tag, die jeweils eine Stunde anhielten. Mein rechter Arm entwickelte ein dauerndes Zittern, und ich war körperlich völlig erschöpft. Ich ließ mich krankschreiben und auf Multiple Sklerose, Motoneuron-Erkrankungen, eine frühe Form von Parkinson und auf Epilepsie testen. Alle Ergebnisse waren negativ.
Es wurde zunehmend schwierig, zu reisen, mich mit Freund:innen zu treffen oder auch nur das Haus zu verlassen. Einmal verpasste ich am Bahnhof drei Züge hintereinander, weil mir meine Krampfanfälle das Laufen so schwer machten und ich es nicht rechtzeitig zum Gleis schaffte. Ich stand also da, weinte, zitterte, und niemand half mir. Ich war völlig verzweifelt und wollte unbedingt herausfinden, was mit mir nicht stimmte. Damals war mir nicht klar, dass es genauso wichtig sein würde wie die Diagnose selbst, wie mir meine Ärzt:innen diese Diagnose erklären würden.
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Ich wurde von Spezialist:in zu Spezialist:in weitergereicht, bis ich endlich mit einem Neurologen sprach, der mich darum bat, meinen Daumen und Mittelfinger an der rechten Hand gegeneinanderzutippen. Als ich das tat, hörte mein rechter Arm schlagartig auf zu zittern. Es war diese kleine Übung, die mir endlich eine Diagnose einbrachte: Ich litt an einer funktionellen neurologischen Störung, kurz FNS.

Wieso konnte ich mein Gehirn nicht kontrollieren? Hatte ich mich unterbewusst selbst krank gemacht?

Eine FNS ist quasi ein Software-Problem, keins mit der Hardware. Das heißt: Mein Gehirn ist körperlich gesund, hat aber Schwierigkeiten, Informationen zu verarbeiten, die es vom Körper empfängt. Meine erste Reaktion auf diese Diagnose war Scham. Ich war seit Monaten nicht mehr bei der Arbeit gewesen, hatte die Kontrolle über meine Gliedmaßen verloren und jetzt erfahren, dass das Ganze psychologisch bedingt war. Wieso konnte ich mein Gehirn nicht kontrollieren? Hatte ich mich unterbewusst selbst krank gemacht? Ich wollte meinem Gehirn sagen, es solle damit aufhören, aber es hörte nicht auf mich. Mit der Zeit lernte ich aber, dass ich es zumindest ablenken konnte. Indem ich zum Beispiel mit meinen Fingern oder Zehen eine rhythmische Bewegung machte, wie es mir der Neurologe gezeigt hatte, konnte ich die Aufmerksamkeit meines Gehirns von meinem Zittern oder meinen Krämpfen ablenken und somit die Symptome stoppen.
Ich habe vor Kurzem mit Hollie-Anne Brookes gesprochen, einer Journalistin und Aktivistin für die Rechte von Menschen mit Be_hinderungen, die selbst von einer FNS betroffen ist. Über einen Artikel zu ihrer Erfahrung mit der Krankheit war ich auf sie aufmerksam geworden, und bei unserem Gespräch wurde mir klar, dass ich mit meinen Gefühlen rund um meine FNS nicht allein war. „Ich schämte mich sehr… Ich weiß noch, dass ich damals vor meiner Mutter und meinem Freund zusammenbrach und sagte: ‚Es tut mir so leid.‘ Ich hatte dauernd das Gefühl, mich für meine Diagnose entschuldigen zu müssen.“
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Laut der Neurologin Jon Stone, die die Website neurosymptoms.org führt, gehören FNS zu den häufigsten neurologischen Diagnosen. Der Deutschen Hirnstiftung zufolge gehen rund 15 Prozent aller Vorstellungen in neurologischen Sprechstunden sowie 10 Prozent aller Notfälle an neurologischen Kliniken auf FNS zurück. Die genaue Zahl der Betroffenen kennt niemand, doch leiden in Deutschland Schätzungen zufolge 400.000 Menschen darunter. Laut einer Meta-Analyse von 4.905 Fällen treten FNS insbesondere bei jungen Frauen auf – und doch haben viele Leute bisher noch nie davon gehört, inklusive Ärzt:innen. In den letzten zehn Jahren ist die Forschung auf dem Gebiet dennoch deutlich vorangekommen, was zu einer besseren Diagnose, Behandlung und Informationslage geführt hat. Derzeit wird untersucht, wieso die Störungen häufiger bei Frauen auftreten – und wodurch sie überhaupt ausgelöst werden.
Funktionelle neurologische Störungen beeinträchtigen die Fähigkeit des Gehirns, Informationen zu senden und zu empfangen. Als Menschen verfügen wir über unterbewusste „Vorlagen“ dafür, wie wir auf bestimmte Situationen reagieren. Wenn wir zum Beispiel eine Rolltreppe betreten, passt sich unser Gehirn automatisch daran an, sodass uns die Bewegung der Rolltreppe nicht aus dem Gleichgewicht wirft. Mit einer FNS ist es hingegen so, als würdest du auf eine Rolltreppe steigen, die sich nicht bewegt. Du siehst zwar, dass sie nicht fährt – doch setzt dein Gehirn deine Augen quasi außer Kraft und tut so, als würde sich die Rolltreppe sehr wohl bewegen. Das fühlt sich dann so an, als würdest du ins Taumeln geraten. FNS können sich in Form diverser Symptome zeigen; die häufigsten sind aber Krampfanfälle, Zuckungen, Schwäche der Gliedmaßen, reduzierte Empfindungen an manchen Körperstellen, Tics und Schwindel. Diese werden häufig von Erschöpfung, Schmerzen, Kopfschmerzen und Unruhe begleitet. Mark Edwards, Professor für Neurologie am Londoner King’s College und FNS-Spezialist, schreibt: „In der Vergangenheit wurde psychologisches Trauma, oder allgemeiner ‚Stress‘, als auslösender Faktor betont. … Das heißt jedoch nicht, dass alle oder auch nur die Mehrheit der FNS-Betroffenen solche Erfahrungen gemacht haben. Es bedeutet auch nicht zwangsläufig, dass solche stressigen Erlebnisse der direkte Auslöser einer FNS sind.“
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Obwohl also nicht alle Fälle einer FNS traumabedingt sind, fährt Edwards fort: „Meiner Erfahrung nach liegt dem Beginn einer FNS meist eine Kombination aus einem ‚typischen‘ körperlichen Erlebnis (einer Krankheit oder Verletzung) und einer anstrengenden Phase zugrunde, während der harte Arbeit, Erschöpfung und ‚normale‘ chronische Stressoren zusammenkommen, von der viele Menschen betroffen sind.“
Was wir heute unter einer funktionellen neurologischen Störung verstehen, ist keine neue Entdeckung und wurde in der Vergangenheit auch schon unter diversen Begriffen untersucht und stigmatisiert – wie zum Beispiel als Hysterie, als Erkrankung des Nervensystems, als Konversionsstörung oder als psychogenische oder nicht-organische Krankheit. Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurde der Begriff „Hysterie“ zur „Konversionsstörung“, die nun wiederum zur „funktionellen neurologischen Störung“ geworden ist. Erst seit ein paar Jahren werden FNS offiziell anerkannt und gründlicher erforscht.

Weil mir eine neurologische Störung diagnostiziert worden war, hatte ich das Gefühl, sie mir nur „ausgedacht“ zu haben oder selbst dafür verantwortlich zu sein.

So wurde beispielsweise eine Verbindung zwischen FNS und dem Stresshormon Cortisol nachgewiesen. Die kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: Wann immer ich gestresst, müde oder unruhig war, schaltete mein Gehirn den Autopiloten an – und ich verkrampfte. Dieser Kontrollverlust über meinen Körper war furchterregend, und diese Angst schüttete wiederum noch mehr Cortisol aus. Ein lähmender Teufelskreis.
Die Krankheit wurde für mich zur Abwärtsspirale, die mich immer weiter einschränkte. Je länger meine FNS unbehandelt blieb, desto mehr wurden meine Symptome für mein Gehirn zur Gewohnheit. Mit der Zeit verfestigten sich die falschen „Vorlagen“ für Reaktionen dadurch immer mehr. Das muss aber nicht bei jeder FNS so laufen: Wird die Störung nicht behandelt, variiert ihre Entwicklung von Person zu Person. Die Symptome können gleichbleibend und mild bleiben, aber auch so schwer werden, dass Betroffene irgendwann einen Rollstuhl brauchen oder ihre Wohnung nicht mehr verlassen können. In vielerlei Hinsicht war meine FNS-Diagnose eine Erleichterung. Ich wusste endlich, was mit mir los war. Gleichzeitig warf sie aber auch ganz neue Probleme auf: Weil mir eine neurologische Störung diagnostiziert worden war, hatte ich das Gefühl, sie mir nur „ausgedacht“ zu haben oder selbst dafür verantwortlich zu sein. Ich schämte mich für meine Diagnose. Wenn mein Gehirn für diese Krampfanfälle verantwortlich war, war das meine Schuld, dachte ich; ich musste sie wohl absichtlich haben. Leider fällt es vielen Patient:innen schwer, solche körperlichen Symptome als psychosomatisch zu akzeptieren. Dr. Sandra Eriemo ist kognitive Verhaltenstherapeutin und erklärt: „Die Betroffenen wissen, dass ihre Symptome real sind. Es kann daher sehr entmutigend sein, zu hören, das alles sei ‚nur in deinem Kopf‘. Viele haben dann das Gefühl, man würde ihnen nicht glauben.“ Daher ist es entscheidend, wie Betroffene über ihre Diagnose informiert werden. 
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Ich selbst war dazu bei einer sechswöchigen Behandlung in der neuropsychiatrischen Abteilung meines Krankenhauses, in der mir vermittelt wurde, dass meine FNS nicht meine Schuld war und ohne Übung nicht einfach „abgeschaltet“ werden kann. Die Behandlung bestand aus Physio-, Ergo- und kognitiver Verhaltenstherapie. Ich lernte, den Auslöser und die Trigger meiner FNS zu identifizieren und bei Anfällen die Kontrolle zurückzugewinnen.
Die meisten FNS-Patient:innen durchleben einen endlosen Kreislauf aus Höhen und Tiefen. An den Tagen, an denen sie ihre Symptome leichter bewältigen können, unternehmen sie vielleicht zu viel. Das kann dazu führen, dass Betroffene am nächsten Tag wieder einen Anfall bekommen. Darunter leidet dann nicht nur ihre Stimmung, sondern auch ihr Glaube daran, ein „normales“ Leben führen zu können. Bei der Physio- und Ergotherapie erlernte ich daher, einen Übungsplan zu erstellen, mit dem ich jeden Tag ein bisschen mehr tue als an einem typischen „schlechten“ Tag, aber auch ein bisschen weniger als an einem typischen „guten“ Tag, um den Kreislauf aus Erfolgen und Rückschlägen zu durchbrechen und mein Leben kontinuierlich besser zu bewältigen.
Ich lernte außerdem, meine Symptome in den Griff zu bekommen – sowohl auf körperliche als auch auf psychologische Art. Mit Klopftechniken kann ich beispielsweise mein Gehirn ablenken, und mir wurde beigebracht, mich auf unabsichtliche Bewegungen einzulassen. Wenn mein Arm zum Beispiel zittert, konzentriere ich mich auf dieses Zucken und verstärke es, bis ich die Bewegung selbst kontrollieren kann. Daraufhin reduziere ich die Geschwindigkeit des Zuckens wieder – bis es schließlich ganz aufhört. Ich erfuhr außerdem, dass meine Krampfanfälle mit Unruhe oder Stress zusammenhängen, und lernte Atemübungen und Meditationstechniken, um mein Nervensystem zu beruhigen und die Cortisolproduktion zu hemmen. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie arbeitete ich daran, Gedanken und Verhaltensweisen zu kontrollieren, die mich von der Heilung abhalten könnten. Nach den sechs Wochen hatte ich meine Krampfanfälle im Griff – und konnte wieder zur Arbeit zurückkehren.
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Von den ersten Symptomen bis hin zu Untersuchungen, Überweisungen, Diagnosen und Wartezeiten auf Behandlungstermine: Der ganze Prozess dauerte natürlich viel länger als nur diese sechs Wochen in der Klinik. Ich musste sogar anderthalb Jahre warten, bis ich zur Behandlung zugelassen wurde. Laut Krankenhausmitarbeiter:innen und anderen Patient:innen war das sogar ungewöhnlich schnell. Andere Betroffene, mit denen ich mich unterhalten habe, mussten mehrere Jahre warten. Noch dazu kennen sich nicht alle Therapeut:innen mit FNS aus oder wissen, wie solche Störungen zu behandeln sind – oder auch nur, wie sie die Diagnose am besten erklären sollten.
Sandra erklärt: „Es ist wichtig, dass die Diagnose auf eine Art vermittelt wird, die klarstellt, dass die Symptome absolut real sind. Die Akzeptanz der Diagnose ist entscheidend für eine effektive Behandlung. Wenn du nur so tust, als würdest du die Diagnose akzeptieren, ist die Behandlung wahrscheinlich nicht erfolgreich.“ Das Problem dabei: Ärzt:innen kommen zur Diagnose FNS meist nur durchs Ausschlussprinzip. Daher können viele Patient:innen das Gefühl haben, sie bekämen diese Diagnose nur, weil ihre Ärzt:innen keine anderen Erklärungen für ihre Symptome haben. Mein Arzt hingegen erkannte meine körperlichen Symptome, wusste von FNS und bewies mir dann, dass er richtig lag, indem er mir sofort zeigte, wie ich mein Zittern stoppen konnte. Das bewies mir, dass er mir meine Krankheit glaubte.
Ja, eine funktionelle neurologische Störung kann das Leben von Betroffenen aus der Bahn werfen. Die richtige Behandlung kann ihnen ihr Leben aber wieder zurückgeben – und das hat sie auch in meinem Fall getan.
In unserer Gesellschaft trennen wir „medizinische Gesundheit“ und „mentale Gesundheit“ immer noch voneinander. Es ist gesellschaftlich akzeptabler, über eine medikamentöse Behandlung einer körperlichen Beschwerde zu sprechen, als darüber, eine Be_hinderung durch Therapie zu behandeln. FNS müssen unbedingt bekannter werden, um ihre Stigmatisierung abzubauen und zu verhindern, dass sich viele Betroffene für ihre Diagnose schämen. Das beschleunigt nicht nur den Diagnoseprozess – sondern hilft Betroffenen auch, die Diagnose zu akzeptieren. Und nur dann kann eine Behandlung wirklich erfolgreich sein.
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Denn die Behandlung beginnt schon mit der Diagnose.
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