Achtung: Spoiler für Love Is Blind Staffel 4, Episoden 1-5, direkt voraus!
Es gibt eine ganz bestimmte Szene in der vierten Staffel von Love Is Blind, die darauf hindeutet, dass diesmal alles anders laufen könnte als in vorherigen Staffeln. In Episode 4 sehen sich Zack Goytowksi (ein Strafverteidiger aus Seattle) und seine Verlobte zum allerersten Mal. Das Treffen läuft nach dem üblichen LIB-Schema: Die Türen öffnen sich, die beiden laufen aufeinander zu und fallen sich in die Arme. Doch diesmal findet die Verlobte… ungewöhnliche Worte für ihren Zukünftigen. Irina Solomonova sagt zu Zack: „Du hast einen total leeren Blick… Du siehst aus wie ein fiktiver Charakter. Wie eine Cartoonfigur.“ Kurz darauf macht sie ihm klar, sie finde seinen Gesichtsausdruck „creepy“. Fairerweise muss man sagen, dass Zack sie tatsächlich sehr intensiv anstarrt – so, als sei er sich nicht sicher, wer dieser Mensch eigentlich ist, der ihm da jetzt gegenübersitzt. Und während die frisch Verlobten beinahe wortlos nebeneinanderhocken, wird uns, dem Publikum – und vielleicht auch Zack –, zum ersten Mal klar, dass sich Zack eventuell die falsche Person ausgesucht hat.
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Klar, auch das haben wir in der Serie schon erlebt. In der ersten Staffel gingen Diamond Jack und Carlton Morton nach einem dramatischen Streit in Mexiko getrennte Wege. In der zweiten Staffel schien es zwischen Shayne Janson und Shaina Hurley auch außerhalb der Kabinen noch zu knistern (zumindest von Shainas Seite aus), obwohl sich Shayne eigentlich für Natalie Lee entschieden hatte. Solche Dramen sind spannende Unterhaltung; diesmal gibt es aber einen Unterschied: Zack und Irina trennen sich schon vor dem Altar und beenden ihre Beziehung am Ende von Folge 5, kurz vor der Rückreise nach Seattle, nachdem sie den ganzen Urlaub über mit einer Kissenwand in der Mitte des Bettes geschlafen haben – und Zack trifft sich daraufhin in Seattle mit seiner „zweiten Wahl“ Bliss. Zack und Irina sind dabei nicht die Einzigen in dieser Staffel, die im Laufe der Episoden Schwierigkeiten damit haben, sich ganz auf ihre Verlobten zu konzentrieren. So beobachten wir zum Beispiel Kwame Appiah dabei, wie er eine der Frauen trifft, die ihn in den Kabinen abblitzen ließ – und daraufhin Probleme hat, wirklich mit ihr abzuschließen. Das Ergebnis ist ein absolutes Chaos, aber ein sehr realistisches. Schließlich ist Dating chaotisch! Und letztendlich ist es genau diese Mischung aus Drama, Unsicherheit und ins Wanken geratenen Beziehungen, die Staffel 4 zur bisher besten von Love Is Blind machen – denn genau wegen all diesem Chaos ist sie am realistischsten.
Um eins direkt klarzustellen: „Realistisch“ trifft auf die Serie prinzipiell eigentlich kaum zu. Kaum eine Reality-Dating-Show ist auch nur ansatzweise realistisch. Beim Bachelor kämpfen 25 Frauen um die Aufmerksamkeit eines ziemlich mittelmäßigen Kerls; in Perfect Match konkurrieren bindungsängstliche Hotties aus dem ganzen Netflix-Universum auf einer Insel miteinander; und Love Is Blind fußt auf der „Theorie“, dass sich zwei Leute kennenlernen, verlieben und verloben können, ohne sich überhaupt zu sehen. Damit will die Show im Kontrast zum modernen Dating stehen (bei dem der körperliche Kontakt oft vor der emotionalen Tiefe kommt) und Leute miteinander verkuppeln, die sich im „echten“ Leben vielleicht nie aufeinander eingelassen hätten. Dass das funktioniert, haben wir bereits gesehen: Das Fan-Favoriten-Pärchen Cameron Hamilton und Lauren Speed ist nach vier Jahren immer noch verheiratet, und in Staffel 4 gelten Tiffany Pennywell und Brett Brown als das Paar schlechthin – trotz kleiner Stolpersteine (Tiffany schlief ein, als ihr Brett gerade poetisch seine Liebe erklärte).
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Und obwohl so eine Märchen-Lovestory, die erstmal ganz ohne das Körperliche auskommt, auf dem Bildschirm natürlich spannend mitanzusehen ist, ist sie eben auch sehr, sehr selten. Die Realität ist nämlich die, dass Dating für viele von uns nicht so geradlinig und unkompliziert abläuft. In Wahrheit ist Dating voller Unsicherheiten und Kommunikationsprobleme und wird auch von so vielen Faktoren aus der realen Welt beeinflusst. Und ja, dazu gehört eben auch die körperliche „Chemie“.
Trotz dessen, was Serien wie Love Is Blind uns glaubhaft machen wollen, ist die körperliche Anziehung für viele Leute wahnsinnig wichtig. Wer von uns hatte bisher noch kein Date mit jemandem, der oder die zumindest in der Theorie „perfekt“ für uns sein sollte und emotional genau auf derselben Wellenlänge ist, bei einem Kuss dann aber überhaupt keine Funken versprüht? Die Bindung zwischen Irina und Zack verpufft quasi innerhalb von Sekunden, nachdem sich die beiden zum ersten Mal sehen – und das ist völlig okay.
Abgesehen von der körperlichen Anziehung spielen auch noch andere Faktoren dabei eine Rolle, wie sehr wir uns zu jemandem hingezogen fühlen. Zum Beispiel, ob sich diese Person mit deinen Freund:innen versteht, wie sie auf Konflikt reagiert, ob ihr Lifestyle mit deinem kompatibel ist, oder ob sie sich die Arme und Beine rasiert (eine Gewohnheit von Zack, die Irina abtörnte). Diese Faktoren sollten genauso berücksichtigt werden wie die emotionale Kompatibilität und körperliche Anziehung. Zack sagt dazu gegenüber Refinery29: „Viele von uns hatten ähnliche Konflikte. Schließlich daten wir [in der Show] mehrere Leute gleichzeitig und versuchen rauszufinden, wer diese Menschen wirklich sind, ohne mit ihnen in der echten Welt zu interagieren. Das ist eine Herausforderung. Schließlich kann man sich ganz einfach hinter einer Wand als eine bestimmte Person ausgeben. Wenn diese Wand aber weg ist und du mit diesem Menschen in der echten Welt zusammenlebst, findest du raus, wer er wirklich ist.“
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Und Fakt ist: Trotz der märchenhaften Idee hinter Love Is Blind hat die Serie nicht allzu viele Erfolgsgeschichten vorzuweisen. Nach Staffel 1, in der zwei Paare heirateten (und beide noch zusammen sind), sind keine der Pärchen aus Staffel 2 noch verheiratet (es gab zwei Scheidungen), und nach Staffel 3 kam es zum Untreue-Skandal. Vielleicht wissen die Kandidat:innen von Staffel 4 daher, dass sie strategisch vorgehen sollten, um rechtzeitig herauszufinden, ob diese Person wirklich in ihr Leben passt – auch außerhalb einer emotionalen Bindung in den Kabinen.
Wohingegen sich das Shayne/Shaina-Debakel sehr inszeniert anfühlte (oder zumindest so, als suche ein bindungsängstlicher Mann nach einem Fluchtweg), wirkt das „Austesten“ verschiedener Bindungen in dieser Staffel deutlich absichtlicher und überlegter. Genau deswegen sollte es nicht von vornherein verurteilt werden, potenzielle Bindungen zu anderen Leuten zu erkunden (solange es nicht direkt zum Seitensprung ausartet). Indem du dir darüber Gedanken machst, was dich mit anderen Leuten verbindet und dich ihnen näher bringt, kann dir das nämlich helfen herauszufinden, was dir in deiner aktuellen Beziehung fehlt – das gilt sowohl für die Show als auch für die „echte“ Welt. So lief es auch mit Irina und ihrem kurzen Kontakt zu Paul Peden, der mit Irinas Freundin Micah Lussier verlobt ist. Wie Irina gegenüber Refinery29 betont, hatte sie zwar nicht die Absicht, Paul für sich zu gewinnen (Irina und Micah sind immer noch BFFs) – und doch öffneten ihr die stimulierenden Gespräche und guten Vibes zwischen ihr und Paul die Augen. Es ließ sie nämlich einsehen, dass es ihrer Beziehung mit Zack an etwas fehlte. „Das war etwas, was ich unbedingt mit Zack spüren wollte“, erzählt sie. „Als ich Paul sah, wurde mir klar, was ich nicht mit Zack hatte und was ich mir mit meinem zukünftigen Ehemann wünsche.“
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Genau deswegen war es so erfrischend, Irina und Zack dabei zuzusehen, wie sie nach dem Ende ihrer Verlobung ganz ehrlich (und brutal) ihre Gefühle miteinander teilten. („Das war f*cking furchtbar“, um es mit Zacks Worten zu sagen; und Irina verriet ihm, dass sie am liebsten abgehauen wäre, als sie ihn zum ersten Mal sah.) Beide verstehen, dass das Ziel dieser Serie (die Ehe) etwas sehr Ernstes ist, und sind sich darüber bewusst, was sie sich von jemandem wünschen und erhoffen, um diese Person heiraten zu können. Dieses Wissen über die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen ergibt sich oft erst dann, wenn du einige Leute gedatet hast – und ja, das kann auch ein bisschen chaotisch ablaufen. Wie Irina sagte, kurz bevor sie Zack zum ersten Mal sah: „Ich will entweder Hals über Kopf verliebt sein, oder gar nicht.“ Und mit Zack war es eben „gar nicht“. „Ich hatte das Gefühl, das tun zu müssen, was für mich am besten ist. In der Hinsicht bereue ich gar nichts“, sagt sie gegenüber Refinery29. „Und ich finde es toll, dass wir alle das getan haben, was für uns am besten war – selbst wenn das ein bisschen unangenehm war oder schief lief –, und niemanden unter Druck gesetzt haben, etwas zu tun, was er oder sie falsch empfindet. Alles passiert aus einem bestimmten Grund.“
Und ist es letzten Endes nicht genau das, was wir uns von diesen Reality-Dating-Shows erhoffen? Ja, wir lieben das Drama und einen Hauch von Schadenfreude; wenn uns die schwächelnden Einschaltquoten und die Diskussionen rund um die Authentizität vom Bachelor(ette)-Franchise aber eins zeigen, dann, dass wir uns etwas Realistisches wünschen, in das wir uns hineinversetzen können (oder zumindest etwas, das nicht von den Produzent:innen als fake-realistisch inszeniert wird). Und genau das bekommen wir in Staffel 4 von Love Is Blind. Irina und Zack bei ihrem emotionalen Hin und Her zu beobachten oder Kwame dabei zuzusehen, wie er sich darum bemüht, mit Micah abzuschließen, ist nicht nur total realistisch, sondern erlaubt es uns auch, dasselbe in unserem eigenen Leben zu tun – und damit Frieden zu schließen. „Es ist alles echt“, erzählt Chelsea Griffin, die (zumindest am Ende von Episode 5) mit Kwame verlobt ist, gegenüber Refinery29. „Diese Show kultiviert echte Bindungen, echte Liebe. In ihrem Kern will diese Serie wirklich, dass du Liebe in ihrer echtesten Form findest.“
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Also: Ja, Love Is Blind ist ein einziges Chaos. Aber haben wir nicht alle schon mal gedacht, unser eigenes Liebesleben – die peinlichen Tinder- oder Bumble-Chats, das brutale Ghosting, die gebrochenen Herzen – sei perfektes Material fürs Reality-TV?
Neue Folgen von Love Is Blind Staffel 4 erscheinen am kommenden Freitag auf Netflix.
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