In Sachen Gesundheit gibt es viele Mythen, die wir für vermeintliche Fakten halten. Wir glauben zum Beispiel, dass wir zwei Liter Wasser täglich trinken sollten, dass sich unsere Gesundheit am BMI ablesen ließe und Kalorienzählen die beste Möglichkeit sei, um abzunehmen. Diese „Fakten“ gehören nicht ohne Grund zum Allgemeinwissen: Sie klingen wissenschaftlich plausibel und lassen sich nachweisen. Wenn du aber ein bisschen tiefer in die Materie einsteigst, stellst du manchmal fest, dass dieses angebliche „Wissen“ auf einer Mischung aus Mythen, Marketing und wissenschaftlichen Hypothesen basiert. Die Realität dessen, wie unsere Körper funktionieren und was wir über sie verstehen können, ist viel komplizierter als ein paar Zahlen, Formeln oder Ideen.
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Obwohl ich das weiß, bin ich doch immer wieder erstaunt, wenn sich vermeintliche „Fakten“ als Fiktion herausstellen. Gerade erst überraschte mich ein Psychiater, als er mir sagte, dass Depression vermutlich nicht das Ergebnis eines chemischen Ungleichgewichts oder eines Serotoninmangels im Gehirn ist – obwohl viele von uns fest davon überzeugt sind. Es ist alles viel komplizierter.
Die Vorstellung, dass Depressionen eine biologische Ursache haben, ist nicht neu. (Achtung, jetzt wird’s ein bisschen historisch.) Die Hypothese, die Serotonin mit Depressionen in Verbindung brachte, wurde in den 1960ern von einem Wissenschaftler namens Joseph Schildkraut in die Welt gesetzt, erzählt mir Dr. Mark Horowitz, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter für Psychiatrie am University College London (UCL). Damals fanden Forschende heraus, dass Medikamente, die den Serotoninpegel im Hirn anhoben, die Stimmung der Untersuchten zu verbessern schienen. Sie schlussfolgerten, dass ein Serotoninmangel womöglich der Auslöser einer Depression sein könnte. „Wir wissen jetzt, dass das ungefähr so viel Sinn ergibt, als würden wir für Kopfschmerzen einen Paracetamol-Mangel oder für soziale Phobie einen Alkohol-Mangel verantwortlich machen.“
Schildkrauts Serotonin-Idee verbreitete sich rund 20 Jahre lang in der Wissenschaft – ohne eindeutigen Beweis, aber auch noch ohne praktische Anwendung. Währenddessen wurden Benzodiazepine wie Valium und Librium immer bekannter. Diese milden Beruhigungsmittel wurden gegen Stress, Angststörungen und andere mentale Probleme verschrieben. In den 80ern war damit aber erstmal Schluss. „In den späten 1980ern steckten Benzodiazepine in der Krise“, erklärt Dr. Joanna Moncrieff, Professorin für Psychiatrie am UCL. „Sie waren sehr vielen Leuten verschrieben worden, und es wurde langsam klar, dass es diesen Patient:innen schwer fiel, sie wieder abzusetzen. Außerdem waren die Medikamente für ganz diverse ‚Probleme‘ verwendet worden.“
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Joanna vermutet, dass die Pharma-Branche damals versuchte, die öffentliche Aufmerksamkeit von Angststörungen (wogegen die Beruhigungsmittel eigentlich verschrieben werden sollten) auf Depressionen umzulenken, um die neuen Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) zu vermarkten – eine neue Form der Antidepressiva, die angeblich wirkten, indem sie den Serotoninpegel im Gehirn anhoben.
„Ich habe keine Beweise dafür, aber ich glaube, dass die Pharma-Industrie die Vorstellung vom ‚chemischen Ungleichgewicht‘ erfand, um das Benzodiazepin-Problem zu lösen“, sagt Joanna. „Das chemische Ungleichgewicht, vor allem die Serotonin-Story, überzeugte die Leute davon, dass sie etwas einnahmen, das gezielt ein Problem behandelte.“
Seitdem haben wir aber 60 Jahre an Forschungsergebnissen über den Serotoninspiegel depressiver Menschen hinzugewonnen. „Man hat sich das Blut von depressiven Menschen angesehen und es mit nicht-depressiven Menschen verglichen. Dasselbe gilt für den Urin, das Gehirn, die Hirnflüssigkeit. Wir haben überall nachgesehen“, erzählt Mark. Manche Studien zum Serotoninspiegel ergaben einen leicht erhöhten Spiegel bei depressiven Menschen; andere Studien zeigten das Gegenteil, nämlich einen niedrigeren Spiegel, andere wiederum fanden gar keinen Unterschied. „Insgesamt lässt sich sagen, dass es dahingehend keinen Unterschied zwischen Patient:innen mit oder ohne Depression gibt. Die Hypothese eines chemischen Ungleichgewichts oder niedrigen Serotoninspiegels wird deswegen in akademischen Kreisen abgelehnt.“
Diese Neuigkeit scheint aber bisher nicht bei uns Nicht-Akademiker:innen angekommen zu sein. „Wenn du Patient:innen nach der Ursache für Depressionen fragst“, sagt Mark, „werden dir rund 85 bis 90 Prozent von ihnen sagen, das hinge mit einem chemischen Gleichgewicht oder einem niedrigen Serotoninspiegel zusammen.“
Kurz gesagt: Wir haben keine eindeutigen Hinweise darauf, dass ein Serotoninmangel ein Auslöser für Depressionen sein könnte. Wir wissen zwar, dass SSRIs das Leben von depressiven Menschen deutlich verbessern können, indem sie den Serotoninspiegel anheben; wenn es dabei aber nur um das Serotonin ginge, würde es nicht Wochen oder gar Monate dauern, bis die Medikamente anschlagen. Bis heute wissen wir gar nicht genau, wieso SSRIs überhaupt wirken. Und das ist deutlich komplizierter und weniger einprägsam als die Gleichung „wenig Serotonin = Depression“.
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Und dennoch reden wir häufiger über Serotonin denn je. Die Google-Suchanfragen nach „Serotonin“ legen schon seit 2014 rapide zu, Instagram ist voller Serotonin-Memes, auf Twitter sprechen die Leute davon, ihre Fandoms würden ihnen einen „Serotonin-Boost“ verleihen, und andere erstellen TikToks darüber, schon immer unter einem „chemischen Ungleichgewicht“ gelitten zu haben.
Diese Bauernweisheit ist so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, dass ich erst davon erfahren habe, wie umstritten die Theorie eigentlich ist, als ich mich mit Mark für einen anderen Artikel über Antidepressiva und darüber unterhielt, wieso sie mit der Zeit an Wirkung verlieren können. Er erwähnte den Serotonin-Mythos nur ganz beiläufig, und ich war davon so überrascht, dass ich direkt darauf zurückkommen musste. In unserem nächsten Gespräch erzählte er mir dann, dass meine Reaktion ziemlich normal sei. Er habe dasselbe schon mehreren Journalist:innen erzählt, denen ebenfalls nicht klar gewesen war, dass die Theorie ein Mythos ist. Tatsächlich glaubte er während seiner Doktorandenzeit selbst noch daran, bis er nach Quellen zu der Theorie suchte und nichts Plausibles fand. „Die Hypothese saß bei mir so tief, dass ich ganz automatisch davon ausging, sie müsse stimmen.“
Aber wenn doch dafür sämtliche Beweise fehlen, wie kann es dann sein, dass die Serotonin-Theorie heute zum Allgemeinwissen gehört?
Die Antwort ist wenig überraschend: Das haben wir womöglich der Pharma-Industrie zu verdanken. Mark meint: „Als sie in den 1980ern für neue Antidepressiva wie Prozac (Fluoxetin) Werbung machen wollten, stürzten sich Medikamentenfirmen auf diese Theorie und befeuerten sie weiter. Sie erzählten Ärzt:innen und Patient:innen, niedrige Serotoninwerte oder ein chemisches Ungleichgewicht seien für Depressionen verantwortlich – sie hätten aber genau die richtigen Medikamente dagegen!“ Er ergänzt, dass „diese 20 Jahre alte Hypothese perfekt zu ihren Marketingzielen passte“. Sie konnten dadurch eine klare, direkte Linie zwischen Depressionen, Biologie und ihren Medikamenten ziehen und das Ganze so erklären wie jeden anderen körperlichen Mangel.
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Diese Message zu einer klaren Ursache und Wirkung war auch nicht sonderlich subtil. „Es gibt Werbung aus der Zeit – in medizinischen Zeitschriften und sogar im TV –, die behauptet, Depressionen würden von einem chemischen Ungleichgewicht ausgelöst, das dieses oder jene Medikament beseitigen könne“, erklärt Mark. „Diese Werbebehauptungen gingen daraufhin ins Allgemeinwissen rund um Depressionen und Angststörungen über, und es gab seitdem keine großen Bemühungen, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass das gar nicht stimmt.“
Dieses Wissen ist viel mehr als nur eine Art „Ha, erwischt!“ in Richtung großer Pharma-Firmen, viel mehr als nur ein „Fun Fact“. Mit unserem vermeintlichen „Wissen“ darüber aufzuräumen, dass Depressionen nur durch einen Serotoninmangel oder ein chemisches Ungleichgewicht bedingt seien, lässt uns das echte Wie und Warum der Depression besser verstehen, sie besser behandeln und uns hinterfragen, was genau SSRIs im Gehirn eigentlich anrichten. Die Wahrheit ist nämlich, dass wir immer noch nicht genau wissen, wie sie eigentlich funktionieren.
„SSRIs wirken sich durchaus aufs Serotonin-System aus“, erklärt Joanna, „können aber genauso gut auch andere Systeme beeinflussen. Was uns die Forschungsergebnisse zeigen, ist, dass sie verglichen mit Placebos den Depressions-Score auf einer Skala sehr wohl leicht verändern. Diese Veränderung ist aber, verglichen mit Placebos, nur sehr gering und vermutlich nicht klinisch relevant.“
Wenn SSRIS ein zugrundeliegendes Ungleichgewicht also nicht ausgleichen können, wäre es dann möglich, dass sie sogar selbst für das Ungleichgewicht verantwortlich sein könnten? „Wenn sich ein depressiver Mensch effektiv nicht von einem nicht-depressiven, aber langfristig schlecht gestimmten Menschen unterscheidet, sorgt ein Medikament, das den Serotoninspiegel in seinem Gehirn hebt, für ein abnormales neurochemisches Ungleichgewicht“, erklärt Joanna.
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Das soll sich jetzt nicht verängstigend anhören; wir wissen vielleicht nicht, warum SSRIs funktionieren, aber für viele Menschen – inklusive mir – tunsie es tatsächlich. Ich nehme eine hohe Dosis Fluoxetin, um die Zwangsstörung zu durchbrechen, die ich vor drei Jahren entwickelt habe und sich durch keine Therapie oder Meditation bekämpfen ließ.
Wenn wir die vereinfachten biologischen Erklärungen hinterfragen, die in unserer Gesellschaft die Runde machen, können wir dadurch die soziokulturellen und psychologischen Faktoren beleuchten, die unsere mentale Gesundheit beeinflussen. So können wir uns nach zusätzlichen Behandlungsformen umsehen, die eben nicht bloß auf Medikamente setzen. Wie Mark sagt: „Psychiater:innen sind letztlich Ärzt:innen – und die verlassen sich häufig auf das biomedizinische Modell aus Diagnose und Behandlung. Eine Lebensumstellung des:der Patient:in ist da nochmal eine Nummer komplexer.“
Dabei gewährt genau das uns, den Patient:innen, mehr Selbstbestimmung. Die Annahme, dass etwas mit der Chemie deines Gehirns nicht stimmen könnte, kann sich negativ auf dein Selbstbild auswirken und dir einreden, du seist langfristig „defekt“. Das kann dich davon abhalten, dir zusätzliche Behandlungsformen zu suchen oder dich täglich um dich selbst zu kümmern. Natürlich sind diese Selfcare-Methoden nicht für alle so leicht zugänglich. Trotzdem kann uns ein besseres Verständnis für die Medikamente, die wir einnehmen, auf dem Weg zu einer ganzheitlicheren, besseren Behandlung helfen.
Wenn du selbst nicht mehr weiter weißt oder jemanden kennst, dem:der es schlecht geht, hol dir bitte Hilfe: Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr zu erreichen. Die kostenfreien Nummern lauten 0800/111 0111 und 0800/111 0222. Hier findest du außerdem Therapeut:innen in deiner Nähe.