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Ich putzte mir sechs Monate nicht die Zähne – wegen meines Traumas

Foto: Miriam Alonso.
Gute Hygiene gilt für die meisten von uns nicht nur als soziale Norm, sondern als moralischer Grundsatz. Diese Message wird uns immer und überall aufgedrückt – ob nun in Form des kollektiven Entsetzens über Promis, die nur selten duschen, oder der Diskussion darüber, wie oft man sich eigentlich die Haare waschen sollte.
Dabei ist es natürlich eine Tatsache, dass deine Hygiene-Routine vielleicht für andere gar nicht machbar wäre – oder andersrum. Der Therapeutin Dee Johnson zufolge gibt es dafür eine ganze Reihe möglicher Erklärungen, darunter „eine Unfähigkeit zur Selbstorganisation oder Konzentration, eine Reizüberflutung, eine Trennung von Psyche und Körper oder eine Vorbelastung durch Traumata“. Mangelnde Hygiene kann sogar angelernt sein, wenn jemand in der Jugend vernachlässigt wurde.
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Es fällt uns leicht, andere dafür zu verurteilen, wenn sie an etwas scheitern, das wir selbst problemlos in unseren Alltag integrieren. Dadurch wird Sauberkeit aber zum moralischen Pflichtprogramm; wer dem eigenen Hygienestandard nicht entspricht, wird dafür beschämt. Dabei könnte die betroffene Person womöglich tragische Gründe für die mangelnde Hygiene haben – wie zum Beispiel eine Neurodivergenz, ein Trauma oder eine schlechte geistige Verfassung.
Libby ist 25 Jahre alt und hat dank einer Kombination aus Trauma und Reizüberflutung schon seit ihrer Teenagerzeit mit ihrer mangelnden Hygiene zu kämpfen. Sie erzählt R29 von den komplizierten Gründen dafür, dass sie ihre Zähne monatelang nicht putzt – und warum wir dringend an unserer automatischen Reaktion auf die Hygiene anderer Leute arbeiten sollten.
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„Ich glaube, ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit der Hygiene. Das lag anfangs definitiv an mangelnder Motivation und Reizüberflutung. Als ich mit dem Studium anfing, wurde es aber richtig schlimm. Zu Beginn hing das mit psychotischen Symptomen zusammen: Ich war überzeugt davon, dass Kameras in den Duschkopf im Wohnheim eingebaut waren, also hörte ich auf zu duschen. Nach einer Weile brachte ich dazu endlich wieder den nötigen Mut auf, duschte aber auch nur in Unterwäsche.
„Von da an versuchte ich, meine Hygiene-Routine langsam wieder aufzubauen, hatte aber gerade ein Trauma durchlebt. Damals war ich 19. Das ließ alte Traumata wieder in mir hochkochen. Ich redete mir ein: Wenn ich dreckig war, stank und einfach unsauber aussah, würde man mir bestimmt nie wieder wehtun. Das kommt mir jetzt selbst albern vor, weil sich die Leute natürlich nicht sexuell an dir vergreifen, weil du so sauber aussiehst – mein Gehirn versuchte aber einfach, irgendeinen Ausweg zu finden, damit ich mich sicherer fühlte.
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„Monatelang wusch ich mich nicht, putzte mir nicht die Zähne. Ich weiß nicht, wie lange das tatsächlich so ging, aber ich weiß, dass es mindestens sechs Monate waren. Weil es mir aber eben darum ging, zu stinken und dreckig zu sein, konnte ich auch nicht zum Deo, Kaugummi oder Feuchttuch greifen. Deswegen funktionierten all die Tipps, die du so von anderen zu hören bekommst, wenn du keine Energie oder Motivation zum Duschen hast, für mich einfach nicht. Die waren nämlich genauso angsteinflößend.

Ich redete mir ein: Wenn ich dreckig war, stank und einfach unsauber aussah, würde man mir bestimmt nie wieder wehtun.

„Erst als ich anfing, einen Teil des Traumas ein bisschen zu verarbeiten, konnte ich die Hygiene wieder angehen. Als ich dann meine Partnerin kennenlernte, fühlte ich mich endlich sicher. Ich wusste, dass sie mir nicht wehtun würde – also wollte und konnte ich für sie sauber sein. Während ich aber diese Angststörung bewältigte, wurden die Reizempfindungen des Duschens für mich immer mehr zum Problem.
„Ich weiß selbst nicht, woher meine Tendenz zur Reizüberflutung kommt. Ich bin mir nicht sicher, ob das nur mit den Traumata zusammenhängt, weil ich auch viele autistische Eigenschaften habe. Zwischen einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und Autismus gibt es aber auch viele Überschneidungen. Wie sich Zähneputzen für mich anfühlt – die Borsten der Bürste, und der Minzgeruch der Zahnpasta –, kann ich nur damit vergleichen, wie andere beim Kratzen eines Messers auf einem Teller oder von Fingernägeln an einer Tafel zusammenzucken. Dabei fühlst du dich in deinem ganzen Körper plötzlich so unwohl, dass du dieses Gefühl am liebsten für immer vermeiden möchtest. Weil das aber eben nicht geht, setzt dann bei mir die Panik ein. Das Zähneputzen ist eigentlich etwas, was ich zweimal täglich für den Rest meines Lebens machen sollte. Mit dieser Realität komme ich aber nur schwer klar, weil es mir eben so extrem unangenehm ist. Heute zwinge ich mich dazu, mir rund zwei-, dreimal im Monat die Zähne zu putzen und deutlich häufiger zu duschen als früher.
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„Das wirkt sich stark auf meinen Alltag aus. Mich nicht zu waschen oder mir die Zähne zu putzen, ist für mich inzwischen so normal, dass es mir schwer fällt, das zu regelmäßigen Gewohnheiten werden zu lassen. Meine Mum und meine Verlobte fordern mich deswegen manchmal dazu auf oder helfen mir auch körperlich dabei, weil ich zusätzlich mit chronischen Schmerzen und Erschöpfungssymptomen zu kämpfen habe. Du verlierst einen Teil deiner Unabhängigkeit, wenn du dein Gehirn komplett umtrainieren und ihm beibringen musst, Dinge in deinen Alltag zu integrieren, die anderen so leicht fallen. Das ist fast, als wärst du nochmal ein Kleinkind, weil du lernen musst, dich auf so grundlegende Weise um dich selbst zu kümmern.
„Es kann natürlich auch einfach extrem peinlich sein. All das wird einfach von dir erwartet, und schlechte Hygiene ist so stigmabelastet, weil viele sie mit schlechter geistiger Gesundheit oder Neurodivergenz verbinden. Wegen dieser Stigmata reden viele Betroffene nicht so gern darüber – und wenn sie es doch tun, werden sie dafür häufig kritisiert. Das führt dann zur weiteren Stigmatisierung.
„Ich glaube, die damit verbundene Scham hat viele Gründe. Die patriarchische Erwartung an Frauen, schön auszusehen, gut zu riechen und immer gut drauf zu sein, zum Beispiel. Dann wäre da noch die diskriminierende Annahme, sichtbar schmutzige oder stinkende Menschen müssten zwangsläufig arm sein oder könnten es sich nicht leisten, gut auszusehen und zu riechen. Und natürlich spielt hier auch Ableismus eine große Rolle: Wenn man dir deine Be_hinderung nicht direkt ansieht, gehen viele Menschen selbstverständlich davon aus, du seist körperlich und geistig fit. Durch all diese Vorurteile wird dann natürlich alles schlimmer.
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„Dabei ist es doch so: Wenn du diese Person, die du da gerade verurteilst, gar nicht wirklich kennst, könnte es eigentlich eine Vielzahl an Gründen dafür geben, warum sich deren Hygiene-Routine so sehr von deiner unterscheidet – von Be_hinderungen über Religion, Kultur, Gesellschaftsschicht, Erziehung bis hin zu Traumata. Die einzigen Leute, um die du dir dahingehend den Kopf zerbrechen solltest, sind du selbst und diejenigen, für die du verantwortlich bist. Viele Menschen scheinen sich aber selbst das Recht zuzusprechen, ihre Meinung zu allem und allen abzugeben und andere zu verurteilen. Stell dir doch mal selbst die Frage: Wenn du dies oder jenes niemals laut aussprechen würdest, warum schreibst du es dann auf Instagram und Co.?“
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Wenn du selbst Probleme damit hast, deine Hygiene in den Griff zu bekommen, und gerne etwas daran ändern möchtest, empfiehlt Dee, dir Hilfe zu suchen und dir selbst nicht (mehr) einzureden, du seist faul oder nachlässig. „Viele Therapeut:innen sind spezialisiert auf diese Probleme und können dir dabei helfen, deine Gefühle besser zu verstehen und Bewältigungstechniken zu entwickeln. Es kann auch ein toller erster Schritt sein, einfach mal mit deinem Hausarzt bzw. deiner Hausärztin darüber zu sprechen.“ Sie ergänzt: „Es gibt außerdem jede Menge Organisationen, Supportgruppen und Blogger:innen, die deine Erfahrungen teilen und dir helfen können.“
Und ganz wichtig: Mach dir nicht zu viel Druck, von jetzt auf gleich alles zu ändern. Dee empfiehlt, einen Schritt nach dem anderen zu machen, wenn sich deine bisherigen Muster einfach nicht durchbrechen lassen. 
„Wenn dir viele Aspekte der Hygiene unangenehm sind, nimm dir einen nach dem anderen vor. Sobald du dich mit einem ein bisschen wohler fühlst, versuch’s mit dem nächsten. Wenn du es zum Beispiel heute geschafft hast, dir die Zähne zu putzen, ist das ein Erfolg und ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn du damit fertig bist, hör mal in dich rein und finde heraus, wie sich das anfühlt. Im Laufe der Zeit wird das immer besser.“
„Außerdem solltest du diese Routine als die kurzen Momente betrachten, die sie sind. In der Realität dauern diese Hygiene-Gewohnheiten nämlich gar nicht lang, obwohl sie dir in deiner Vorstellung vielleicht ewig vorkommen. Achte darauf, wie lange es tatsächlich dauert, dir die Zähne zu putzen. Daraus lässt sich dann ein Muster aus vielen kurzen Handlungen erstellen.“
Wenn du selbst nicht mehr weiter weißt oder jemanden kennst, dem:der es schlecht geht, hol dir bitte Hilfe: Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr zu erreichen. Die kostenfreien Nummern lauten 0800/111 0111 und 0800/111 0222. Hier findest du außerdem Therapeut:innen in deiner Nähe.

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