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Mein Arzt weigerte sich, mir Botox zu spritzen – & ich bin ihm dankbar

Foto: bereitgestellt von Vicky Spratt.
„Ich werde Ihnen nichts injizieren“, sagte mir der Ästhetiker Dr. Harris ganz sachlich quer über den Schreibtisch seines Sprechstundenzimmers. Ich hatte eigentlich gehofft, heute mit einer frischen Portion Botox im Gesicht die Praxis zu verlassen. „Kommen Sie in ein paar Jahren nochmal wieder. Dann können wir nochmal drüber reden“, ergänzte er.
Ich bin 34 Jahre alt – und hatte heute zum ersten Mal von einem Profi eine Abfuhr bekommen, nachdem ich mir schon seit vier Jahren ein- bis zweimal pro Jahr „prophylaktisch“ von verschiedenen Ärzt:innen Botox hatte spritzen lassen.
Botulinumtoxin, besser bekannt als Botox, ist ein vom Bakterium Clostridium botulinum produziertes neurotoxisches Protein. Es reduziert die Ausschüttung des Neurotransmitters Acetylcholin und hat eine lähmende Wirkung – und sorgt somit nach der Injektion dafür, dass sich die Muskeln in deinem Gesicht entspannen. Damit werden Falten „geglättet“. 
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Botox ist längst nicht mehr den Promis in L.A. oder New York vorbehalten und dank seiner effektiven Wirkung eine superbeliebte „Anti-Aging“-Behandlung geworden. Auf der Skala der Beauty-Extreme liegt Botox wohl irgendwo zwischen dem Auftragen von Cremes und Seren und einem chirurgischen Gesichts-Lifting. An diesem Tag wünschte ich mir von Dr. Harris eine „Auffrischung“. Mein Botox-„Guthaben“ war quasi leer; ich wollte mehr „nachbuchen“.
Noch vor zwei Jahrzehnten brauchtest du meistens invasive (und damit riskante) chirurgische Eingriffe, um das Aussehen deines Gesichts zu verändern. Botox änderte alles. Der Stoff, der 1989 zuerst von der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zur Behandlung seltener Augenmuskelstörungen zugelassen wurde (und dann 2002 zur kosmetischen Behandlung von Falten), ist heute nicht aus der Beauty-Branche wegzudenken, ebenso wenig wie Filler auf Hyaluronsäurebasis.

Als ich Dr. Harris aber fragte, wieso er mir Botox nicht empfehlen würde, ließ er eine echte Bombe platzen: Es gibt keine eindeutigen Indizien dafür, dass dieses präventive Botox überhaupt funktioniert.

Heute wird die Injektion von Botox als fast so harmlos dargestellt wie das Auftragen einer überteuerten Feuchtigkeitscreme. Du kannst es dir mittlerweile sogar schon in manchen Nagel- und Haarstudios spritzen lassen (obwohl es in Deutschland nur anerkannten Ärzt:innen gesetzlich erlaubt ist); die Botox-Injektion lässt sich locker in deine Mittagspause schieben, oder mal eben vor einem Barbesuch in den Kalender quetschen. Doch ist die Wirkung von Botox nicht permanent, sondern hält meist nur zwischen drei und vier Monate. Noch dazu ist die Injektion nicht billig; abhängig von der Praxis oder dem Studio, wo du sie machen lässt, kann dich die Spritze auch mehrere hundert Euro kosten. Und wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, verliert sich dadurch schnell in enormen Schulden.
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Dein Gesicht mit einem Toxin unterspritzen zu lassen – das so stark ist, dass es die Muskeln paralysieren kann, die dir normale Gesichtsausdrücke ermöglichen, und dir damit die Falten nimmt, die dir dein Leben ins Gesicht gezeichnet hat –, ist inzwischen so weit normalisiert, dass darüber kaum noch diskutiert wird. Manche Frauenzeitschriften liefern dir sogar mittlerweile Ratschläge dazu, in welchem Alter du „am besten anfängst“. Wenn du das Altern „verhindern“ willst, wird ein Alter von 25 empfohlen, habe ich vor Kurzem gelesen.
Diese Vorstellung von „präventivem Botox“ – das Falten gar nicht erst entstehen lassen soll – wird in den letzten Jahren immer populärer, und ganz ehrlich: Ich habe mich selbst von solchen Behauptungen hinreißen lassen. Aus irgendeinem Grund kam ich aber nie auf die Idee, mich jemals ordentlich damit zu beschäftigen. Und wenn ich mich schnell mal bei Google umsehe, finde ich direkt zahlreiche Artikel, die fest behaupten, Botox könne die Entstehung neuer Falten verhindern.
Als ich Dr. Harris aber fragte, wieso er mir Botox nicht empfehlen würde, ließ er eine echte Bombe platzen: Es gibt keine eindeutigen Indizien dafür, dass dieses präventive Botox überhaupt funktioniert. „Es gibt keine groß angelegten Studien, die eine präventive Wirkung von Botox belegen“, erzählte er mir. „Diese Studien ließen sich zwar nicht leicht durchführen, wären aber durchaus möglich“, ergänzte er. „Derzeit gibt es derartige Studien aber nicht.“
Auf diese Enthüllung folgte eine weitere – und die traf mich persönlich. „Wenn Sie in ein paar Jahren wiederkommen“, sagte Dr. Harris, „müssen wir bei der Injektion sehr vorsichtig sein, weil ihre Augenbrauen sehr niedrig sind.“ Tatsächlich warnte mich Dr. Harris, ich sei womöglich anfällig für die Entwicklung „hängender“ Augenbrauen. Nicht unbedingt das, was du dir wünschst, wenn du eine Behandlung für geglättete, geliftete Gesichtszüge buchst.
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Es war das erste Mal, dass ein Ästhetik-Mediziner jemals diese Eigenschaft meines Gesichts auch nur erwähnt hatte. Seit meinem Termin bei Dr. Harris war Dr. Uliana Gout die einzige andere Person, die es ihm gleichtat. Sie ist die Präsidentin des British College of Aesthetic Medicine. Schockierenderweise brauchte es mehrere Jahre und Besuche bei zwei der weltweit angesehensten Ästhetik-Mediziner:innen (und an die kam ich auch nur heran, weil ich Journalistin bin), bis mir mal jemand sagte, dass a) die Beweislage für präventives Botox auf wackeligen Beinen steht und dass b) diese Behandlung für mich wegen meiner Gesichtsstruktur sogar Probleme verursachen könnte.

Als mir Dr. Harris direkt, wenn auch vorsichtig eine Abfuhr erteilte, passierte etwas Unerwartetes: Ich fühlte mich… erleichtert.

Dr. Harris hat auf Instagram über 146.000 Follower:innen. Er ist ein mit Preisen ausgezeichneter Doktor der ästhetischen Medizin und bekannt für seine ehrliche Perspektive auf kosmetische Eingriffe, sowie für seinen Einsatz für natürlich aussehende Resultate inmitten einer Epidemie der „Verfremdung“, wie er sagt – damit meint er den Trend zu Fillern, um verzerrte Gesichtszüge wie pralle Lippen, Wangenknochen und Kiefer zu bekommen.
Genau diese Meinung brauchen wir heute mehr denn je. An der Normalisierung von Botox scheint sich kaum jemand wirklich zu stören; vielleicht, weil Anti-Aging-Hautpflege schon immer mit geheimnisvoller Sprache beworben wurde. „Was ist ihre Geheimwaffe?“, fragen Stimmen in diversen Werbespots. „Was ist das Geheimnis dahinter, mit 37 auszusehen wie mit 25?“ Vielleicht sind es die Gene. Vielleicht aber auch Botox.
Ich kenne viele Frauen Anfang 30, die sich heimlich Botox spritzen lassen – und viele jüngere Frauen, die dafür Geld ausgeben, das sie eigentlich nicht haben. Letztes Jahr sorgte der Trend unter Jugendlichen zu solchen kosmetischen Eingriffen („Love-Island-Effekt“ genannt) für solche öffentliche Besorgnis, dass die ehemalige britische Gesundheitsministerin Nadine Dorries verkündete, vor der Injektion müsse nun erstmal das Alter der behandelten Person geprüft werden. Behandelnde, die sich daran nicht hielten, müssen seitdem in Großbritannien mit juristischen Konsequenzen rechnen. (Auch in Deutschland sind solche Eingriffe nur Volljährigen erlaubt; darunter ist eine Einverständniserklärung der Eltern nötig.)
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Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen – und warum?
Zuallererst: Schönheitsstandards existieren nicht einfach, sondern werden von einer Gesellschaft erschaffen, die stark von Firmen beeinflusst wird, die uns Dinge verkaufen möchten. Anti-Aging-Cremes und -Seren sind schon seit Langem enorm profitabel. Dieses Business lebt davon, dass wir Menschen – und insbesondere Frauen – einreden, ein schönes und jugendliches Aussehen sei die größte Macht, die es gibt.
Zweitens: Diese Message lohnt sich finanziell. Der deutsche Kosmetik- und Körperpflegemarkt wächst immer weiter – nach einem kleinen Dämpfer im Jahr 2020, als Corona uns alle in die Isolation zwang. Und weil Eingriffe wie Botox und Filler teuer sind, lohnt es sich für Dermatolog:innen (und andere Ärzt:innen), diese Behandlungen in ihr Angebot aufzunehmen.
Als mir aber Dr. Harris direkt, wenn auch vorsichtig eine Abfuhr erteilte, passierte etwas Unerwartetes: Ich fühlte mich… erleichtert. Erleichtert, dass er meine Gesichtszüge nicht einfrieren würde. Erleichtert, dass er meine Anzeichen der Hautalterung nicht für drastisch genug hielt, um Botox zu „brauchen“. Erleichtert, dass mir jemand die Erlaubnis erteilt hatte, damit aufzuhören.

Botox gab mir, zumindest vorübergehend, das Gefühl der Kontrolle, während ich mich in meinem Privatleben sehr machtlos fühlte.

Heute ist mir klar, dass ich mir wohl insgeheim eine Ausrede dafür gewünscht hatte, eine teure Angewohnheit wieder abzulegen, wenn ich ehrlich bin. Ich wurde 30, als meine Langzeitbeziehung daran zerbrach, dass mich mein damaliger Partner mit jemand Jüngerem betrogen hatte. Das Ganze war ein einziges Klischee – aber rückblickend habe ich einen viel klareren Blick auf die Situation. Ich war an einem Tiefpunkt. Mein Selbstbewusstsein hatte einen Knacks bekommen – und ein magisches Gift, das mir ein jugendlicheres Aussehen versprach, nachdem ich gerade so brutal auf mein Alter aufmerksam gemacht worden war, wirkte einfach sehr reizvoll.
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Jahre später war es wohl kein Zufall, dass ich mir ausgerechnet einen Termin bei Dr. Harris gebucht hatte – bei einem Arzt, der sich schon öffentlich kritisch über die Normalisierung ästhetischer Eingriffe geäußert hatte –, anstatt direkt in eine schicke Innenstadtklinik zu gehen, in der mir sicher weniger Fragen gestellt worden wären. Hinter Dr. Harris’ Fragen steckten aber eine eindeutige Motivation; er hat sich schon viele Gedanken über seine Rolle als ästhetischer Mediziner im Umgang mit Botox gemacht und weigert sich auch nicht komplett, den Stoff zu injizieren – nur tut er es eben ausschließlich dann, wenn es angebracht ist (zum Beispiel, wenn Alterungserscheinungen bereits deutlich sichtbar sind).
„Da ist dieser Druck – vor allem in den sozialen Medien –, Falten schon früher anzugehen als unbedingt nötig“, erklärte mir Dr. Harris am Telefon nach meinem Termin. „Ich habe da im Laufe der Jahre eindeutig eine Veränderung bemerkt“, erzählte er. „Und genau deswegen buchen die Leute jetzt immer früher ihre Eingriffe.“ Dr. Harris möchte die Motive dieser Behandlungen besser verstehen. „Braucht jemand wirklich Botox? Oder entstammt sein:ihr Wunsch einem externen Druck, absolut keine Falten oder andere Alterungserscheinungen zu haben?“
„Botox“, ergänzt Dr. Harris, „ist ein Medikament, das Nebenwirkungen und Komplikationen haben kann. Daher sollte es ernst genommen werden.“ Die hängenden Augenbrauen, für die ich anscheinend anfällig bin, ist nur eine dieser schwereren Nebenwirkungen. Zu den anderen können beispielsweise Muskelschwäche oder Probleme mit dem Sehvermögen zählen, wenn die Injektionen nicht ordentlich durchgeführt werden.
Ein weiteres, weniger medizinisch besorgniserregendes (aber nicht weniger ernstzunehmendes) Problem ist, dass dich Botox davon abhält, dich richtig auszudrücken. Nach meinen bisherigen Injektionen fiel es mir schwerer, die Augenbrauen zu heben. Meine Gesichtsausdrücke waren daher weniger ausgeprägt und mein Lächeln wirkte schwächer, weil es nicht mehr auf meinem ganzen Gesicht stattfand. Freund:innen haben mir nach dem Eingriff  schon gesagt, ich sähe dauernd „unbeeindruckt“ aus.
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Das ist ernster, als es sich anhört. US-Studien zufolge beeinträchtigt das „Einfrieren“ unserer Gesichtszüge sogar unser Erleben von Emotionen und unsere Fähigkeit, Gefühle sprachlich zu vermitteln; unser Gegenüber hat Schwierigkeiten, die Emotionen aus unseren Worten herauszufiltern, weil wir sie nicht mehr so ausgeprägt im Gesicht kommunizieren.
Botox mag unsere Haut glätten – doch gehören Gefühle und deren Ausdruck zum Leben dazu. Je älter du wirst, desto mehr Erfahrungen sammelst du. Sie werden natürlich nicht alle angenehm sein; doch hinterlässt jedes Lächeln, jedes Stirnrunzeln, jede Grimasse im Laufe der Zeit deine ganz eigene Lebens-Landkarte auf deinem Gesicht.
Heute frage ich mich: Konnte ich meine Wut nach dem Ende meiner Beziehung immer noch richtig ausdrücken, nachdem ich mir Botox hatte spritzen lassen? Spiegelten sich die Wut und die Enttäuschung gut sichtbar in meinem Gesicht wider, oder wurden sie kaschiert? Dass ich meine Reaktionen auf eine akute, schmerzhafte persönliche Situation derart gedämpft hatte, schadete wohl nicht nur mir selbst – sondern hinderte auch mein Umfeld daran, mir die Konsequenzen ihrer Handlungen am Gesicht abzulesen. Um es kurz zu sagen: Botox versteckt nicht nur den Alterungsprozess, sondern auch Gefühle. Diese Gefühle sind vielleicht nicht immer hübsch oder positiv, gehören zum Leben aber dazu.
Wenn Dr. Harris seinen Patient:innen dann doch Botox spritzt, weigert er sich gegen „extreme Eingriffe“. „Wir brauchen unsere Mimik zur Kommunikation. Es ist eine menschliche Funktion, einander lesen zu können“, sagt er. „Wenn du aber komplett eingefroren bist, kommt das einem offenen Gespräch in die Quere. Zu viel Botox kann für Probleme mit der grundlegenden Kommunikation sorgen.“
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Wenn jemand in seine Praxis kommt, der:die keine Falten im Gesicht hat, sich aber etwas wie präventives Botox wünscht, könnte Dr. Harris das aus wissenschaftlicher Sicht nicht rechtfertigen, meint er. „Und auch nicht aus ethischer Sicht.“
Wenn ich heute darüber nachdenke, weiß ich, dass ich mir Botox anfangs aus den falschen Gründen habe spritzen lassen. Ich wünschte, man hätte mich damals zu einem tieferen Gespräch über meine Motivation dahinter gezwungen.
Trotzdem wäre es unehrlich von mir, wenn ich jetzt behaupten würde, mir nie wieder Botox injizieren zu lassen. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sich das Konzept wirklich so sehr von den überteuerten Gesichtscremes oder den Laserbehandlungen unterscheidet, die ich liebe. Genauso, wie mein 30-jähriges Ich aber keine Ahnung hatte, wie ich mit 34 darüber denken würde, kann ich auch jetzt noch nicht absehen, wie ich das Thema mit 40 oder 50 empfinde. Ich hoffe einfach, dass ich friedlich altern kann.
Eins weiß ich aber: Botox gab mir, zumindest vorübergehend, das Gefühl der Kontrolle, während ich mich in meinem Privatleben sehr machtlos fühlte. Langfristig konnte natürlich selbst Botox meine Beziehung nicht retten. Es hielt mich nicht davon ab, Erfahrungen zu sammeln – gute und schlechte. Es hielt sicher nicht den Lauf der Zeit auf. Es besänftigte auch nicht den Schmerz, betrogen zu werden. Und doch hielt es mich davon ab, genau diesen Schmerz auch wirklich ausdrücken zu können. 
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