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Was passierte, als meine Antidepressiva plötzlich nicht mehr wirkten

Foto: Meg O'Donnell.
Triggerwarnung: Im folgenden Artikel geht es unter anderem um Depressionen und suizidale Gedanken.
Die 25-jährige Siân bekam 2018 zum ersten Mal Antidepressiva verschrieben. Nachdem sie entlassen worden war, fiel sie in ein tiefes Loch und brauchte, wie sie R29 erzählt, „etwas Drastisches“. Weil sie bisher keine guten Erfahrungen mit kognitiver Verhaltenstherapie gemacht hatte, wollte sie Antidepressiva mal eine Chance geben. Sie bekam also von ihrer Hausärztin Sertralin verschrieben.
„Als ich mit der Einnahme anfing, merkte ich sofort einen Unterschied“, sagt sie. „Ich war total unter Strom. Ich konnte nicht schlafen, weil mir so viele Ideen durch den Kopf gingen. Ich blieb dann die ganze Nacht wach und schrieb alles auf. Es war, als sei meine schwarzweiße Welt plötzlich völler Farbe. Das war so ein Auftrieb!“ Nach einer Woche legte sich das Ganze aber wieder. „Ich weiß noch, dass es sich so anfühlte, als sei ich prinzipiell besser drauf. Gleichzeitig sorgten manche Trigger bei mir aber immer noch dafür, dass sich meine Gedanken im Kreis drehten.“
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Im Januar 2021 veränderte sich ihr Geisteszustand erneut. Der Höhenflug der letzten Jahre ließ langsam nach, und dieselben Situationen, die ihre depressiven Schübe anfangs ausgelöst hatten, führten jetzt zu starken Suizidgedanken und Verzweiflung. „Mir ging es so schlecht, dass ich echt Angst bekam. Die Person, mit der ich damals zusammen war, sagte mir, ich müsse unbedingt etwas dagegen unternehmen. Also fing ich eine Therapie an.“
Sertralin ist ein sogenannter Selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitor (SSRI), eine weitläufig verschriebene Form von Antidepressiva. Jeder SSRI findet in der Behandlung psychischer Erkrankungen unterschiedliche Anwendungen; meist werden sie aber gegen Depressionen und Angststörungen eingesetzt. Die Verwendung von Antidepressiva wird dabei immer geläufiger: Inzwischen werden laut der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) in Deutschland rund siebenmal so viele derartige Mittel verschrieben wie noch vor 25 Jahren. Damit ließen sich 3,8 Millionen Menschen ein Jahr lang mit Tabletten versorgen. 
Nun zur schlechten Nachricht: Obwohl SSRI die dabei am häufigsten verschriebenen Mittel sind, gibt es keine Garantie dafür, dass sie ihre Wirkung im Laufe der Zeit so gut aufrechterhalten wie zu Einnahmebeginn. Das kann diverse Gründe haben, erklärt der Psychiater Ian Nnnatu vom Priory Hospital North London.
„Eine mögliche Erklärung dafür ist beispielsweise eine zugrundeliegende Erkrankung, die dafür sorgt, dass sich die Depression verschlimmert; vielleicht beeinflusst auch ein neu eingenommenes Medikament die Wirkung der Antidepressiva. Dieses neue Medikament kann auch die Depression an sich verschlimmern“, sagt er. Natürlich ist es auch möglich, dass die Depression an sich stärkere Symptome entwickelt, zum Beispiel durch Faktoren wie Stress.
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Zusätzlich können hier auch Alkohol- oder Drogenmissbrauch, geistige Erkrankungen wie eine bipolare Störung oder sogar der Alterungsprozess eine Rolle spielen. „Letztlich ist jeder Mensch anders. Vielleicht sorgt nur einer der oben genannten Faktoren dafür, dass die SSRI nicht mehr (so gut) wirken – oder aber eine Kombination aus mehreren Faktoren.“ 
Es kann auch sein, dass die Symptome ohne erkennbaren Grund zurückkehren. Das nennt sich dann „Tachyphylaxie“. Leider sind sich Ärzt:innen auch heute noch nicht sicher, wie weit verbreitet es ist, dass diese Medikamente mit der Zeit weniger gut wirken – und warum. Dr. Mark Horowitz, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Psychiatrie am University College London, erzählt gegenüber R29, das liege an einem Mangel an Langzeituntersuchungen. Die meisten Studien zur Wirksamkeit von Antidepressiva dauern lediglich sechs bis zwölf Wochen – meist nur so lange, bis die Zulassung da ist. 
Was wir aber wissen: Gegen Wirkstoffe, die das Gehirn beeinflussen (von Koffein über Nikotin bis hin zu Opioiden), entwickeln wir mit der Zeit häufig eine Toleranz – sprich: Wir „gewöhnen“ uns an ihre Wirkung. Mark fasst das so zusammen: „Dieselbe Dosis erzielt im Laufe der Zeit eine schwächere Wirkung. Das heißt, dass du irgendwann eine höhere Dosis brauchst, um die Wirkung aufrechtzuerhalten.“ Ihm zufolge schätzen Studien zu Tachyphylaxie diesen Wirkungsverlust als ziemlich weit verbreitet ein; er betreffe rund 25 bis 50 Prozent aller Patient:innen.
Wie kommt es dazu? Die Theorie dahinter bezieht sich auf die Wirkung von Serotonin im Gehirn. „Antidepressiva erhöhen den Serotoninspiegel im Gehirn, und anhand von Hirn-Scans wissen wir, dass die Serotoninrezeptoren in Reaktion darauf weniger empfindlich werden“, erklärt Mark. Weil der Körper gern ein Gleichgewicht erhält (indem er dich beispielsweise bei heißen Temperaturen runterkühlt), vermutet die Wissenschaft, dass sich ein ähnlicher Prozess auch bei der Körperreaktion auf SSRI abspielt. „Wenn dieses Medikament abnormale Serotoninwerte im Gehirn produziert, wird das Gehirn daraufhin weniger serotoninempfindlich. Das ist vermutlich einer der Mechanismen, durch die wir eine Toleranz gegen Antidepressiva entwickeln.“
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Mark ergänzt außerdem, dass unser „Allgemeinwissen“ zur Depression – sprich: dass sie durch einen niedrigen Serotoninspiegel ausgelöst werde – gar nicht wissenschaftlich belegt ist. „Eine Depression bedeutet nicht automatisch einen Serotoninmangel. Wenn wir Betroffenen also Antidepressiva verabreichen, sorgen wir damit für einen abnormal hohen Serotoninspiegel im Gehirn. Darauf reagiert das Gehirn womöglich – und das führt dann zur Toleranz.“
Keine Frage: SSRI können eine lebensrettende Wirkung haben und sollten daher weiter zur Behandlung eingesetzt werden. Es kann aber problematisch sein, wenn sie die vorrangige – oder gar einzige – Behandlungsform sind.

Ich habe in den ersten Monaten der Therapie eine stärkere geistige Verbesserung gespürt als während der jahrelangen SSRI-Einnahme. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten glücklich und zufrieden.

Siân
Die 27-jährige Bex bekam 2018 Citalopram verschrieben, nachdem sie mehrere traumatische Erlebnisse durchgemacht hatte und unter Depressionen und Angststörungen litt. Sie stellte allerdings fest, dass die Nebenwirkungen des Medikaments (insbesondere die emotionale Abstumpfung) im Vergleich mit ihren positiven Wirkungen überwogen. Das verschlimmerte sich zusätzlich, als sie das Mittel absetzte und später während einer Therapie erneut verschrieben bekam. Die positive Wirkung, die sie bei der ersten Einnahme noch gespürt hatte, war plötzlich nicht mehr da. Sie erzählt: „Ich gehe heute regelmäßig zur Therapie und möchte mir eine neue Diagnose einholen. Ich nehme jetzt seit zweieinhalb Monaten gar keine Antidepressiva mehr ein. Es geht mir nicht so gut – aber bevor ich wieder das falsche Mittel nehme, verzichte ich lieber komplett darauf. Obwohl mir meine Ärzt:innen neue Medikamente verschreiben wollten, habe ich beschlossen, nichts Neues auszuprobieren, bevor ich weiß, was das Problem ist. Ich habe das Gefühl, ich sollte nicht etwas behandeln, das ich noch nicht mal richtig begreife.“
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Bei Leila, 38, setzte die Toleranz erst nach Jahren der Einnahme ein. „Ich nehme schon seit Beginn meines Erwachsenenlebens Citalopram ein – ich glaube, zum ersten Mal, als ich 18 war“, erzählt sie. „Die Tabletten haben mir definitiv größtenteils geholfen. Ich versuchte, sie kurz vor der Pandemie abzusetzen, und war schon auf 20 Milligramm runter. Als ich dann aber entlassen wurde und meine Welt quasi zusammenbrach, musste ich die Dosis wieder erhöhen. Seitdem fühle ich mich phasenweise sehr depressiv. Ich hatte das Gefühl, dass die Pillen einfach nicht mehr wirkten.“
Weil sie ihre Dosis nicht weiter erhöhen kann (40 Milligramm ist das Maximum für Citalopram), fühlt sie sich wie gefangen, sagt sie. Sie hat es schon mit einer Therapie versucht und fragte jetzt ihre Hausärztin, wie es weitergehen soll.
„Ich habe nie besonders gute Erfahrungen mit der hausärztlichen Behandlung für meine Depression gemacht, aber letzte Woche habe ich in den sauren Apfel gebissen und einen Termin vereinbart. Die Ärztin wollte mir nur ungern ein neues Medikament verschreiben, weil ich das alte jetzt schon so lange einnehme. Sie meinte, sie würde mit ihren Kolleg:innen drüber sprechen – ich habe aber seitdem nichts mehr von ihr gehört. Jetzt stehe ich auf einer Warteliste für eine Therapie, die Wartezeit beträgt aber drei Monate.“
Für Siân war es jedenfalls „lebensverändernd“, eine neue Therapie anzufangen. „Ich habe in den ersten Monaten der Therapie eine stärkere geistige Verbesserung gespürt als während der jahrelangen SSRI-Einnahme. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten glücklich und zufrieden. Sobald mir das auffiel, wollte ich das unbedingt so behalten – also befolgte ich die Ratschläge meiner Therapeutin. Dadurch konnte ich die kreisenden Gedanken aufhalten, indem ich einfach ein bisschen lieber mit mir selbst umging.“
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Leider konnte Siân die Therapie nicht unbegrenzt fortsetzen – und ohne die regelmäßigen Sitzungen sind ihre depressiven Schübe zurückgekehrt. Trotzdem sagt sie: „Was ich in der Therapie gelernt habe, habe ich ja immer noch im Kopf, und ich kann mich heute leichter aus meinem Tief ziehen oder es zumindest besser überstehen.“ Sie ergänzt: „Ich bin so froh darüber, Sertralin eingenommen zu haben, weil es sich wie ein wichtiger Schritt anfühlte, um einzusehen, dass ich Hilfe brauche. Das wiederum hat mich zu viel besseren Behandlungsmethoden geführt.“
Die Anwendung von Antidepressiva als erste Behandlungsmethode für die meisten Formen geistiger Beschwerden sorgt nicht direkt für eine Tachyphylaxie, aber die Tatsache, dass sie so oft ohne zusätzliche therapeutische Behandlung verschrieben werden, heißt eben auch häufig, dass Betroffene sie über eine lange Zeit hinweg einnehmen. Obwohl Medikamente und Therapien zwar ähnliche kurzfristige Effekte haben, erklärt Mark, dass „eine Therapie langfristig effektiver ist als eine medikamentöse Behandlung. Und das liegt vermutlich an einer Kombination aus verschiedenen Gründen: Erstens entsteht womöglich mit der Zeit eine Toleranz gegen die Medikamente, und zweitens schenkt dir eine Therapie Fähigkeiten, die du trainieren und verbessern kannst, anstatt dagegen immun zu werden.“
Wenn du selbst SSRI einnimmst und den Eindruck hast, dass sie nicht mehr so effektiv wirken wie früher, sollte deine erste Anlaufstelle deine (hausärztliche und/oder psychiatrische) Praxis sein, um eventuelle Einflussfaktoren auszuschließen – wie zum Beispiel Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder sich verändernde Lebensumstände. Von diesem Punkt aus kannst du dir dann eine neue Behandlungsmethode suchen, indem beispielsweise deine momentane Dosis erhöht wird, du ein anderes Medikament verschrieben bekommst oder es ganz absetzt, am besten in Kombination mit einer anderen Behandlungsform. Deine Bedürfnisse sind so individuell wie du selbst, und obwohl es schwer sein kann, einen Therapieplatz zu bekommen, solltest du dich langfristig darum bemühen – ob als begleitende Behandlung zu deinen Medikamenten oder gar als einzige Behandlungsform. 

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