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Wie Instagram aus meiner chronischen Krankheit Profit schlägt

Illustration: Vero Romero.
In den letzten vier Jahren habe ich quasi alles ausprobiert, von dem mir irgendjemand erzählt hat, es würde mir helfen: CBD, Infrarot-Sauna, Akupressur-Matten, Duftkerzen, Memory-Foam-Kissen… die Liste ließe sich endlos weiterführen. Unsere hyperproduktive Kultur will uns einreden, es gebe für alles eine Lösung – selbst für chronische Krankheiten. Wenn ich mir den Boden meines Schlafzimmers jetzt aber mal so ansehe, muss ich da widersprechen: Die ganzen Geräte, Tools, Nahrungsergänzungsmittel und jede Menge Plastik sagen mehr als tausend Worte. Einiges davon hat geholfen, vieles nicht – aber hinter jedem dieser Käufe steckte tiefe Verzweiflung. 
So viele der Produkte, die ich gekauft habe, habe ich über Social-Media-Kanäle entdeckt – ob nun in Form von Empfehlungen kranker Freund:innen, die ich online kennengelernt habe, auf Seiten, die sich der Hilfe gegen Endometriose oder ME/CFS verschrieben haben oder, sehr oft, über gesponserte Instagram-Werbung. Ich versuche, mich für diese ganzen Käufe nicht allzu schuldig zu fühlen, weil ich in vielerlei Hinsicht von der Medizin im Stich gelassen wurde. Nicht mal Privatspezialist:innen, denen ich viel Geld gezahlt habe, konnten mir weiterhelfen. Anstatt mich aber damit abzufinden, dass meine Beschwerden wohl einfach niemals nachlassen werden, ist es ja wohl absolut verständlich, dass ich mich nach Alternativen umgesehen habe. In dieser verletzlichen Lage bin ich ein leichtes Opfer für Pseudowissenschaften – oder besonders ehrgeiziges Marketing.
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Olive ist 23 Jahre alt und lebt mit komplexen chronischen Krankheiten. Sie hat Refinery29 von ihrer Erfahrung erzählt, zur Zielscheibe von Instagram-Ads zu werden, die ihren gesundheitlichen Zustand schamlos ausnutzen. „Ich interessiere mich nicht für die Werbung, aber sie ist überraschend genau auf meine Symptome zugeschnitten. Manchmal drückt mir das extrem auf die Stimmung. Dabei nutze ich Social Media eigentlich, um zu entspannen und mich von meinem Körper zu lösen, wenn ich mich gerade besonders krank fühle oder starke Schmerzen habe.“

Wenn ich Werbung für Nahrungsergänzungs- oder ‚Heilmittel‘ angezeigt bekomme, kommen bei mir die Zweifel: Tue ich nicht genug für mich selbst? Das fühlt sich irgendwie übergriffig an. Sogar mein Handy stempelt mich als chronisch krank ab.

OLIVE
Wie kann es sein, dass diese Werbefirmen mehr über unsere Körper zu wissen scheinen als wir selbst? Leanne Maskell, Expertin für rechtspolitische Fragen der geistigen Gesundheit, erklärt: „Während jeder Sekunde, die du online verbringst, können Social-Media-Plattformen deine Daten sammeln und so ein Profil über dich erstellen. Das wird dann von Werbefirmen ausgenutzt, um dich anhand deiner ‚Interessen‘ zu erreichen. Wenn du also zu einer bestimmten Krankheit recherchiert hast oder einer Online-Supportgruppe angehörst, stempeln dich Werbetreibende als ‚an diesem Thema interessiert‘ ab.“ Leanne erinnert uns auch daran, dass „Algorithmen kein Moralgefühl haben“.
Viele sind der Meinung, es würde der geistigen Gesundheit schaden, viel Zeit im Internet zu verbringen. In manchen Fällen mag das auch sicherlich stimmen – viele chronisch kranke Menschen nutzen aber zum Beispiel Instagram, um andere Erkrankte kennenzulernen, sich durch geteiltes Leid zu trösten und sich Tipps einzuholen, um das Leben ein bisschen einfacher zu gestalten. Wenn wir aber genau dort mit Werbung bombardiert werden, die es auf die verletzlichsten Seiten unserer Identität abgesehen hat, entsteht dadurch leicht das Gefühl, wir seien irgendwie „mangelhaft“. Olive meint: „Wenn ich Werbung für Nahrungsergänzungs- oder ‚Heilmittel‘ angezeigt bekomme, kommen bei mir die Zweifel: Tue ich nicht genug für mich selbst? Das fühlt sich irgendwie übergriffig an. Sogar mein Handy stempelt mich als chronisch krank ab. Ich denke ohnehin immer an meine Krankheit, und dann lese ich diese Worte auch noch überall. Manchmal wünsche ich mir einfach eine Pause.“
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Ob du selbst krank bist oder nicht: Die meisten von uns mögen hübsche Dinge. Das lässt sich sogar wissenschaftlich erklären. Ästhetik spielt eine große Rolle in unserem Wunsch danach, etwas zu kaufen. Wir wissen außerdem, dass ein Kauf eine chemische Reaktion im Gehirn auslöst – eine Dopamin-Ausschüttung, durch die wir uns gut fühlen. Wenn zu diesem Wunsch nach neuen, hübschen Dingen dann auch noch das unterschwellige Gefühl kommt, selbst irgendwie „nicht genug“ zu sein, kann es schnell passieren, dass sich eine kranke Person auf der Suche nach einer (nicht existenten) Lösung dazu hinreißen lässt, jede Menge Zeug zu kaufen, das vermeintlich helfen soll.
Der:die 19-jährige Tam erlebte genau das im letzten Jahr, als er:sie verzweifelt nach einer Hilfe gegen seine:ihre zu der Zeit besonders starken Endometriosebeschwerden suchte. Er:sie nutzte damals schon ein TENS-Gerät (ein häufig genutztes, relativ günstiges Gerät zur Elektro-Schmerztherapie, das es schon Jahre vor Instagram-Influencing gab). Tam bekam auf Instagram Werbung für „Livia“ angezeigt – ein tragbares Gerät, das angeblich „Menstruationsschmerzen abschalten“ könne, natürlich „wissenschaftlich erwiesen“. Tam war sofort interessiert. Ein Livia-Gerät nutzt „elektronische Mikro-Impulse“, um gegen Schmerzen vorzugehen, und kostet 149 Euro – verglichen mit den rund 45 Euro, für die du ein „normales“ TENS-Gerät sonst bekommst. Livia behauptet, das Gerät nutze „hochmoderne Technologie“ und könne „selbst die schwersten Menstruationsschmerzen“ lindern. Tam bemerkte aber keinen Unterschied im Vergleich zu seiner:ihrer alten Maschine. Er:sie war von Werbung überzeugt worden, die Anwender:innen verspricht, dieses neue Gerät könne Leben verändern und Schmerzen nehmen. In vielen Fällen, wie in Tams, bezahlen die Betroffenen aber horrende Preise für Geräte, die sie eigentlich schon besitzen – angeblich für ein „besseres“, „neueres“, „fortschrittlicheres“ Modell.
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Dabei kann eine chronische Krankheit ohnehin schon teuer genug sein. Ciska ist 25 Jahre alt und lebt mit diversen chronischen Krankheiten. Sie hat mit Refinery29 über Produkte gesprochen, die via Social Media als die Lösung angepriesen werden, auf die wir alle verzweifelt gewartet haben. „Ich finde es ekelhaft, dass diese Firmen einen Profit aus verzweifelten Menschen mit Krankheiten oder Be_hinderungen schlagen. Letztes Jahr ging es mit meiner Gesundheit richtig bergab, und ich war bereit, alles zu kaufen, was mir irgendwie helfen könnte. Dadurch wurde das Internet für mich zu einem gefährlichen Ort, weil dich diese Werbung einfach so leicht um den Finger wickeln kann.“ Ciska beschreibt ihre Situation selbst als privilegiert. Sie kann arbeiten und verdient genug Geld, um sich solche Produkte leisten zu können. Sie weiß aber auch, dass nicht jede:r in derselben Lage ist. „So viele Menschen mit Be_hinderungen haben weniger Geld als ich und geben ihres für solchen Quatsch aus, weil sie verzweifelt sind.“
Dabei ist diese Werbung nicht mal immer als solche gekennzeichnet. Erst vor wenigen Monaten beschloss der Bundesgerichtshof, dass Influencer:innen ihre Werbung für Produkte oder Dienstleistungen in Deutschland nicht immer als „Ad“ angeben müssen; konkret heißt das, dass sie nur dazu verpflichtet sind, wenn sie dafür eine Gegenleistung vom beworbenen Unternehmen enthalten. Das gilt aber, wie gesagt, für Deutschland. „Die Gesetze eines Landes gelten vielleicht nicht in anderen, den Content bekommen wir aber trotzdem angezeigt. [Instagram] ist wie der wilde Westen, und die Gesetzgebung kommt da kaum hinterher“, betont Leanne.
Dieses Problem ist nicht neu, aber wie mit allem anderen in der Online-Welt hat es sich inzwischen zu etwas noch viel Komplizierterem entwickelt, das sich nicht immer von Regeln und Gesetzen im Zaum halten lässt. Leanne sagt: „Obwohl es gezielte Werbung schon seit Jahren in verschiedenen Formen gibt, kann es gefährlich werden, wenn sie sich auf Algorithmen stützt, die 24 Stunden am Tag mehr über uns erfahren – und die uns so lange mit ihrem Content bombardieren können, bis wir irgendwann nachgeben.“
Aktuell liegt es an uns Konsument:innen – und in meinem Fall auch den chronisch kranken Instagram-User:innen –, achtsamer zu scrollen. Es fühlt sich unfair an, aber nur so lässt sich unser Bankkonto wirklich schützen. Wie Ciska meint: „Ich vertraue heute nur noch den Reviews anderer kranker Menschen. Ich versuche immer daran zu denken, dass ich vermutlich niemals ein echtes lebensveränderndes Heilmittel finden werde – für kein Geld der Welt.“

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