Über 160.000 Menschen in Deutschland tragen ein Stoma, abgeleitet vom griechischen Wort für „Öffnung“. Ein Stoma ist das Ergebnis einer Kolostomie oder Ileostomie (bei der ein künstlicher Dickdarm- bzw. Dünndarmausgang geschaffen wird); diese Operationen kommen oft bei Menschen zum Einsatz, die unter Darm- oder Scheidenkrebs, Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa oder Inkontinenz leiden. Der Dünn- oder Dickdarm wird dann zu einem kleinen Loch im Bauch umgeleitet (das ist das Stoma), von wo aus der Stuhl direkt in einem speziell entworfenen Beutel landet – dem Stomabeutel. Dadurch muss der oder die Stomaträger:in für den Stuhlgang nicht mehr aufs Klo.
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Für viele Stomaträger:innen ist die Operation eine lebensverändernde und oft sogar lebensrettende Maßnahme, weil Erkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis unheimlich belastend sein können. Gleichzeitig kann aber auch das Stoma selbst zur enormen mentalen Herausforderung werden. Nach einer Stoma-Operation kommt es häufig zu psychologischen Beschwerden, zu denen unter anderem Probleme mit dem eigenen Körperbild, sexuelle Schwierigkeiten, eingeschränkte Sozialkompetenzen und ein niedriges Selbstwertgefühl zählen.
Das gilt vor allem für die erste Zeit nach der Operation, wenn es darum geht, zum „normalen“ Leben zurückzukehren. Auf chronische Erkrankungen – insbesondere unsichtbare – wird nicht immer Rücksicht genommen, und gerade Verdauungs- und Darmprobleme sind häufig mit Scham verbunden.
Obwohl Körper mit Stomabeuteln in den sozialen Netzwerken immer mehr gefeiert werden, kommen dabei nur selten die geistigen Konsequenzen einer solchen Operation zur Sprache.
Wir haben uns mit Millie Steptoe, 26, über ihre Beziehung zu ihrem Stoma unterhalten – und darüber, warum sie sich mehr Ehrlichkeit rund um die mentalen Herausforderungen eines Stomabeutels wünscht. Diese Schwierigkeiten nicht offen anzuerkennen, kann dazu führen, dass das Leben mit Stoma nur mit noch mehr Scham verbunden wird. Deswegen lasst uns hier offen darüber sprechen…
„Ich bekam mit 16 Jahren die Diagnose Colitis Ulcerosa, eine mit Geschwüren im Dickdarm verbundene chronische Krankheit. Meine Ärzt:innen überwiesen mich an eine Magen-Darm-Klinik, wo ich Steroide bekam, die ich mir selbst in den Oberschenkel injizieren sollte. Weil ich schwer krank war, bekam ich außerdem Eisen-Infusionen. Mit 21 ging es mir aber an einem Tag so schlecht, dass ich es kaum aus dem Bett schaffte. Ich quälte mich trotzdem zur Arbeit und erledigte da ganze acht Stunden; zu Hause brach ich danach fast zusammen. Daraufhin kam ich ins Krankenhaus, wo man mir sagte, meine Behandlung habe versagt und ich bräuchte eine Not-OP. Danach wachte ich mit einem Stoma auf. Ich wusste nicht genau, was das war – das war demnach eine angsteinflößende Erfahrung.
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Vor der Operation hatte ich kein wirkliches Leben gehabt. Ich bin ein sehr geselliger Mensch, musste damals aber vier-, fünfmal pro Tag groß aufs Klo. Deswegen musste ich zu Hause bleiben. Ein normales Leben war so nicht wirklich möglich, also versteckte ich mich. Vor der Operation hatte ich keine Ahnung gehabt, was ein Stoma war – ich hatte es nie gegoogelt und die Ärzt:innen hatten es mir gegenüber nicht erwähnt. Ich weiß, dass sie mich nicht aktiv zur Operation hatten bewegen wollen, weil Ärzt:innen generell nicht wollen, dass ihre Patient:innen das durchmachen müssen. Es wäre aber für andere Betroffene in meiner Situation schön, wenn sie schon vorher einen Überblick über alle Eventualitäten der nächsten Stufen bekämen; als man mir nämlich sagte, sie würden mir meinen Dickdarm entfernen und meinen Dünndarmausgang nach außen verlegen, bekam ich richtig Angst. Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich würde danach nicht mehr als menschliches Wesen gelten, und das machte mich geistig echt fertig. Das war furchtbar. Mit 21 denkst du dir dann einfach: Oh mein Gott, das ist so eine gigantische Lebensveränderung. Man sagte mir zwar, das Ganze würde meine Lebensqualität verbessern – aber es ist ja trotzdem eine Veränderung des Körpers, womöglich für immer.
Im ersten Jahr danach, während ich mich an meinen neuen Körper gewöhnen musste, ging es mit mir bergab. Ich hatte mich so daran gewöhnt, immer drinnen zu bleiben, und hatte Angst davor, die Leute könnten meinen Beutel unter meinen Klamotten erkennen – ich schämte mich dafür, wann immer ich das Haus verließ. Ich redete mir selbst ein, ich müsse extrem weite, hässliche Klamotten tragen, weil niemand meinen Beutel sehen sollte, vor allem, wenn er aufgebläht war [wenn er sich füllt, wird der Beutel größer]. Ich war davon überzeugt, nicht ‚Mensch genug‘ zu sein, um mich mit anderen Leuten zu treffen. Alles Quatsch! Rückblickend weiß ich heute nicht mehr, warum ich so dachte – aber ein Stoma zu haben, lenkt deine Gedanken einfach um. Es verändert außerdem deine Tagesstruktur. Ich war früher einfach aufgestanden, dann zur Schule oder zur Arbeit gefahren und hatte gar keine Probleme gehabt; jetzt wachte ich morgens auf und stellte manchmal fest, dass mein Beutel in der Nacht nicht ganz dicht geblieben war. Das regte mich jedes Mal enorm auf. Meiner Mum sagte ich dann, ich würde nicht zur Arbeit gehen, weil ich mich so dafür schämte, in meinen eigenen Exkrementen gelegen zu haben.
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Als die Ein-Jahres-Marke vorüber war – und ich weiß gar nicht genau, was die negativen Gedanken schließlich verblassen ließ –, fing ich langsam an, mich wieder mit meinen Freund:innen zu treffen. Anstatt Restaurant-, Kino- oder Schwimmbadbesuche abzusagen, antwortete ich jetzt mit: ‚Ich versuch’s einfach mal.‘ Und das war der Startschuss für mein Selbstbewusstsein; ich fühlte mich mental immer mehr wie die alte Millie und spürte, wie sich meine Lebensqualität verbesserte.
Schwierig ist das Leben mit Stoma trotzdem, vor allem bei der Arbeit. Letzte Woche war ich im Büro und spürte, dass mein Beutel nicht mehr dicht war; ich war aber gerade mitten in einem wichtigen Telefonat. Meine Gedanken drehten sich panisch im Kreis: Oh mein Gott, ich muss jetzt auflegen, damit ich mich um meinen Beutel kümmern kann. Und natürlich sickerte es dann auch noch durch meine Hose. Zum Glück sind meine Kolleg:innen alle total unterstützend, aber peinlich war es mir trotzdem sehr. Nachdem ich alles saubergemacht hatte, setzte ich mich in mein Auto und weinte. Traumatisch ist das schon irgendwie.
Manchmal muss ich vor Kund:innen Präsentationen geben, und einmal – vor drei, vier Jahren – stand ich gerade vor 40 Leuten, als mein Stomabeutel ein sehr lautes Geräusch machte, fast wie ein Furz. Die Leute fingen an zu lachen, und das war für mich ein echter Trigger. Jetzt gerate ich vor jeder Präsentation in Panik und werde zu einem anderen Menschen: Mein Herz rast, mir wird heiß, ich fange an zu schwitzen. Das Stoma ist für mich mit viel Unruhe verbunden, und damit habe ich große Probleme.
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Das Stoma an sich ist mir aber meist nicht mehr peinlich. Ich weiß, dass sich viele Betroffenen dafür schämen; deswegen versuche ich, allen klarzumachen, dass diese Scham absurd ist. Es ist doch nichts Ekliges, Darmprobleme zu haben. Themen rund um die Verdauung und den Darm sind mit so viel Peinlichkeit verbunden – dabei ist das doch einfach nur unsere Art, unsere Nahrung auszuscheiden. Wenn wir nicht aufs Klo gehen würden, könnten wir gar nicht leben. Deswegen bin ich an manchen Tagen echt glücklich über mein Stoma; an anderen wiederum schäme ich mich dafür, obwohl ich weiß, dass ich das nicht sollte.
Am 4. Januar 2019 entschied ich mich für ein dauerhaftes Stoma. Diese Entscheidung stürzte mich dann mental wieder in eine kleine Krise, weil ich sie immer wieder hinterfragte. Als ich den Papierkram unterschrieb, dachte ich: Sollte ich den Beutel wirklich endgültig behalten? Aber nach der Operation sprach ich mir gut zu: Das Stoma hatte mir immerhin so eine gute Lebensqualität ermöglicht. Ja, an manchen Tagen hält es nicht ganz dicht, und die Geräusche sind manchmal ziemlich peinlich – insgesamt überwiegt aber das Positive. Ich kann zu Festivals, ich kann essen, was ich will, und ich fühle mich wieder wie ein Mensch, nicht mehr wie eine andere Person oder eine Außenseiterin.
Ich glaube, viele Menschen erkennen die körperlichen Auswirkungen einer solchen Operation – aber wer selbst kein Stoma hat, versteht nicht, wie traumatisch es ist, sich den Körper aufschneiden und dieses Equipment einfügen zu lassen, womöglich für immer. Das kann sich enorm auf die Psyche auswirken, und darüber wird nicht oft genug gesprochen. Ich weiß, dass es in den sozialen Medien jede Menge Influencer gibt, die das Aussehen aller Körper feiern – aber auf die mentalen Aspekte geht dabei niemand ein. Immer geht es darum, wie etwas aussieht, aber über die damit womöglich verbundene Angst, Depression und Unruhe redet kaum wer.
Mein Selbstbewusstsein hat sich inzwischen spürbar erholt, weil ich jetzt in den sozialen Medien aktiv bin und den Leuten klarzumachen versuche, dass es völlig okay ist, auch mal schlechte Tage zu haben. Ja, auch ich habe schlechte Tage mit meinem Stoma – aber es hat mir das Leben gerettet. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich so denken konnte, aber jetzt kann ich mit Gewissheit sagen: Ich würde mein Stoma niemals für meinen alten Körper hergeben, weil es mir vieles geschenkt hat, was ich mit 16 gar nicht hatte.“
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