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Nein, du musst nicht dieselben Interessen haben wie dein:e Partner:in

Foto: Renell Medrano.
Ein Kätzchen. Da balanciert ein Kätzchen auf seinem Unterarm! Als ich das Tinder-Profil meines jetzigen Freundes zum ersten Mal sah, hielt ich kurz inne. Dieses Foto war eindeutig nicht nur ein Zeichen dafür, dass er Katzen mochte – sondern auch dafür, dass Katzen ihn mochten. Ich hatte mir schon ewig einen Katzenmenschen als Partner gewünscht, und weil er auf einem anderen Bild auch noch ein T-Shirt einer meiner Lieblingsserien trug, war ich mir sicher: Diese ähnlichen Interessen waren der Beweis dafür, dass wir quasi füreinander bestimmt waren. Und mit solchen Gedanken bin ich nicht allein.
Laut einer Umfrage von Healthy Framework sind ganze 61 Prozent aller datewilligen Leute in Dating-Apps auf der Suche nach Menschen mit ähnlichen Interessen. Eine Studie vom Pew Research Center ergab, dass 64 Prozent aller verheirateten Menschen der Meinung sind, gemeinsame Interessen seien für eine erfolgreiche Ehe entscheidend. Die Befragten bewerteten geteilte Interessen sogar als wichtiger als guter Sex oder ähnliche politische Meinungen. Aber warum denken wir so? Sind gemeinsame Interessen wirklich ausschlaggebend für eine langwährende Beziehung?
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Mein Freund und ich sind jetzt seit rund einem Jahr zusammen, und ich kann unsere gemeinsamen Interessen an einer Hand abzählen (abgesehen von Katzen und der Serie auf seinem T-Shirt wären da noch Pizza, Gras und Reggaeton, falls du jetzt neugierig warst). Ich schaue gerne Reality-TV; er hält das für Schrott und sieht sich viel lieber Horrorfilme an, die mich total stressen. Im Urlaub ist er besessen davon, das authentischste regionale Essen zu finden (je abenteuerlicher, desto besser), wohingegen mich die Vorstellung nervös macht, neues Essen auszuprobieren. Meine verkaterten Tage verbringe ich am liebsten mit kiloweise Fast Food im Bett; er geht hingegen lieber ins Fitnessstudio.
„Wenn du mit jemandem zusammenkommst, kann es sehr aufregend sein, wenn ihr viele Gemeinsamkeiten feststellt“, meint die Beziehungsexpertin Carmelia Ray dazu. „Im Laufe der Zeit kann es aber genauso kompliziert sein, zu viel gemeinsam zu haben, wie gar keine Gemeinsamkeiten zu haben.“
Dating-Apps wie Tinder fußen auf der Vorstellung, wir müssten jemanden mit ähnlichen Vorlieben und Abneigungen finden. Unterbewusst – oder auch bewusst – scannen wir die Profile anderer Leute nach Interessen, mit denen wir uns selbst identifizieren. Vielleicht denken wir dann sowas wie: „Ah, er trinkt gerne – Gott sei Dank“, oder: „Oh, sie shoppt gerne sonntags auf Flohmärkten? Ich auch!“ Die Suche nach Gemeinsamkeiten ist fester Bestandteil unserer modernen Dating-Kultur – und nimmt gefühlt jeden Tag extremere Formen an. Zu Tinders 2021er-Update gehörte die „Explore“-Funktion, die dir dabei helfen soll, Leute mit exakt denselben Interessen zu finden. Neuere Apps gehen da noch weiter in die Tiefe: POM behauptet, Nutzer:innen auf Basis ihres Musikgeschmacks zu matchen; Clover verkuppelt dich via Gruppen à la „Hundeliebhaber:innen“; Kippo schlägt Gamer:innen einander vor, die dieselben Spiele spielen.
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„Viele Leute verwechseln Kompatibilität mit Ähnlichkeit“, meint die Beziehungspsychotherapeutin Charisse Cooke. „Oft sind es die Unterschiede, die in einer Beziehung für Probleme und Konflikte sorgen können. Daher glauben wir, eine Beziehung mit jemandem, der oder die unsere Interessen teilt, könne uns vor Missverständnissen oder Streits bewahren.“
Vielleicht steckt hinter unserem Wunsch nach gemeinsamen Interessen auch eine Art Rebellion gegen die Beziehungen vorheriger Generationen, in denen Interessen kaum eine Rolle spielten? Schließlich heiraten wir erst seit rund 50 Jahren vorrangig aus Liebe. „Früher ging es in Beziehungen und Ehen vor allem um Sicherheit“, erzählt Cooke. „Teil einer Partnerschaft oder Familie zu sein, war aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen unheimlich wichtig.“ Die Anzahl gemeinsamer Interessen – oder genereller Ähnlichkeiten – war dabei eher Nebensache. Cooke vermutet, jüngere Generationen haben hingegen ein „Bedürfnis, ihre Leben zu verschmelzen“: Wir wollen die Welt genauso betrachten wie unsere Partner:innen, dieselben Überzeugungen vertreten und prinzipiell dasselbe tun wie sie. Dadurch, meint Cooke, glauben wir, weniger Stress und Beziehungsprobleme erwarten zu können.
Aber gehen wir in unserer Suche nach einem klonartigen „Typ“ zu weit?
Schließlich kann es auch große Vorteile haben, eben nicht dieselben Interessen zu teilen. „Wenn wir mit jemandem zusammen sind, der oder die sich für dasselbe interessiert wie wir, bleibt weniger Raum für Wachstum“, betont Cooke. „Vielleicht hörst du dadurch auf, Neues auszuprobieren.“
Die 27-jährige künstlerische Leiterin Hattie zum Beispiel hat einen völlig anderen Musikgeschmack als ihr Freund. Durch Kompromisse hat sie aber eine überraschende Wertschätzung für Genres entwickelt, die sie früher verachtet hatte. „Ich war absolut davon überzeugt, Musik ohne Gesang sei gar nicht mein Ding“, erzählt Hattie. Sie liebt Indie-Bands und Popsongs. „Heutzutage reicht es mir aber schon, wenn ein Song auch nur eine einzige Textzeile hat.“ Mittlerweile ist sie Fan von Dance-Festivals und hat in ihrer Jogging-Playlist Tom Odell gegen Caribou eingetauscht. Ihr Freund wiederum hat dank ihr inzwischen eine Vorliebe für Sam Fender und Holly Humberstone entwickelt – Künstler:innen, die ihm vorher zu „mainstream“ waren –, nachdem Hattie ihn auf ein paar Konzerte mitnahm.
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„Es ist wichtig, gemeinsam Neues zu entdecken, damit sich eure Beziehung im Laufe der Zeit weiterentwickelt und verändert“, meint Cooke. Das ist ein bisschen so wie der Echokammer-Effekt von Social Media: Wenn wir uns nur Meinungen und Informationen suchen, die unsere bestehenden Überzeugungen bloß noch bestärken, schränkt uns das geistig ein.
Unterschiedliche Meinungen und Interessen beugen außerdem Langeweile vor. Lizzie, 27, und Harry, 29, sind seit fast zehn Jahren zusammen; sie sind davon überzeugt, dafür seien vor allem ihre Unterschiede verantwortlich. „Einige Interessen haben wir voneinander übernommen. Es sind aber gerade die verschiedenen Interessen, die uns unsere Unabhängigkeit erhalten und uns eigene Freiräume schaffen“, meint Lizzie. Die beiden sind sich definitiv nicht in allem einig – vor allem, wenn es darum geht, was „Spaß“ bedeutet. Zum Beispiel: Sie mag Yoga, er steht auf Rugby. „Wir haben ja nicht ohne Grund auch noch eigene Freund:innen“, sagt Lizzie. „Mit denen teile ich die meisten Interessen.“
Ein Gefühl für eine individuelle Identität fernab der Beziehung ist vor allem auch dann entscheidend, wenn diese Beziehung in die Brüche gehen sollte. Die 27-jährige Steuerberaterin Lana* hat sich vor Kurzem nach zwei Jahren von ihrer Freundin getrennt. „Zum Glück habe ich mir meine Hobbys auch während der Beziehung erhalten. Das hat mir so sehr geholfen“, sagt sie. „Dadurch habe ich immer noch ein Gefühl von mir selbst. Meine Lieblingshobbys werden daher jetzt nicht von der Erinnerung an sie überschattet.“
Trennungen können deutlich traumatischer sein, wenn dich alles an deine:n Ex-Partner:in erinnert (eine kurze Trennung von meinem jetzigen Partner hätte meine Liebe für Katzen beinahe ruiniert). Cooke findet sogar, dass zu viele gemeinsame Interessen dafür sorgen können, dass eine Beziehung länger währt, als sie vielleicht sollte. „Dadurch kann es umso schwerer sein, die Beziehung zu beenden, weil du Angst hast, nie wieder jemanden zu finden, mit dem oder der du so viel gemeinsam hast“, sagt sie.
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Gemeinsame Hobbys können außerdem für unangenehmen Konkurrenzdruck sorgen. „Mein Freund und ich sind beide große Outdoor- und Fitness-Fans. Als wir zusammen anfingen zu klettern, dachte ich, das wäre eine tolle Möglichkeit, gemeinsam Spaß zu haben“, erzählt die 28-jährige Lehrerin Tanya*. „Er war aber viel besser und schneller als ich. Das kratzte ordentlich an meinem Selbstbewusstsein. Ich fühlte mich entmutigt, irrational wütend und hatte irgendwann überhaupt keinen Spaß mehr daran.“ Obwohl sie es theoretisch gut fände, wenn sich ihr Freund mehr für Joggen interessieren würde – ihren Lieblingssport –, fürchtet Tanya doch, das könnte sich so anfühlen, als würde er damit in ihre Identität eindringen. „Er ist von Natur aus ein sehr forscher, dominanter Typ. Weil ich eher zurückhaltend bin, würde mir das vermutlich so vorkommen, als würde er diesen Teil von mir übernehmen“, sagt sie.
„Unsere Gesellschaft hat uns die Vorstellung antrainiert, ähnliche Interessen seien dasselbe wie romantische Kompatibilität. Dabei reicht es in der Realität für eine glückliche, erfolgreiche, langfristige Beziehung nicht aus, ähnliche Interessen zu haben“, bestätigt auch Lisa Fei, Gründerin und CEO der Beziehungs-Wellness-App Clarity. „Ähnliche Werte und Moralvorstellungen spielen eine viel größere Rolle.“
Lana stimmt dem zu. „Ich habe festgestellt, dass es mir viel wichtiger ist, ähnliche Werte wie meine Partnerin zu haben. Zum Beispiel: Folgt ihr einem ähnlichen moralischen Kompass, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen? Wenn ihr nicht die Logik und den Entscheidungsprozess der jeweils anderen Person zu schätzen wisst, versteht ihr euch im Kern gar nicht wirklich.“
Respekt für die Unterschiede des Partners oder der Partnerin ist ebenfalls entscheidend. „Ich bin sehr spirituell veranlagt“, erzählt Tanya. „Und obwohl Jack* vielleicht gern mal die Augen verdreht, wenn ich sage, ich möchte das Haus mit Salbei reinigen oder meine Intentionen formulieren, würde er sich trotzdem niemals darüber lustig machen, bloß weil meine Interessen nicht mit seinen übereinstimmen.“
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Verschiedene Leidenschaften müssen auch nicht zwangsläufig bedeuten, dass ihr sie immer nur getrennt ausleben könnt. „Meine Ex und ich verbrachten oft ‚alleine Zeit zusammen‘“, sagt Lana. „Ich las ein Buch und sie übte an ihrem DJ-Pult. Wir verbrachten gemeinsam Zeit, aber eben mit unseren jeweiligen Hobbys.“
„Solange eure Werte übereinstimmen – und alles, was euch in einer Beziehung wirklich wichtig ist –, kann es sogar sehr gesund sein, verschiedene Interessen zu haben“, meint Fei. „Wenn eure Werte aber auseinandergehen – zum Beispiel eure Einstellungen zur Treue oder eure Lebensziele –, kann das langfristig fatale Konsequenzen für eure Beziehungen haben“, ergänzt Cooke.
Ja, ich liebe die ganzen Katzen-Memes, die mein Freund und ich hin- und herschicken. Und natürlich genießen wir es total, beim Pizzaessen ein bisschen zu kiffen und uns unsere Lieblingsserie zusammen anzuschauen. Ich gucke aber trotzdem weiterhin keine Horrorfilme und mag es auch immer noch nicht, neues Essen auszuprobieren. Genauso wenig wird mein Freund irgendwann mit mir Love Island gucken oder die neuesten Entwicklungen in der Modewelt mit mir diskutieren. Und das ist völlig okay. Ich habe eine Vielzahl toller Freund:innen, die all das mit mir machen – und noch viel mehr. Und hey, an verkaterten Tagen habe ich dann wenigstens meine Ruhe im Bett, wenn er zum Fitness geht.
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