An dem Tag, an dem mein Leben auf Eis gelegt wurde, war ich gerade im fünften Monat schwanger. Ich rannte quer durch das Krankenhaus, weil eine Routineuntersuchung anstand und ich ein bisschen zu spät dran war. Mir war unglaublich heiß – zum Teil wegen der Schwangerschaft, aber hauptsächlich, weil ich kniehohe Wildlederboots von Stuart Weitzman trug – ein neues Paar, das ich mir gegönnt hatte, um meiner sehr limitierten Schwangerschaftsgarderobe ein kleines Upgrade zu verpassen. Nach dem Ultraschall kam eine Ärztin auf mich zu, die ich bisher noch nicht kannte. „Suchen wir uns mal einen ruhigen Ort, an dem wir reden können“, sagte sie.
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Wir setzten uns hin. Sie sah mir direkt in die Augen und sagte, die Ultraschallergebnisse wären beunruhigend. Ich könnte praktisch jeden Moment vorzeitige Wehen bekommen. „Wenn das passiert, hat das Baby eine 80-prozentige Chance, zu überleben. Aber würde …“, sie zögerte einen Moment, „Folgeschäden davontragen“. Sie meinte, Bettruhe wäre das Einzige, was ich jetzt machen könne, um das Risiko zu verringern.
Noch vor fünf Minuten war ich eine gesunde, hochfunktionale arbeitende Mutter. Von jetzt auf gleich fühlte es sich so an, als hätte mir jemand den Boden unter den Wildlederschuhen weggezogen. Ich durfte weder arbeiten, noch Sport machen, noch die Wohnung verlassen, noch irgendetwas heben, das schwerer als mein Smartphone ist. Ich durfte noch nicht mal mehr als ein paar Schritte am Stück laufen.
Nach Monaten des extrem limitierten Daseins gab mir meine Ärztin endlich grünes Licht. Ich durfte wieder an die frische Luft gehen, denn der Entbindungstermin rückte immer näher also wäre es nicht mehr schlimm gewesen, Wehen zu bekommen.
Ein paar Tage später erfuhr ich, dass wir wegen Corona alle zu Hause bleiben sollen.
Auf einmal war ich also nicht mehr die Einzige, die das Gefühl hatte, das Leben würde sie dazu zwingen, eine Pause zu machen. Auf einmal muss sich die ganze Welt Ängsten und Unsicherheiten stellen. Manche Expert*innen sagen, die Maßnahmen können monatelang andauern. Das ist eine ganz schön lange Zeit für eine Pause. Wie sollen wir nur damit umgehen?
Ich bin keine Psychologin, aber es gibt ein paar Dinge, die ich während der Bettruhe gelernt habe. Dinge, die es mir erleichtert haben, die Isolation zu überstehen. Und die möchte ich jetzt mit dir teilen.
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Langeweile in der Schwangerschaft: Halte Kontakt
Meine Bettruhe dauerte drei Monate an. Erst war ich im Krankenhaus, später in meiner Wohnung in Toronto. Verlassen habe ich das Haus nur, um in ein Uber zu steigen und zu meiner Ärztin zu fahren.
In der Wohnung festzusitzen, war zwar langweilig, aber es hat mich aus dem Alltagstrott gerissen. Es brachte mir Klarheit und einen neuen Blickwinkel. Auf einmal war jeder Besuch und jeder FaceTime-Call, der meine Stunden der Einsamkeit unterbrach etwas ganz Besonderes. Ich war dankbar für eine lange Umarmung meiner Mama, für die tägliche Unterstützung meines Mannes und für die vielen lieben Nachrichten von Freund*innen. COVID-19 hat diese Gefühle nur noch verstärkt. So isolierend sich Social Distancing anfühlen mag, es bringt uns, eigenartigerweise, auch alle näher zusammen, denn wir sitzen alle im selben Boot.
Die Bettruhe zwang mich auch dazu, auf andere Art und Weise mit meinen Kolleg*innen Kontakt zu halten. In den ersten Wochen habe ich vom Sofa aus gearbeitet, um ein paar Projekte abschließen beziehungsweise abgeben zu können. Dann verschwand ich im verfrühten Mutterschutz. Ich mag meine Kolleg*innen wirklich sehr und immer wenn ich sie in Video-Calls sah, brachte mich das zum Lächeln. Ich war auch überrascht, wie sehr es mir doch half, Arbeitsklamotten (oberhalb der Hüfte) anzuziehen und ein wenig Mascara und Lipgloss aufzutragen. Dadurch habe ich mich ein bisschen weniger wie in einem Gefängnis gefühlt. Ich habe mir ein Stück Routine aus meinem alten Leben zurückgeholt und das gab mir irgendwie die Hoffnung, dass irgendwann alles wieder normal sein würde.
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Wegen der Pandemie arbeiten jetzt etwa 400 Kolleg*innen im Home Office. Ich bin zwar noch im Mutterschutz, aber ich beobachte trotzdem, was so auf Arbeit passiert: die Netflix-Partys, die geteilten Spotify-Playlists, die After-work-Drinks via Google Hangouts. Ich kann einen Blick auf die Wohnungen meiner Kolleg*innen erhaschen. Ich lerne immer mehr über ihre Haustiere, Kinder und Hobbys. Und darüber, wie sie mit Stress umgehen. In dieser neuen Welt fühlt sich alles, was man teilt irgendwie echter an. Ungefiltert. Jetzt, wo sie aus dem Hamsterrad des täglichen Büroalltags gestiegen sind, merke ich erst, wie verwundbar meine Kolleg*innen sind; wie menschlich.
Self-Care: Tu dir selbst etwas Gutes
Ich habe jeden Tag meiner Bettruhe mit der Möglichkeit leben müssen, etwas Schreckliches könnte geschehen. Meinem Ehemann und mir wurde gesagt, die Chancen seien sehr gering, dass ich das Baby zum regulären Termin austragen kann. Wenn er zu früh kommen würde, dann höchstwahrscheinlich mit einer körperlichen oder psychischen Behinderung. Ich saß also zu Hause und alles, was ich hatte, war mein Laptop, mein Smartphone und diese Information. Und trotzdem: Es ging mir gut. Ich stellte schnell fest, dass die größte Herausforderung darin bestand, mit den Gedanken in meinem Kopf umzugehen – vor allem mit dem einen Horrorszenario, das ich mir immer wieder ausmalte und das alles andere überschattete.
Ich beschloss, nichts zum Thema Frühchen zu googeln. Ich ging auch in keine Foren. Stattdessen schaute ich mir eine Menge dummer Feel-Good-Filme und Heile-Welt-Serien an. Um dem Reizentzug wegen all der Dinge, die ich nicht machen konnte, etwas entgegenzusetzen, gönnte ich mir kleine Freuden. Ich bat meinen Mann, mir einen frischen Blumenstrauß mitzubringen. Ich massierte ein paar Tropfen Shampure-Öl von Aveda in meine Handgelenke ein, leistete mir eine luxuriöse Diptyque-Duftkerze und gönnte mir einmal die Woche eine professionelle Massage – natürlich zu Hause.
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Eines Abends habe ich mir meine schlimmsten Ängste bewusst gemacht und dann Zeichnungen vom genauen Gegenteil angefertigt. Ich habe unsere zukünftige Familie gemalt, wie wir zusammen im Park spazieren, und unseren ungeborenen Sohn, wie er zusammen mit seinem großen Bruder (mein Erstgeborener ist jetzt vier Jahre alt) Fußball spielt oder in der Schule neue Freunde findet. Diese Bilder habe ich mir jeden Abend vor dem Schlafengehen angeschaut. Mein Mann hat auch eins gemalt und ich habe es abfotografiert und schaue es mir immer an, wenn ich Aufmunterung brauche. Auch heute noch.
Meditieren wurde zum Rettungsanker für mich. Angefangen habe ich damit am ersten Tag im Krankenhaus: Jeden Abend höre ich eine 20-minütige geführte Meditation. Ich nehme mir ganz bewusst Zeit dafür, zu relaxen und mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Diese Übung hilft mir auch jetzt, wenn ich mir abends Sorgen um die Corona-Krise und ihre Auswirkungen mache.
Während es mir relativ leicht fiel, nichts zum Thema Frühchen zu googeln, fällt es mir jetzt extrem schwer, mich nicht in einen Corona-Google-Strudel hineinziehen zu lassen. Für dieses Verhalten gibt es sogar einen Begriff: Doomsurfing. Du surfst also im Internet und gelangst von einem schlimmen, angsteinflößenden Ergebnis zum nächsten. Manche Menschen sind mittlerweile fast schon abhängig davon, ständig die Nachrichten zu checken. Kein Wunder, denn schließlich könnte ja jederzeit eine neue Maßnahme bekanntgegeben oder neue Statistiken oder Tipps veröffentlicht werden. Es ist absolut verständlich, wenn es dir auch so geht. Aber mein Ratschlag wäre, dich nur zu bestimmten Zeiten zu informieren – zum Beispiel ganz bewusst früh eine halbe Stunde lang. Und dann reicht’s aber auch erst mal wieder und du kannst an etwas Anderes denken. Ansonsten versuche ich, mich auf die positiven Aspekte der Statistiken und News zu fokussieren.
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Lerne, die freie Zeit zu genießen
„Du hast ein besonderes Geschenk bekommen: Zeit“, sagte mein Boss zu mir als ich in den Mutterschutz ging. Für mich waren die leeren Stunden, die sich jeden Morgen vor mir erstreckten wie purer Luxus, aber auch ungewohnt und angsteinflößend. Am Anfang schien nichts wichtig genug, um es gleich anzupacken. Ich wollte keine Branchenmedien checken, kein neues Projekt starten und noch nicht mal viele Leute sehen. Ich hatte das starke Bedürfnis, eine Pause zu machen und mich meinen Gefühlen hinzugeben. Ich wachte früh auf und ging abends ins Bett, ohne irgendwelche Aufgaben zu haben. Dieses Privileg hatte ich seit den Sommerferien in der Schulzeit nicht mehr.
Irgendwann war ich dann aber bereit, meine Energie auf etwas zu lenken. Also arbeitete ich an einem Designprojekt, das ich schon seit Jahren angehen wollte. Ich war richtig aufgeregt und es gab meinen Tagen wieder einen Sinn. Ansonsten habe ich mich auf unsere Wohnung konzentriert. Ich habe schicke neue Bettwäsche im Sale ergattert und in Regaleinsätze investiert, um mehr Ordnung in unsere Schränke zu bringen. Und ich habe die Blätter des riesigen Bogenhanfs endlich mal wieder vom Staub befreit.
Durch die Coronavirus-Pandemie hat sich viel in unserem Alltag verändert. Wir fahren nicht mehr täglich quer durch die ganze Stadt, gehen nicht aus, verreisen nicht, gehen nicht auf Konzerte und auch nicht mehr auf Partys oder Blind Dates. Manche Menschen stehen noch immer unter Schock und können einfach nicht begreifen, was hier gerade passiert. Außerdem zeichnet sich so langsam ab, dass sich die Situation so schnell wohl nicht ändern wird und wir noch Monate in unseren Wohnungen gefangen sein könnten. All diese Gefühle kenne ich nur zu gut. Aber während ich hier so in meiner Wohnung sitze, die ich nun schon zum zweiten Mal nicht verlassen darf – und zwar diesmal auf unbestimmte Zeit –, zähle ich die Tage, bis ich meinen Sohn endlich kennenlernen darf. Ich frage mich, wie ich die freie Zeit am besten nutzen könnte; wie ich es anstelle, sie als Geschenk zu sehen. Vielleicht versuchst du einfach mal, ganz in Ruhe in dich hineinzuhorchen und zu warten, welche Ideen, Themen oder Fragen tief in dir drin sind. Wer weiß: Vielleicht entdeckst du jetzt ja eine völlig neue Seite an dir. Oder einen neuen Lebenssinn. Oder einfach nur ein neues Hobby.
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