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Unter Leute kommen – wie ging das noch schnell?

Illustrated by Jessica Meyrick.
Ich starre eine WhatsApp-Nachricht an. Sie ist von einer meiner besten Freund:innen und voller Restaurantnamen und Pläne für zukünftige Treffen. Noch bevor es überhaupt wieder möglich ist, in Lokalen zu essen, hat sie schon alle möglichen gemeinsamen Abendessen und Verabredungen in Bars geplant, als ginge es dabei um Leben und Tod. Ich weiß, dass sie sehen wird, dass ich ihre Message gelesen habe. In solchen Momenten beneide ich manchmal die älteren Generationen, deren Kommunikation viel ungezwungener war: Es gab keine Nachrichteninhalte zum Überanalysieren. Mit dem Druck, nach einer Lesebestätigung sofort antworten zu müssen, hatten sie auch nichts am Hut. Sie schreibt „Bin schon ganz aufgeregt!“ und sieht, dass ich noch nicht geantwortet habe. Ich lege mein Handy weg und beobachte den Sonnenuntergang durchs Fenster. Weil diese Momente den endlos scheinenden Tagen ein Ende setzen, habe ich sie in den vergangenen Monaten besonders zu schätzen gelernt. Ich möchte meiner Freundin zwar antworten, aber ich bin nicht in der Lage dazu. Vielleicht will ich es auch einfach nicht.
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Im Augenblick bin ich fast die ganze Zeit in meiner Einzimmerwohnung. Vor etwas mehr als einem Jahr schlief ich zwar zu Hause, verbrachte aber die meiste Zeit außerhalb meiner eigenen vier Wände – in Cafés, im Büro, in Bars, Restaurants, in den Apartments anderer Leute. In einer Kneipe in meiner Nähe war ich sogar so etwas wie eine Stammgästin, redete die Angestellten beim Vornamen an und sie mich. Ein ähnlich herzliches Verhältnis hatte ich zu dem Besitzer meines Lieblingsrestaurants. Daran ist aber eigentlich nichts besonders. Denk doch mal an Sitcoms. Da spielen sich die Handlungsstränge oft an einem bestimmten Ort ab, wo sich die Leben aller Schauspieler:innen kreuzen, wie zum Beispiel das Café Central Perk in Friends.
Im wirklichen Leben werden diese Örtlichkeiten als „dritter Ort“ bezeichnet. Dieses Konzept wurde 1989 von dem Soziologen Ray Oldenburg entwickelt. Dessen Zweck war es, unsere gemeinsamen sozialen Umgebungen zu kennzeichnen, die notwendig sind, um ein Gefühl der Gemeinschaft zu schaffen und bürgerliches Engagement in der Gesellschaft zu ermöglichen. Das Zuhause stellt den ersten, die Arbeit den zweiten und Gemeinschaftsräume wie Kneipen, Cafés und Restaurants den dritten Ort dar. Letztere, so schreibt Oldenburg, „beherbergen die regelmäßigen, freiwilligen, informellen und freudig erwarteten Zusammenkünfte von Individuen jenseits von Zuhause und der Arbeit“. Außerdem sind sie die Grundlage einer funktionierenden Demokratie und entscheidend für unser Wohlbefinden, weil sie psychologische Unterstützung bieten.

Ein Leben ohne soziale Kontakte schafft für viele einen Lebensstil, der hauptsächlich aus dem Hin-und Herpendeln zwischen den eigenen vier Wänden und denen des Arbeitsplatzes besteht. Wir brauchen Gemeinschaft aber für soziales Wohlbefinden und zum Wohle unserer psychischen Gesundheit.

Ray Oldenburg
„Ein Leben ohne soziale Kontakte“ schaffe Oldenburg zufolge „für viele einen Lebensstil, der hauptsächlich aus dem Hin-und Herpendeln zwischen den eigenen vier Wänden und denen des Arbeitsplatzes besteht. Wir brauchen Gemeinschaft aber für soziales Wohlbefinden und zum Wohle unserer psychischen Gesundheit.“ Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass sich Lockdowns auf unsere Psyche ausgewirkt haben: „Die Pandemie ist auf jeden Fall eine Herausforderung für die psychische Stabilität“, erklärt Steffi Riedel-Heller, Direktorin am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health an der Universität Leipzig. Untersuchungen zeigen, dass Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen vor allem während der strengeren Lockdown-Phasen zugenommen haben.
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Manchmal denke ich, dass ich im letzten Jahr mit weniger zufriedener war als sonst. Weniger soziale Verpflichtungen führten zu weniger häufigen verkaterten Folgetagen. Vor der Pandemie hatte ich ein aktives, aber nicht ausgelastetes Sozialleben. Ich ging aus, blieb aber auch hie und da zu Hause. Ich genoss beides und dachte wenig darüber nach. Der erste Lockdown veränderte mich. Vielleicht war es aber eine willkommene Veränderung.
Tage vergingen, ohne dass ich auch nur eine Person gesehen hatte. Ich begann, mich vor Anrufen und Einladungen zu Zoom-Quizzen zu grauen. Denn sie erinnerten mich an mein altes Leben – Beziehungsdramen, Trennungen, Dinge, die meine Aufmerksamkeit beanspruchten. Außerdem wurde ich auch jedes Mal gefragt, was ich denn so in der Zwischenzeit gemacht hatte. Die Antwort lautete immer: „Nichts.“ Hatte ich etwa verlernt, wie man mit anderen verkehrt, oder hatte ich vielleicht einfach keinen Bock darauf?
Mit der Einführung der Impfstoffe werden wir in absehbarer Zukunft wieder an unsere geliebten dritten Orte zurückkehren können. Während einige von uns bereits Pläne schmieden, machen sich andere Sorgen um die Rückkehr zur Normalität und sind ganz schön nervös. Schließlich waren wir monatelang von unseren sozialen Kontakten und jenen Orten abgeschnitten, die uns doch einen Spiegel vorhalten und uns dabei helfen, unsere eigene Existenz zu verstehen. Wenn du dich also beim Gedanken an das Zurückkehren in die neue, alte Welt ein wenig ängstlich und überwältigt fühlst, weil dein sozialer Kreis durch die Pandemie geschrumpft ist und außerdem lange Zeit strengen Regeln ausgesetzt war, bist du mit diesem Gefühl alles andere als allein.
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Psychologin Dr. Heather Sequeira erzählt, dass sie „immer mehr Patient:innen zugewiesen bekommt, die wegen erhöhter sozialer Ängste, sozialem Stress und interessanterweise auch aus Sorge um ihr Aussehen professionelle Hilfe aufsuchen“. Heather erklärt, dass Letzteres als „Zoom-Dysmorphie“ bezeichnet wird und darauf zurückgeführt werden kann, dass wir unsere eigenen Gesichter bei Video-Calls jetzt ständig zu sehen bekommen. „Ich arbeite seit Kurzem mit mehreren Personen zusammen, die mit diesem Problem zu kämpfen haben“, sagt sie. Sie fügt hinzu: „Ich erkenne jetzt, dass diese Störung, die früher eher mit der jüngeren ‚Snapchat- und Instagram-Filter-Generation‘ in Verbindung gebracht wurde, heute ein viel breiteres Altersspektrum unserer Bevölkerung betrifft. Menschen, die noch nie über solche Beschwerden klagten, berichten von extremen sozialen Ängsten und Sorgen (sogar Besessenheit), seitdem sie nonstop mit ihren eigenen und fremden Bildern auf Bildschirmen konfrontiert sind. Diese Umstände führen dazu, dass wir unser Aussehen extrem genau unter die Lupe nehmen, uns mit anderen vergleichen und Äußerlichkeiten, mit denen wir unzufrieden sind, analysieren.“

Untersuchungen zeigen, dass Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen vor allem während der strengeren Lockdown-Phasen zugenommen haben.

Mit diesem Hintergrund wirkt die Rückkehr zu einem Face-to-face-Sozialleben beängstigend. Das ist ja auch verständlich. „Während des letzten Jahres“, fährt Heather fort, „haben wir uns teilweise an die neuen Umstände angepasst oder uns zumindest an eine geringere Aufnahme von ‚sozialen Daten‘ gewöhnt. In sozialen Situationen erwarten unsere Gehirne jetzt, mit weniger Informationen konfrontiert zu werden.“ Das liegt daran, dass im Moment die wenigsten unserer Interaktionen persönlich stattfinden und unsere Köpfe deshalb weniger Eindrücke aufzunehmen und folglich zu verarbeiten brauchen.
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Wann immer wir virtuell kommunizieren, fügt Heather hinzu, „haben wir nicht die Möglichkeit, alle Feinheiten der nonverbalen Kommunikation (Mimik, Gestik und Körperhaltung) zu erkennen. Somit hat unser Gehirn weniger Arbeit zu verrichten. Außerdem sind die seltenen persönlichen sozialen Interaktionen, die wir gerade haben, eher ‚geschäftlicher‘ als sozialer Natur: Das bedeutet, dass soziale Erfahrungen größtenteils vorhersehbarer sind, kürzer dauern und sich durch eine viel geringere Bandbreite an sozialer Dynamik auszeichnen.“ Wenn wir uns jedoch in echt treffen, erhalten wir viel mehr Informationen: Menschen unterbrechen einander, lächeln, lachen und ihre Körper drücken eine ganze Reihe von Emotionen aus.
„Sobald Face-to-Face-Treffen ohne Corona-Vorschriften wieder möglich sind, wird sich unser Gehirn wieder an das ‚volle Datenvolumen‘ gewöhnen müssen“, erklärt Heather. Am Anfang kann sich das möglicherweise überwältigend anfühlen und ziemlich anstrengend sein. Es ist normal, aus diesem Grund beunruhigt zu sein und solche Interaktionen deshalb vollständig vermeiden zu wollen.
„Gefühle von Ärger, Aufregung, Angst usw. werden mit hoher Wahrscheinlichkeit aufkommen, sobald wir uns wieder daran gewöhnen müssen, mehr soziale Daten zu empfangen und verarbeiten zu müssen“, fährt sie fort. „Ich bin mir sicher, dass viele es schon vor dem Lockdown als lästig empfunden haben, beim Sprechen unterbrochen zu werden. Jetzt aber kann es sein, dass uns solch ein Benehmen viel mehr ärgert, als es normalerweise der Fall wäre. Das hat damit zu tun, dass unser Gehirn nach den Lockdowns viel mehr Leistung erbringen muss (auf einer unbewussten Ebene), um mit der übermäßigen sensorischen Stimulation zurechtzukommen, wenn andere Leute um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Gleichzeitig werden wir gegen den Wunsch ankämpfen müssen, den anderen zu sagen, dass sie die Klappe halten und nacheinander sprechen sollen.“
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Unsere introvertierte Seite hat während der Lockdowns eine willkommene Pause vom ‚Kampf‘ gegen sozialen Stress, vom Aufsetzen eines ‚selbstbewussten Gesichts‘ und vom ständigen Zwang, sich in soziale Situationen zu begeben, erfahren.

Dr Heather SequeirA
Wenn sich all das anstrengend anhört, dann liegt das daran, dass es das auch ist. Das könnte auch erklären, warum sich die zukünftige Rückkehr an dritte Orte, die wir doch so sehr vermisst haben und nach denen wir uns zurücksehnen, wie ein zweischneidiges Schwert anfühlt. Heather merkt an, dass ein weiteres Problem darin besteht, dass diese Veränderung „eine Herausforderung für unsere eher introvertierte Seite sein wird“. Viele von uns sind ambivertiert. Das heißt, dass wir sowohl extrovertierte als auch introvertierte Tendenzen aufweisen. Heather sagt jedoch, dass „der introvertierte Teil von uns während der Lockdowns eine willkommene Pause vom ‚Kampf‘ gegen sozialen Stress, vom Aufsetzen eines ‚selbstbewussten Gesichts‘ und vom ständigen Zwang, sich in soziale Situationen zu begeben, erfahren hat.“ Deshalb ist zu erwarten, dass unser Stresslevel steigen und unsere Unruhe und Ängstlichkeit deutlich zunehmen werden, sobald wir uns wieder nach draußen wagen und unter Leute kommen können.
Dank der sozialen Medien wissen wir heutzutage immer, was unsere Freund:innen und Bekannten gerade tun. Wir erleben das Leben anderer Menschen in Echtzeit mit. Das verursacht in uns die Angst davor, etwas zu verpassen (das nennt sich FOMO: fear of missing out) und veranlasst uns dazu, dieser entgegenzuwirken, indem wir versuchen, Freude am Verpassen von Dingen (JOMO: joy of missing out) zu finden. Abgesehen von diesen Akronymen, die sich auf unsere komplexen Gefühlswelten beziehen, fällt etwas auf: Weil unsere Leben für alle sichtbar sind, konstruieren wir normalerweise unsere Verhaltensweisen und Identitäten immer in Bezug auf das Leben anderer Menschen und rechtfertigen sie damit. Während der Lockdowns war das seltener der Fall.
Es wird einige Zeit dauern, bis wir uns wieder an soziale Situationen an dritten Orten gewöhnt haben. Diejenigen von uns, die bisher die meiste Zeit zu Hause waren, werden sich Zeit nehmen müssen, um sich wieder als Teil einer Gemeinschaft fühlen zu können. Sie werden sich daran erinnern und sogar neu bewerten müssen, wer sie sind, wenn sie draußen in der Welt sind, umgeben von anderen Menschen – und nicht mehr allein. „Unter Leuten zu sein, könnte deshalb anfangs so etwas wie einen ‚introvertierten Kater‘ verursachen“, erklärt Heather. „Solche Momente werden uns zu Beginn etwas auslaugen und vielleicht sogar unsere Nerven strapazieren. Auseinandersetzungen mit Freund:innen und Missverständnisse bei der Kommunikation sind auch zu erwarten.“ Mit der Zeit wird sich aber alles wieder legen.
„Diese Stressreaktion wird in einigen Wochen allmählich wieder abklingen“, fügt Heather hinzu. „Uns dieser Faktoren und der Gründe, warum wir uns gestresster als sonst fühlen, bewusst zu sein, kann dabei hilfreich sein. Unsere Gehirne werden sich zunächst an die neuen Umstände anpassen müssen. Hab also Geduld mit dir selbst, denn dein Gehirn wird anfänglich auf Hochtouren laufen. Sei deshalb verständnisvoll und nett dir und anderen gegenüber. Im Laufe der Wochen wird sich alles langsam wieder normaler anfühlen.“

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