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Wie Long COVID jungen Frauen mit chronischem Erschöpfungssyndrom hilft

Foto: Leia Morrison.
Beth aus London – die zum Schutz ihrer Privatsphäre in diesem Artikel ein Pseudonym verwendet – ist 24 Jahre alt und leidet schon seit zehn Jahren unter Myalgischer Enzephalomyelitis (ME), auch als Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS für chronic fatigue syndrome) bekannt. Nach ein paar Jahren, während der die Symptome noch relativ erträglich waren, sind die Schmerzen und Müdigkeit in den letzten Monaten immer schlimmer geworden. Inzwischen schafft es Beth kaum noch, das Haus zu verlassen; jeden Tag wird sie von Muskelschmerzen, erdrückender Erschöpfung und dem sogenannten „brain fog“ bzw. „Gehirnnebel“ gequält – einem Symptom der ME, das sich auf die Konzentration auswirkt, Gedankenprozesse abbremst und sogar zu undeutlicher oder verlangsamter Aussprache führen kann. 
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In letzter Zeit sind Beths Symptome so schlimm geworden, dass sie sich eine Auszeit von ihrem Traumjob nehmen musste. Seit sechs Wochen ist sie nun krankgeschrieben und erzählt mir, sie sei sich nicht sicher, ob sie jemals wieder zu ihrer Vollzeitstelle zurückkehren können wird. 
Trinity versteht diese Zweifel. Die 27-Jährige lebt im britischen Somerset und leidet seit ihrem sechsten Lebensjahr an ME. Ein halbes Jahr später wurde sie aus der Schule genommen, weil der Schmerz und die chronische Erschöpfung (Fatigue) es ihr unmöglich machten, zu lernen. Mit zehn Jahren war sie dann bettlägerig, konnte kein Licht ertragen und hatte selbst für die alltäglichsten Dinge keine Energie mehr – zum Beispiel, um selbstständig zu essen. Jahre später trägt sie Kompressionsbandagen, die den chronischen Schmerz in ihren Extremitäten lindern, und muss sich von ihrer Mutter beim Essen helfen lassen.
Die 29-jährige Cass wohnt im australischen Melbourne, wo sie sich mit COVID-19 infizierte. Nach vier Wochen Bettruhe teilten ihr ihre Ärzt:innen schließlich mit, sie habe sich vom Virus erholt. Also kehrte sie zu ihrer ersten Krankenhausschicht zurück, wo sie arbeitet – stellte dort aber fest, dass selbst das Stehen bei der Arbeit pulsierende Schmerzen, Schwindel und extreme Lichtempfindlichkeit auslöste. Sie versuchte noch dreimal, zur Arbeit zu gehen, wurde aber jedes Mal von den Symptomen überwältigt. Mehr als ein Jahr später leidet sie noch immer unter Muskelschmerzen, Schwindel und Kurzatmigkeit. Ihre Ärzt:innen diagnostizierten zuerst ME, hatten dann aber eine andere Erklärung: Cass leidet unter Long COVID.
Schon seit Jahrzehnten werden an ME erkrankte Frauen von der Medizin abgewiesen und ignoriert. Jetzt stehen viele der mit der Krankheit verbundenen Symptome aber unter einem anderen Namen im medizinischen Rampenlicht: Long COVID
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ME war früher ausschließlich als Chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt; weil dieser Name aber für Missverständnisse im Umgang mit der Krankheit sorgte – zum Beispiel für den Irrglauben, es sei nur eine Form der Depression oder eine andere psychologische Erkrankung anstatt einer körperlichen Störung. In Wahrheit ist ME eine lähmende Krankheit, die sich durch schwere Schmerzen im ganzen Körper, Erschöpfung und zahlreiche andere Symptome auszeichnet, wie die sogenannte „Post-Exertional Malaise“ – die Unfähigkeit von Körper und Gehirn, sich selbst nach geringster Anstrengung zu erholen. 
ME ist eine chronische, schwankende, neurologische Erkrankung, deren Symptome sich auf viele körpereigene Systeme auswirken, insbesondere auf das Nerven- und Immunsystem. Die körperlichen Symptome der ME können dabei genauso belastend sein wie die von Multipler Sklerose, Lupus, Rheumatoider Arthritis und Kongestiver Herzinsuffizienz, laut der Kampagne Action for ME

Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer aber nur eines. X-Chromosomen lösen Immunantworten im Körper aus; mehr X-Chromosomen zu haben, erhöht also die Wahrscheinlichkeit, dass das Immunsystem überreagiert und sich selbst angreift. 

ME-Patient:innen – inklusive all der Frauen, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe – wurden schon von Ärzt:innen ignoriert und abgewiesen, als „hysterisch“ abgestempelt oder fehldiagnostiziert. Da hieß es dann zum Beispiel, sie hätten Panikattacken oder Angststörungen.
Diese Erfahrung ist weit verbreitet: Einer Studie zufolge haben schon 77 Prozent aller ME-Patient:innen schlechte Erfahrungen mit Ärzt:innen gemacht. Eine andere Studie ergab, 57 Prozent der Betroffenen hätten sich von ihren Ärzt:innen schlecht behandelt gefühlt. Und wieder eine andere Studie zeigte, dass 66 Prozent aller ME-Patient:innen glauben, ihr Zustand habe sich durch die medizinische „Hilfe“ sogar verschlimmert.
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Auf Trinity trifft das definitiv zu. „Ärzt:innen verstehen die Krankheit einfach nicht“, erzählt sie. „Nach meinen Erfahrungen vertraue ich nicht mehr darauf, dass sich die Ärzt:innen wirklich richtig Mühe geben, mir zu helfen. Ich manage meine Krankheit größtenteils alleine.“ Auch Sonya Chowdhury, Leiterin von Action for ME, erzählt, dass sie oft von verzweifelten Patient:innen hört, die wieder und wieder von Ärzt:innen enttäuscht wurden. 
Ein Teil des Problems liegt darin, dass selbst die Ärzt:innen, die die absolut realen körperlichen Aspekte der Krankheit anerkennen, sie oft mit normaler Müdigkeit gleichsetzen. Auf R29-Anfrage hatte die britische Hilfsorganisation ME Association dazu einen deprimierenden Vergleich: „Der Unterschied zwischen ME und normaler Müdigkeit ist, als würde man eine Dusche mit dem Ertrinken vergleichen.“
Und nun haben wir also auch Long COVID, von dem Schätzungen zufolge jede:r zehnte Corona-Erkrankte betroffen sind. Das sind in Deutschland mehr als 350.000 Menschen, die sich nie vollständig von ihrer akuten COVID-19-Infektion erholen. Betroffene beklagen sich über eine lähmende Erschöpfung bzw. Fatigue als häufigstes Symptom, gefolgt von Kurzatmigkeit, Muskelschmerzen und einem Verlust des Geruchssinns.
Long COVID und ME sind postvirale Erkrankungen mit fast denselben Symptomen; in beiden Fällen infizieren sich Betroffene mit einem Virus, von dem sie sich nicht erholen. Und genau deswegen kann das öffentliche Bewusstsein für Long COVID jetzt den ME-Patient:innen helfen. 
Das findet auch Dr. David Strain, klinischer Dozent an der britischen Exeter Medical School und Mitglied des NHS Long COVID Committee. Er erzählt mir, dass die Aufmerksamkeit für Long COVID der Anstoß sein kann, den wir brauchen, um ME endlich ernst zu nehmen und hoffentlich irgendwann eine Behandlungsmöglichkeit zu entwickeln, die die Leben der Betroffenen verbessert. „Wir untersuchen eine große Gruppe an Leuten mit postviraler Fatigue“, sagt Dr. Strain. „Der einzige Unterschied zu Long COVID besteht darin, dass wir dabei genau wissen, welches Virus der Auslöser war. Dadurch sind wir dem Ziel schon etwas näher, zu verstehen, wer Long COVID bekommt und wer nicht“, erklärt er. Andererseits, betont er, haben Ärzt:innen weiterhin kein klares Bild davon, welche Viren die ME auslösen können. Das liegt daran, dass die Forschung zu der Krankheit chronisch unterfinanziert ist und die Medizin bisher keinen Test entwickelt hat, um die verschiedenen viralen Infektionen zu ermitteln, die zu der Langzeiterkrankung führen können.
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Aber was wissen wir denn bisher darüber, wer am wahrscheinlichsten von Long COVID betroffen ist? Dr. Strain zufolge scheint das genau dieselbe Gruppe an Menschen zu sein, die am ehesten an ME erkrankt: Frauen – und vor allem Frauen, die schon unter einer Autoimmunkrankheit wie Asthma oder Dermatitis leiden. Dazu kommt, dass Frauen prinzipiell anfälliger für Autoimmunkrankheiten sind, erklärt Dr. Strain. Das liegt unter anderem daran, dass Frauen zwei X-Chromosomen, Männer aber nur eines haben. X-Chromosomen lösen Immunantworten im Körper aus; mehr X-Chromosomen zu haben, erhöht also die Wahrscheinlichkeit, dass das Immunsystem überreagiert und sich selbst angreift. 
Während immer mehr Corona-Patient:innen Long COVID entwickeln, fällt den Ärzt:innen auf, dass dieselben Leute dafür anfällig zu sein scheinen wie bei ME – ein starkes Argument dafür, nach der Pandemie beide Erkrankungen zusammen zu untersuchen. Erste Schritte wurden dazu in Deutschland schon unternommen: Die Charité Berlin und die Technische Universität München veranstalten im Oktober eine ärztliche Fortbildung zum Thema „Postvirale Erkrankungen: ME/CFS und Long COVID“, und die Initiative „Long COVID Deutschland“ kämpft aktuell mit einer Petition an den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Anja Karliczek, die Bundesministerin für Bildung und Forschung, um eine bessere Betreuung und Anerkennung von Betroffenen sowie dafür, die Krankheit besser zu erforschen.
Diese Forschung ist dringend nötig. „Wenn wir herausfinden können, welcher Antikörper die Fatigue-Symptome auslöst, können wir daran arbeiten, diesen spezifischen Antikörper zu bekämpfen“, erklärt Dr. Strain. „Gegen einen bekannten Antikörper können wir gezielte Behandlungsmöglichkeiten entwickeln. Da müssen wir hinkommen.“
Long COVID hat glücklicherweise eine ganze Forschungswelle losgetreten, weil das Syndrom im großen Stil bewiesen hat, was ME-Betroffene und -Spezialist:innen schon seit Jahren predigen: Es gibt ein medizinisches Phänomen, bei dem sich Menschen mit Viren infizieren und sich nie wieder erholen. Zwar haben wir nach wie vor keinen Test, mit dem sich diese postviralen Erkrankungen nachweisen ließen – real sind sie aber trotzdem. „Viele Menschen mit ME sind jetzt verärgert, weil sie schon seit Jahren von ihrer Krankheit erzählen und plötzlich Long COVID um die Ecke kommt, dessen Betroffene dieselben Symptome haben, aber ernst genommen werden und Aufmerksamkeit bekommen“, sagt Dr. Strain. „Ich kann total verstehen, wieso sie das aufregt.“ Diese Aufmerksamkeit dürfte sich aber auch auf ME-Betroffene übertragen, hofft Chowdhury. 
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Wenn du eine Krankheit hast, für die wir noch keinen Test haben, ist es für viele Ärzt:innen leichter, zu behaupten, mit dir sei alles in Ordnung, anstatt zuzugeben, dass sie es einfach nicht besser wissen. Im Medizinstudium lernt man leider nicht, ‚Ich weiß es nicht‘ zu sagen.

Dr. David Strain
„Wir denken endlich gemeinsam über postvirale Erkrankungen und über das Trauma nach, das ein Virus im Körper hinterlässt“, sagt sie. „Das heißt, wir können jetzt an einem besseren Verständnis dafür arbeiten – auf wissenschaftlicher, physiologischer Ebene –, warum sich manche Menschen erholen und manche eben nicht.“ 
Gleichzeitig hat das Bekanntwerden von Long COVID auch vielen ME-Betroffenen zu einer Diagnose verholfen. Chowdhury erzählt, dass Action for ME in den letzten Monaten immer häufiger von Erkrankten kontaktiert wird, die in den Medien von Long COVID erfahren und darin ihre eigenen postviralen Symptome erkannt haben. Die stammen meist von einem anderen Virus, helfen den Betroffenen aber dabei, eine ME-Diagnose zu bekommen. 
Während ME-Patient:innen also größtenteils von der Long-COVID-Bekanntheit profitieren, sieht es andersrum negativer aus. „Long-COVID-Betroffene sehen, wie schlecht ME-Patient:innen behandelt werden, und versuchen deswegen, sich von der stigmatisierten Krankheit zu distanzieren“, erklärt Chowdhury. 
Für diese schlechte Behandlung von ME-Betroffenen gibt es aber laut Dr. Strain einige plausible Gründe. Zuallererst glauben viele Ärzt:innen, die „Endstufe der Medizin“ erreicht zu haben – sprich: Sie glauben, alles über Medizin zu wissen. „Uns wird immer wieder erzählt, dass moderne Ärzt:innen für alles die besten Tests entwickelt hätten und es quasi keine Arbeit mehr gebe“, erzählt er. „Das heißt, wenn du eine Krankheit hast, für die wir noch keinen Test haben, ist es für viele Ärzt:innen leichter, zu behaupten, mit dir sei alles in Ordnung, anstatt zuzugeben, dass sie es einfach nicht besser wissen. Im Medizinstudium lernt man leider nicht, ‚Ich weiß es nicht‘ zu sagen“, sagt er. Daher fühlen sich viele Ärzt:innen unwohl dabei, Erkrankungen zu behandeln, die sie nicht eindeutig diagnostizieren können. „Das Problem liegt nicht bei den Patient:innen“, betont er. „Sondern bei den Ärzt:innen.“
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Das ist nicht neu, sondern ließ sich schon in den 1980ern beobachten, als viele Leute am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankten und sich davon nicht erholten. Ihr ME wurde daraufhin abwertend als „Yuppie-Grippe“ abgestempelt. „Die Ärzt:innen beschlossen, das sei einfach eine Gruppe Frauen, die krank wurden, danach gerne eine Pause machen wollten und einfach den Rest ihrer Leben im Bett verbrachten“, erzählt Dr. Strain. Es macht mich wütend, das zu hören, weil es nur eines von viel zu vielen Beispielen des enormen Sexismus in der Medizin ist – und nur eines von viel zu vielen Beispielen für Krankheiten, die unterbehandelt oder stigmatisiert werden, weil sie mehr Frauen als Männer betreffen
Dr. Strain zufolge ist es ein schwerer Kampf, diese Stigmata zu überwinden – aber Long COVID könnte daran etwas ändern. „Die Pandemie hat uns der Tatsache gegenüber die Augen geöffnet, dass ein ‚normales‘ Testergebnis nicht automatisch bedeutet, dass jemand gesund ist.“ 
Andererseits sind sich Dr. Strain und Chowdhury darin einig, dass ebenfalls das Risiko besteht, Long COVID könnte den Alltag von ME-Betroffenen sogar noch weiter erschweren; beide haben bereits beobachtet, dass das ME-Stigma zu Long COVID rüberschwappt und sich daher, wie bereits erwähnt, viele Patient:innen von der schambehafteten ME distanzieren wollen. Das zeigt mir aber vor allem eins: Wir müssen das Stigma rund um ME mehr und stärker denn je bekämpfen – und offen über die damit verbundenen Symptome sprechen.
„Wir haben gerade eine einmalige Gelegenheit, postvirale Krankheiten zu verstehen, und ich bin enttäuscht darüber, dass nicht mehr Gelder in ME fließen“, sagt Chowdhury. „Bald ist es zu spät, und wenn die nächste Pandemie kommt, sind wir wieder nicht gut genug darauf vorbereitet. Lasst uns diese Chance nicht verpassen.“

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