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„Ich verdiene kein Burnout“: Wenn du dich beim Entspannen schuldig fühlst

Ana Lydia Ochoa-Monaco weiß, wie sich ein Burnout anfühlt: überwältigende Müdigkeit, die sich genau in den Momenten zu verschlimmern scheint, wenn sie gerade eigentlich besonders produktiv sein sollte. Sie weiß auch, wie das Burnout aussieht: Haarklumpen, die sich im Abfluss verfangen; Pickel auf der Brust und am Bauch. „Und das Lustige ist, dass ich all das zwar als Burnout erkenne, und trotzdem einfach weitermache wie gehabt“, sagt sie.
Und dennoch: Selbst wenn ihr das Burnout quasi direkt aus dem Spiegel entgegenstarrt, listet eine hartnäckige, schrille Stimme in ihrem Kopf all die Gründe auf, warum sie es gar nicht verdient, sich so zu fühlen. Wie kann sie denn ausgebrannt sein, wenn sie nicht so hart arbeitet wie ihre Eltern, die aus einem anderen Land hierher gezogen sind, um ihr ein schöneres Leben zu ermöglichen? Wie kann sie es sich erlauben, ausgebrannt zu sein, wenn sie in ihrer Filmproduktionskarriere Lichtjahre hinter ihren Kolleg:innen liegt (ganz egal, dass sie erst später in dieser Branche angefangen hat)? Eigentlich lässt sich das alles ganz easy zusammenfassen: Sie hat ja noch nicht genug getan, um sich das Burnout „verdient“ zu haben, behauptet die Stimme.
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Das Gefühl, dass sie eigentlich noch mehr tun könnte, spukt ihr immer im Hinterkopf rum – vor allem, wenn Ana Lydia versucht, sich zu entspannen. Sie musste einen Kredit aufnehmen, um ihre zweite Karriere in der Filmbranche zu starten; einen Kredit, der sich jetzt auf umgerechnet 110.ooo Euro beläuft.
„Meine Gedanken drehen sich im Kreis“, sagt sie. „Habe ich heute schon genug erreicht, um zu einer vernünftigen Zeit schlafen zu gehen? Habe ich bei meinen Vorgesetzten nachgefragt, ob ich nicht noch irgendwas machen soll?“ Sie hat dauernd das Gefühl, ihre E-Mails sofort beantworten und immer erreichbar sein zu müssen. Letztes Jahr hat sie ihre eigene Geburtstagsparty früher verlassen, um nach Hause zu fahren und zu arbeiten. Für sie hängen Selbstwertgefühl und Produktivität eng miteinander zusammen. „Ich muss aktiv und produktiv bleiben, um meinen Wert zu beweisen und der Welt zu zeigen, dass ich alles perfekt schaffe, obwohl ich eine dicke Latina mit gesundheitlichen Problemen bin.“
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Warum ist es manchmal so schwer, sich einfach zu entspannen? Warum haben wir das Gefühl, uns immer rechtfertigen zu müssen, wenn wir mal eine Pause einlegen? Warum empfinden wir das nur als akzeptabel, wenn wir so kurz vorm Burnout stehen – eine Grenze, die so schwammig definiert ist, dass sie gleichzeitig immer noch einen Millimeter entfernt scheint, und uns doch jeden Tag ein bisschen mehr Energie entzieht. 
In gewisser Art ist uns das so antrainiert. In unserer westlichen Kultur feiern wir die harte Arbeit und lieben es, die Erwartungen noch zu übertreffen – ganz egal, was es uns persönlich abverlangt. Uns wird immer wieder vermittelt: Um deine Träume zu erreichen, musst du mehr tun. Und dank des „Side Hustle“- und Startup-Hypes des letzten Jahrzehnts gibt es so etwas wie einen „Feierabend“ in den Köpfen vieler Leute heute gar nicht mehr.
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„Meistens wird harte Arbeit belohnt, und das beginnt schon mit guten Noten in der Schule. Deine Lehrer:innen und Eltern loben dich. Vielleicht bist du auch super in irgendeinem Sportverein, wo du ebenfalls wieder jede Menge Komplimente dafür bekommst, wenn du erfolgreich bist“, erklärt die Psychologin Dr. Rachel Cavallaro. „Wenn du immer wieder dafür gelobt wirst, dass du etwas gut kannst, hart arbeitest, dich anstrengst, begreifst du irgendwann, dass du herausstechen musst, um dir dieses Lob zu verdienen. Und um herauszustechen, musst du eben härter arbeiten.“
Die Psychologin und Psychiatrie-Professorin Dr. Billie Katz ergänzt: „Weil unser Selbstwert darin definiert ist, als wie wertvoll wir uns selbst betrachten, und Produktivität und Errungenschaften in unserem Selbstbild eine große Rolle spielen, ergibt es Sinn, dass Selbstwert und Selbstbild eng miteinander verbunden sind.“
Und wir sind darauf konditioniert, um jeden Preis zu schuften. „Wir haben nie gelernt, wann und wie wir aufhören, mal durchatmen und wirklich anerkennen sollten, was wir bisher eigentlich alles erreicht haben. Uns wird immer wieder eingeredet, dass es nicht gut ist, eine Pause zu machen. Es gilt immer: Du musst arbeiten, um produktiv zu sein“, erklärt die Therapeutin Erica Cuni, bekannt als „The Burnout Professor“. Dadurch vertieft sich das Schuldgefühl, wenn dann doch mal eine Pause nötig ist. Wenn wir so viel erreichen müssen, wie sollen wir dann je auf die Bremse treten?
Dieser Druck, immer abliefern zu müssen, kann sich auch in der Familie oder in der Gesellschaft als Ganzes zeigen. Denk nur mal an besonders fleißige Schüler:innen, die vielleicht von ihrer Familie oder sich selbst enormen Leistungsdruck vermittelt bekommen. Wenn sie scheitern, enttäuschen sie damit alle. Wenn das eigene Selbstwertgefühl an solche Bedingungen gebunden ist, musst du ständig Mühe investieren, um es aufrechtzuerhalten.
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Dieser gesellschaftliche Druck, Selbstwert und Produktivität zu verbinden, ist eine Konsequenz des Kapitalismus. Der legt nämlich enormen Wert darauf, immer mehr zu tun, um immer neue, höhere Maßstäbe zu setzen. „In seinem Kern ist das ein System, das auf Investitionen setzt, um Profit daraus zu schlagen. Ist dieser Profit erreicht, wird erneut mehr investiert, um noch mehr Profit zu machen. Dieser Kreislauf endet nie“, erklärt Dr. Anders Hayden, Professor für Politikwissenschaft an der Dalhousie University. 

Why can it feel so difficult to rest? Why do we feel compelled to justify and explain ourselves when we take a break?

„Es ist ein System, in dem wir kein Gefühl für ‚genug‘ haben“, sagt er. Es ist schließlich nicht so, als würden Leute irgendwann einen gewissen Wohlstand erreichen und dann denken: Okay, jetzt haben wir’s geschafft, wir können uns entspannen. Der Druck bleibt bestehen. Denk nur mal drüber nach, wie wir alle das Gefühl hatten, wir müssten die Lockdown-Zeit nutzen, um eine neue Fähigkeit zu erlernen oder uns selbst anderweitig zu „verbessern“ – obwohl wir mitten in einer Pandemie steckten. 
Dieses kapitalistische Konzept von „mehr“ ist ziemlich abstrakt und lässt sich nur schwer in Worte fassen. Ganz egal, was du erreicht hast – es gibt immer noch „mehr“ zu tun, und dieser Standard bleibt immer außer Reichweite. Wenn du dann im Kampf um „Produktivität“ irgendwann an deine Grenzen stößt, kann sich das negativ auf dein Selbstwertgefühl auswirken.
Das ließ sich in den letzten zwei Jahren überall beobachten. Die Burnout-Zahlen schnellen in die Höhe: Eine Umfrage von Indeed hat ergeben, dass sich mehr als die Hälfte aller Teilnehmer:innen ausgebrannt fühlt (verglichen mit 43 Prozent vor Corona). Wer von zu Hause arbeitet, hat vielleicht den Eindruck, nicht die nötigen Ressourcen zu haben, um den eigenen Job effektiv machen zu können, oder hat Schwierigkeiten damit, Arbeit und Privatleben strikt auseinanderzuhalten, um die eigenen Akkus aufzutanken und einfach mal nicht erreichbar zu sein. Und Corona hat sich auch auf unsere Krankmeldungen ausgewirkt: Eine Studie von 2022 im Journal of Organizational Behavior hat erwiesen, dass sich kranke Angestellte schuldig dafür fühlen, sich einfach mal zu erholen, und sich einreden, sie seien nicht „schnell genug“ wieder fit.
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Obwohl viele von uns in diesem Kreislauf des verinnerlichten Kapitalismus gefangen sind, zeigt sich der besonders stark bei denjenigen, die auch noch unter zusätzlichen Stressfaktoren leiden – wie zum Beispiel gesellschaftlichen Hürden. 
Kinder von Immigrant:innen verspüren beispielsweise häufig einen starken Druck seitens ihrer Eltern, erfolgreich sein zu müssen. Der Stress, diesen Standards zu entsprechen, gibt vielen das Gefühl, mehr tun zu müssen. Für Ingrid, 35, deren Eltern aus dem Ausland kamen, ist das die traurige Realität. Als freiberufliche Redakteurin und Comedienne verlor sie zu Beginn der Pandemie viele wichtige Kund:innen. Sie musste ihr Business quasi neu aufbauen – ganz ohne Sicherheitsnetz.
„Vielen Kindern von Immigrant:innen wird vermittelt, sie müssten dauernd arbeiten“, sagt Ingrid. „Weil ihre Eltern so viele Opfer für sie erbracht hätten.“ Das führt zu der Erwartungshaltung, man müsse „arbeiten, arbeiten, arbeiten“, erklärt sie. „Das zeigt sich dann zum Beispiel, wenn du zu Hause sitzt und Netflix guckst. Eigentlich hast du deine ganze Arbeit schon erledigt, deine Wohnung ist sauber und ordentlich. Und trotzdem fühlst du dich schuldig, weil du an deinem Kaffee nippst und gerade mal nichts tust.“
Auch Neurodivergenz kann bei der Entstehung eines Burnouts und den mit Entspannung einhergehenden Schuldgefühlen eine Rolle spielen. Die 35-jährige freiberufliche Redakteurin Ashley Hubbard bekam mit 33 die Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Ihr ist heute klar, dass sie einen großen Teil ihres Burnout-Syndroms dieser Krankheit zu verdanken hat. „Ich verspreche und gebe oft zu viel. Ich halse mir zu viele Aufgaben auf, wodurch ich dann total erschöpft bin. Wenn ich all diesen Verpflichtungen nicht nachkommen kann, führt das dazu, dass ich mich schuldig und depressiv fühle – als hätte ich versagt.“
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Selbst wenn sie sich im Kalender Zeit freiräumt, um sich einfach mal zu entspannen, fühlt sie sich dafür schuldig. Ihre frustrierende Unfähigkeit zur Entspannung sorgt bei ihr dann für weiteren Stress. Weil sie ohne ADHS-Diagnose aufwuchs (was bei Frauen keine Seltenheit ist), hatte sie immer das Gefühl, faul oder planlos zu sein. ADHS verursacht Schwierigkeiten mit der Selbstorganisation und Zeiteinteilung; Betroffene fühlen sich daher oft dazu gezwungen, sich übermäßig anzustrengen, um Erwartungen zu erfüllen. Das gesellschaftliche Versagen, ADHS am Arbeitsplatz zu berücksichtigen, sollte nicht auf den Schultern der Betroffenen lasten.
Dieser dauernde Sprint gegen die eigenen Erwartungen und das Gefühl, sich des eigenen Jobs würdig beweisen zu müssen, sorgen für die Überzeugung, dass Entspannung und Pausen dazu führen könnten, dass man „abgehängt“ wird. Dabei weiß Ashley selbst, dass ihre Einstellung zur Entspannung keiner Logik folgt – das ist ja das Frustrierende. „Ich muss normalerweise einen Punkt erreichen, an dem ich komplett erschöpft bin und keine Aufmerksamkeit für meine Umwelt mehr aufbringen kann. In Wahrheit ist mir diese Umwelt natürlich total wichtig. Um zu überleben, muss ich diesen Teil meines Hirns aber eben manchmal abschalten.“
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Ein Langzeit-Burnout kann, wenn nichts dagegen unternommen wird, die eigene Produktivität und Energie langfristig drosseln. Daraus ergeben sich dann Gefühle der Traurigkeit, Hoffnungs- und Hilflosigkeit; viele Betroffene entwickeln einen zynischen Groll gegen die Welt, erklärt Dr. Katz. „Weil es Hinweise darauf gibt, dass ein besonders starkes Burnout auch körperliche (Erschöpfung, Stress, ein größeres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Bluthochdruck) und psychologische Folgen (Angststörungen, Depressionen, Reizbarkeit) haben kann, ist es sehr wichtig, das Burnout ernst zu nehmen und sich für dich selbst einzusetzen, wenn du es kommen spürst“, sagt sie. Sie meint, dass das dein Zeichen dafür sein sollte, dir eine Auszeit zu gönnen, während des Arbeitstags mehr Pausen einzulegen oder andere stressreduzierende Aktivitäten auszuprobieren.
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„Außerdem finde ich es wichtig, uns Räume zu schaffen, in denen wir unser Selbstwertgefühl stärken können – ob nun innerhalb unserer Freundschaften, Beziehungen oder Community. Der Druck, uns ausschließlich über unseren Job zu definieren, kann nämlich sehr stark sein“, ergänzt Dr. Hayden.
Über die individuellen Bemühungen gegen das Burnout hinaus sind außerdem strukturelle Veränderungen dringend nötig. Klar können wir selbst einiges unternehmen, um ein Burnout und die damit verbundenen Schuldgefühle zu bewältigen – letztlich ist das aber ein gesellschaftliches Problem. „Eine wichtige Lösung gegen die Tendenz zum Burnout wäre es zum Beispiel, das erschreckende Arbeitspensum runterzuschrauben, das uns der grenzenlose Kapitalismus beschert. Kein Arbeitsplatz sollte seine Angestellten überlasten. Zwar bieten viele Arbeitgeber:innen inzwischen Wellness-Programme an – doch haben die meisten Leute gar keine Zeit, um diese auch zu nutzen“, erklärt Dr. Hayden.
„Was uns durch die Forschung allmählich immer klarer wird, ist, dass wahre Produktivität nur dann möglich ist, wenn wir wissen, wann wir Ruhe brauchen – wann wir uns mal bewegen sollten, wann und wie wir uns um unseren Körper kümmern sollten, und wie wir unseren Geist gesund halten. Es geht nicht mehr darum, 24/7 zu schuften“, betont Cuni. Das sollten sich alle Arbeitgeber:innen vor Augen halten, um entsprechende Veränderungen in die Wege zu leiten.
Gleichzeitig müssen wir einsehen, dass es kein Wundermittel gegen unsere chronische Überarbeitung gibt. Mach dir – und anderen – daher bitte nicht so viel Druck. Ana Lydia fällt es trotz ihrer Erfahrungen schwer, sich selbst in der Prioritätenliste über ihre Arbeit zu stellen – vor allem während der Pandemie, während der sie Tagebuch schrieb, tägliche Achtsamkeitsübungen machte und zur Therapie ging, Zeitpläne erstellte und farbkodierte Kalender vollkritzelte, um das Gefühl zu haben, etwas zu schaffen.
„Rückblickend weiß ich, dass das total ungesund war. Stattdessen hätte ich diese Phase meines Lebens so betrachten sollen: Wenn ich irgendwas schaffe, super. Wenn nicht, habe ich es wenigstens geschafft, am Leben zu bleiben“, sagt sie heute.

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