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Hört auf, die Opfer vom Tinder-Schwindler zu beschuldigen

Foto: bereitgestellt von Netflix.
Pernilla Sjoholm
Netflix wird immer mehr zur Anlaufstelle für kontroverse und zum Nachdenken anregende Dokumentationen – und auch seine neueste Produktion sorgte für erhitzte Debatten auf Twitter.
Die Dokumentation Der Tinder-Schwindler stammt aus demselben Hause wie die Doku-Hits Don’t F*ck With Cats und Der Blender – The Imposter und erzählt die absurde Geschichte von Shimon Hayut (alias Simon Leviev), eines israelischen Betrügers, der sich als Sohn eines Diamantenmoguls ausgab, um ahnungslose Tinder-Matches auszutricksen. Indem er seinen Opfern bei ihren ersten Dates einen Milliardärs-Lifestyle vorspielte – Privatjets, Dinner in Luxus-Restaurants, Designerklamotten – und dann mit „Love-Bombing“ zu einer Beziehung drängte, startete Leviev danach die zweite Phase seines Betrugs: Er erklärte den Frauen, er sei in Gefahr, schickte ihnen Videos seines blutenden „Bodyguards“ und behauptete, er müsste jemand anderes Kreditkarte benutzen, um nicht verfolgt werden zu können. Dann tauchte er ab, nutzte sein neugewonnenes Geld, um sein nächstes Opfer zu verführen – und ließ seine vorherige Freundin mit einem Berg an Schulden sitzen. Als Leviev 2019 endlich erwischt wurde, wurde er zu nur 15 Monaten Haft verurteilt und wegen guter Bewährung nach schon fünf Monaten entlassen.
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Der Tinder-Schwindler konzentriert sich auf drei von Levievs Opfern und deren furchtbare Geschichten. Trotzdem hat die zweistündige Dokumentation in ihrem Publikum nicht unbedingt nur Mitleid für Cecilie Fjellhøy, Pernilla Sjoholm und Ayleen Charlotte erweckt, die sich mutig dazu entschieden, ihre Storys vor der Kamera zu erzählen, nachdem Leviev ihnen umgerechnet über 500.000 Euro geklaut hatte. Als die Doku an die Spitze der Netflix-Charts schoss, wurde auf Twitter schon fleißig über die Erlebnisse von Cecilie, Pernilla und Ayleen diskutiert – und scheinbar sind die meisten Zuschauer:innen der Meinung, die betrogenen Frauen seien offensichtlich „dumm“ gewesen. 
„Frauen, die Männern Geld geben, die sie gerade erst kennengelernt haben, mögen Geld meiner Meinung nach einfach nicht genug & da liegt das Problem #tinderswindler“, kommentierte jemand. Andere sahen das ähnlich: „Die Frauen, die in ‚Tinder-Schwindler‘ betrogen wurden, sind einfach sooooo dumm“, und: „‚Der Tinder-Schwindler‘ hat mich echt aufgeregt. Wie können Frauen so dumm sein? Wie kann man wegen der ‚Feinde‘ eines Typen einfach einen 25.000-Pfund-Kredit aufnehmen? Haben wir denn gar nichts gelernt?“
Die Leute, die sich so oder so ähnlich über die Opfer auslassen, sind nicht die üblichen rechten, verbitterten Männer. Das sind Tweets von jungen Frauen, die andere vermutlich direkt für solche Opferbeschuldigung kritisieren würden, wenn es dabei um irgendeine andere Form finanziellen Betrugs ginge. Um zu verstehen, warum Twitter hingegen die Opfer von Liebesbetrug so schnell als „dumm“ und „selbst schuld“ abstempelt, müssen wir erstmal verstehen, wie es zu so einem Betrug überhaupt kommt.
Foto: bereitgestellt von Netflix.
Ayleen Charlotte
„Wir sind von Natur aus anfällig für solchen Betrug, weil wir uns wünschen, uns zu verlieben“, erklärt die Psychotherapeutin Marisa Peer. „Außerdem werden wir von [Mediendarstellungen] beeinflusst, die uns weismachen wollen, es käme sicher irgendwann der ‚große, dunkelhaarige Fremde‘, der unser Herz im Sturm erobert“, sagt sie. „Wir sind darauf programmiert, daran zu glauben, dass wir unsere ‚bessere Hälfte‘ finden und unser Happy End erleben werden. Rein logisch betrachtet wissen wir zwar, dass das nicht wahr ist – aber in einem Kampf zwischen Emotionen und Logik gewinnt die logische Hirnhälfte nicht oft. In Sachen Liebe treffen wir emotionale Entscheidungen, keine logischen.“
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Genau diesen Punkt betont die Dokumentation direkt von Anfang an. Als uns Fjellhøy zu Beginn von Der Tinder-Schwindler erzählt, wie sie sich verliebte, spricht sie idealistisch von der Romantik, die sie als Kind durch Disney-Filme vermittelt bekam und die beeinflussten, wie sie sich die Liebe auch als Erwachsene vorstellte. Ihre Worte werden von Szenen aus Die Schöne und das Biestuntermalt, als sie lächelnd sagt: „Das bleibt einfach hängen – dieser Glaube daran, dass dich ein Prinz retten wird.“
Keine Frage: Fjellhøys Worte klingen naiv – vor allem, weil sie Frauen als „Jungfrauen in Nöten“ darstellen, die gerettet werden müssen. Es ist aber genau diese „Bedürftigkeit“, die oft als ausschließlich weiblich gilt, wegen der viele Menschen kein oder weniger Mitleid mit Opfern von Liebesbetrug empfinden.
Obwohl viele Leute schnell die Augen verdrehen, wenn Fjellhøy ihr Bild von Romantik beschreibt, ist es gar kein so untypisches, vor allem unter Frauen. Das Phänomen hat sogar einen eigenen Namen: das „Prince Charming“-, also „Traumprinz-Syndrom“. Selbst wenn wir erkennen, dass die Geschichte, die uns unser:e Partner:in erzählt, sich nicht plausibel anhört, meint Peer, dass wir es gesellschaftlich so gewohnt sind, in einer Beziehung selbst absurde Details zu „übersehen“, die eine objektive Person sofort als Quatsch erkennen würde.
„Ob wir es selbst merken oder nicht: Frauen wird gesellschaftlich vermittelt, wir sollten unsere ‚Seelenverwandten‘ finden“, sagt Peer. „Wenn uns etwas präsentiert wird wie, Dieser Milliardärssohn liebt mich und nur ich kann ihm sein Leben retten, indem ich ihm meine Kreditkarte gebe, wissen wir vielleicht, dass das nicht real ist – wir sind aber emotional geblendet. Wir treffen eine emotionale Entscheidung, basierend auf seiner Story. Betrüger:innen sind sehr gut darin, diesen emotionalen Aspekt in der Romantik zu bedienen. Sie können den Wunsch ihrer Opfer nach einer glücklichen Beziehung ausnutzen und sagen dazu Dinge wie: ‚Wir sind dafür bestimmt, zusammen zu sein. Du bist der:die Einzige für mich.’ Wir hören nicht auf die logische Stimme in unserem Kopf, sondern handeln nach unseren Gefühlen.“
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Foto: bereitgestellt von Netflix.
Cecilie Fjellhøy
Dieser generelle Mangel an Mitgefühl für Opfer solcher Betrugsmaschen, verglichen mit den Opfern anderer Verbrechen, hat auch mit unserer Unfähigkeit zu tun, Levievs Betrug aus emotionaler Sicht zu betrachten. „Wenn wir Der Tinder-Schwindler schauen, haben wir eine gewisse Distanz zu den Ereignissen“, sagt Peer. „Wir nutzen dazu die logische Hälfte unseres Hirns, weil wir nicht emotional in die Geschichte involviert sind. Viele Leute glauben, diese Frauen seien selbst schuld an dem Betrug, weil sie sich diesen Lifestyle wünschten, und hätten die Warnsignale erkennen sollen. Weil wir selbst nicht so emotional betroffen sind, erkennen wir die Warnsignale. Unser fehlendes Mitgefühl hängt mit unserem logischen Denken zusammen: Wir sind der Meinung, sie hätten es besser wissen müssen.“
Diese abwertende Haltung gegenüber Levievs Opfern hat womöglich auch zum Teil mit verinnerlichtem Frauenhass zu tun – der Meinung, nur Frauen könnten auf sowas reinfallen, weil Frauen für solchen Betrug anfälliger seien. Das äußert sich beispielsweise auch darin, dass die besonders kritischen Twitter-Nutzer:innen die Frauen häufig als „Mädchen“ bezeichnen und damit deren vermeintliche Naivität und fehlende Erfahrung andeuten. „Der Tinder-Schwindler vermittelte den Eindruck, er habe Geld und Macht, und die Frauen sind darauf reingefallen“, meint Peer. „Viele stempeln sie als Gold-Digger ab, obwohl sich diese Frauen gar nicht unbedingt zu dem Milliardärs-Lifestyle hingezogen fühlten, sondern einfach jemandem helfen wollten, der  behauptete, in Gefahr zu sein.“
Während Fjellhøy ihre Geschichte erzählt, wird eine Szene aus Blondinen bevorzugt eingespielt, in der Marilyn Monroe haucht: „Wissen Sie denn nicht, dass es sich mit einem reichen Mann genauso hält wie mit einem hübschen Mädchen? Vielleicht heiraten Sie keine Frau nur dafür, dass sie hübsch ist – aber mal ehrlich, hilft das nicht?“ Selbst die logischsten Zuschauer:innen werden hier unterbewusst dazu ermutigt, Fjellhøy als jemanden zu betrachten, die sich nach finanzieller Sicherheit sehnte – und vielleicht sogar davon geblendet war.
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Es ist eine sexistische Falschannahme, zu glauben, nur Frauen könnten auf solche Betrugsmaschen reinfallen. „Wir haben eine unheimlich verfälschte Sicht auf den Zusammenhang zwischen Liebesbetrug und Gender“, erklärt Tim Holmes, Dozent für Kriminaljustiz an der Bangor University. „Dasselbe gilt für ältere Leute und soziale Netzwerke. Der Glaube, dass manche Menschen – wie Frauen und Ältere – in Hinsicht auf Liebesbetrug naiver seien als andere, ist weit verbreitet. Die Daten, die bisher zum Liebesbetrug  gesammelt wurden, beweisen aber, dass das nicht stimmt.“
Tatsächlich ist es naiv, davon auszugehen, selbst niemals auf einen Liebesbetrug reinfallen zu können – vor allem, weil sich diese Betrüger:innen immer ausgeklügeltere Methoden einfallen lassen. Leviev zum Beispiel gaukelte sein Fantasieleben umso überzeugender vor, indem er es durch Dokumente und Aufnahmen belegte. „Menschen aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten fallen solchen Maschen zum Opfer“, sagt Peer. „Diese Frauen werden hart dafür verurteilt, dass sie sich von etwas sehr Glaubhaftem um den Finger haben wickeln lassen. Wenn du dir Betrüger wie Frank Abagnale aus Catch Me If You Can ansiehst, lief es da nicht anders: Er knöpfte diversen Industrien Millionen von Dollar ab, obwohl die es alle hätten ‚besser wissen‘ sollen. Es ist aber etwas anderes, wenn du selbst drinsteckst. Du wirst da einfach mitgerissen.“
Und nicht alle Zuschauer:innen von Der Tinder-Schwindler hatten so wenig Mitgefühl für Levievs Opfer. Als Fjellhøy, Sjoholm und Charlotte via GoFundMe das Geld sammeln wollten, das Leviev ihnen abgeknöpft hatte, kamen ihnen viele Fans zu Hilfe und spendeten innerhalb von nur drei Tagen über 50.000 Pfund (umgerechnet fast 60.000 Euro). Paradoxerweise ist es genau dieses menschliche Bedürfnis, anderen helfen zu wollen, auf das sich die Betrüger:innen bei diesen Liebesmaschen verlassen. 
„All diejenigen, die da draußen nach Liebe und Romantik suchen, gehen dieses Risiko irgendwann ein“, meint Holmes. „Wir sind alle naiv, wenn wir eine neue Beziehung eingehen. Ich bin der Meinung, dass jede Form von Betrug ein Missbrauch des Vertrauens ist, auf das wir uns alle verlassen. Wir sind gute Menschen, die Gutes von anderen erwarten – und daher darauf vertrauen, dass man ehrlich mit uns umgeht. Der Tinder-Schwindler präsentierte seinen Lifestyle ganz offen, um ein tiefes Vertrauen in diesen Frauen zu erwecken – und nutzte sie dann so stark aus, wie er nur konnte.“

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