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Können wir bitte aufhören, uns für Krankmeldungen schuldig zu fühlen?

Letztens schrieb ich im Homeoffice über ein Dutzend wichtiger E-Mails an einem Tag. Obwohl das nur ein Bruchteil der Menge an E-Mails war, die ich sonst so abschickte, zerbrach ich mir darüber kaum den Kopf; viel bedenklicher fand ich, dass ich mich danach überhaupt nicht mehr an die E-Mails erinnern konnte. Das lag daran, dass ich hohes Fieber hatte und an dem Tag quasi im Delirium war. 
Warum hatte ich mich nicht einfach krankgemeldet und eine automatische „Out of office“-E-Mail-Benachrichtigung eingestellt? Der rationale Teil meines Gehirns hat dafür keine Erklärung. Wer aber in der „Girlboss“-Ära aufgewachsen ist und schon häufiger Sprüche wie „Sei froh, dass du überhaupt einen Job hast“ zu hören bekommen hat, kennt das: Eine Krankmeldung ist oft mit Schuldgefühlen verbunden – und laut einer neuen Studie hat sich diese Tatsache nur noch verschlimmert, seit die Pandemie viele von uns ins Homeoffice verbannt hat.
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Die Umfrage von OnePoll ergab, dass 55 Prozent der Befragten gegenüber ihren Vorgesetzten einen spezifischen Grund für eine Krankmeldung nennen müssen – und aus dieser Gruppe gaben zwei Drittel an, das Gefühl zu haben, diese Gründe würde man ihnen nie richtig glauben.
Die Konsequenz: Alle Befragten erzählten, im vergangenen Jahr durchschnittlich dreimal krank gearbeitet zu haben. Fast drei Fünftel berichteten sogar, sich körperlich zum Arbeiten gezwungen zu haben, wenn ihre Symptome sie nicht komplett ans Bett fesselten.
Ist unsere Krankmeldungs-Paranoia also gerechtfertigt? Sollten wir uns wirklich vor dem Anruf oder der E-Mail fürchten, in der unsere Krankheit angezweifelt wird, oder Angst davor haben, dafür verurteilt oder benachteiligt zu werden? Naja – es ist kompliziert.

Die moderne Arbeitskultur ist geprägt vom Präsentismus

Für viele von uns ist die Arbeit eine Säule unserer eigenen Identität – und das ist auch nicht unbedingt etwas Negatives, wenn dich das glücklich macht. Die „Du bist, was du tust“-Mentalität kann aber eben auch die Vorstellung befeuern, Überanstrengung sei die Norm. Noch dazu verwechseln wir die pure Anwesenheit oft damit, was es heißt, wirklich gut in unserem Job zu sein. Besonders stark wirkt sich diese Kultur aber im Kontext von Krankmeldungen und Urlaubstagen aus, wenn uns der (interne und externe) Druck, immer „schuften“ zu müssen, das Gefühl vermittelt, eine Auszeit könne unseren Karrierefortschritt behindern oder als schlechte Arbeitsethik betrachtet werden. Noch schlimmer: Dieser Druck sorgt dafür, dass wir schnell davon überzeugt sind, wir sollten für dafür gelobt oder belohnt werden, wenn wir krank arbeiten.
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Klingt irrational? Ist es aber leider nicht – denn diese Kultur des „Präsentismus“ kann sich tatsächlich auf die Beziehung zwischen Arbeitgeber:in und -nehmer:in auswirken. 
Präsentismus bezieht sich auf das performative Arbeiten trotz einer Krankheit, die die eigene Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt. Gegenüber der BBC erklärte Leigh Thompson, Professor für Management und Organisation an der Northwestern University, dass Präsentismus vor allem von zwei psychologischen Phänomenen angetrieben wird: einerseits vom „Mere-Exposure-Effekt“, laut dem wir uns Menschen natürlich näher fühlen, die wir häufiger sehen; und andererseits vom „Halo-Effekt“, durch den wir von bekannten positiven Eigenschaften einer Person direkt auf deren Charakter schließen. Als Konsequenz dieser Phänomene bekommen Angestellte Gehaltserhöhungen oder Beförderungen, weil sie sie mehr zu verdienen scheinen.
In der Vergangenheit war die körperliche Fähigkeit die einzige Voraussetzung zum Arbeiten, und es hat Jahrzehnte gedauert, bis auch die geistige Gesundheit als dafür entscheidend angesehen wurde. Das große Problem dabei: Um eine krankheitsbedingte Auszeit zu bitten – ob nun für die mentale oder körperliche Gesundheit –, kann nervenaufreibend sein und die eigentlichen Beschwerden dadurch zusätzlich verschlimmern. Und im Laufe des letzten Jahres ist das Ganze nur noch schwieriger geworden.
Im Homeoffice verpufft der Druck, sichtbar und „präsent“ zu wirken, nämlich nicht einfach. Die Arbeit von zu Hause erlaubt es dir, bei leichten Symptomen trotzdem zu arbeiten, wohingegen du dich vor der Pandemie vielleicht stattdessen krank gemeldet hättest; weil so viele Arbeitgeber:innen aber durch Corona unter zusätzlicher Belastung und teilweise kurz vor dem Ruin stehen, ist der Druck, dich selbst als „essenziell“ zu beweisen, größer denn je. Viele von uns sahen und sehen sich dazu gezwungen, den eigenen Arbeitsplatz mit aller Kraft am Laufen zu halten, und weil es durch Corona auch immer häufiger zu Entlassungen kam, fühlen sich viele Arbeitnehmer:innen an ihren Krankheitstagen womöglich so, als seien sie „verzichtbar“.
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Aber was denken Manager:innen eigentlich über Krankmeldungen?

Um auch „die andere Seite“ zu verstehen, haben wir uns mal unter Menschen in Management-Positionen umgehört. 
Natürlich ist eine Krankmeldung für beide Beteiligten insofern schwierig, als dass es immer Leute gibt, die sich mal einen freien Tag gönnen, weil sie es eben können. Die meisten Manager:innen wollen dennoch nicht, dass sich ihre Angestellten dafür schlecht fühlen, sich krank zu melden, sofern das klar kommuniziert wird – und der Großteil von ihnen ist sich darin einig, dass du auf deine Symptome nicht näher eingehen musst. 
Ein:e Manager:in betont auch, wie wichtig es ist, als Vorgesetzte:r ein respekt- und vertrauensvolles Umfeld aufzubauen. „Wenn du selbst daran zweifelst, dass jemand in deinem Team wirklich krank ist, stimmt etwas mit deiner Teamkultur und deiner Perspektive als Manager:in überhaupt nicht“, schrieb er:sie. „Es fühlt sich furchtbar an, wenn du den Eindruck hast, dass man dir bei der Arbeit nicht vertraut. Ich habe selbst schon ähnliche Erfahrungen mit ehemaligen Manager:innen gemacht. Das ist unheimlich demotivierend. Wenn du krank bist, bist du krank. Dann sollte nicht von dir erwartet werden, E-Mails zu beantworten. Ein unterstützendes Team wird das immer respektieren.“ 
Dasselbe gilt übrigens auch für Selbstständige. „Ich werde nicht bezahlt, wenn ich nicht arbeite – also ja, ich fühle mich immer schuldig, wenn ich mich krankmelden muss“, erzählt die 30-jährige Hannah, die als Design- und Branding-Beraterin freelanct. „Selbst als Angestellte in einem Büro habe ich immer diese toxische Kultur zu spüren bekommen, die dir vermittelt, dass du etwas verpasst, wenn du dich krankmeldest – also achtete ich immer darauf, selbst während meiner Krankmeldung meine E-Mails zu lesen und in irgendeiner Form ‚anwesend‘ zu sein. Diese Gefühle aus jahrelanger Büroarbeit werden mir wohl immer erhalten bleiben, aber eigentlich sollten wir alle diesen ‚Hustle-Kultur‘-Schwachsinn entlernen und uns stattdessen auf uns selbst konzentrieren“, sagt sie.
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Wie melde ich mich also am besten krank?

Die überwältigende Meinung der Manager:innen ist klar: Niemand muss arbeiten, wenn er:sie krank ist, und genau aus diesem Grund gibt es die Möglichkeit zur Krankmeldung. Die meisten freuen sich einfach darüber, wenn sie früh genug darüber in Kenntnis gesetzt werden – ob nun telefonisch oder per Mail – und dabei im Idealfall erfahren, wie lange du vermutlich ausfallen wirst, bevor du wieder ganz erholt (und nicht bloß mit 60 Prozent Akku) zur Arbeit zurückkehren kannst. 
Obwohl es natürlich schön zu hören ist, dass unsere mit Krankmeldungen verbundenen Schuldgefühle meist völlig unbegründet und lediglich das Ergebnis unserer kapitalistischen Gesellschaft sind, ist eins klar: Es kann schwer sein, diese Gefühle komplett abzulegen. Aber sowas funktioniert ja auch nicht von heute auf morgen. 

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