Auf einem Foto des Projekts Mädchenland der deutschen Fotografin Karolin Klüppel hockt ein Mädchen in einem kleinen See unter der Wasseroberfläche, hält sich die Nase zu und schaut aus dem Wasser heraus direkt in die Kamera. Umgeben von ausgehöhlten Steinen scheint sie inmitten der dunklen Reflektionen der Bäume zu schweben; das beinahe spiegelglatte Wasser über ihr erinnert an Glas. Das Bild drückt eine Stärke, eine innere Ruhe aus, die viele der Communitys versinnbildlicht, für die Klüppel schon um den ganzen Globus gereist ist.
Die ersten Fotos für Mädchenland schoss Klüppel 2013, nachdem sie kurz nach ihrem Kunstabschluss für einen Job in den indischen Bundesstaat Goa reiste. Als sich ihr Aufenthalt allmählich dem Ende neigte, überlegte sie sich, wohin sie als Nächstes ziehen sollte. Die Antwort fiel ihr in die Hände, als sie zum ersten Mal von den Khasi las – einer einheimischen Volksgruppe von etwa 1,2 Millionen Menschen, deren Großteil im Bundesstaat Meghalaya im Nordosten Indiens lebt. Klüppel plante also, direkt von Goa nach Meghalaya zu reisen und landete schließlich in Mawlynnong, einem Dorf in der Nähe der Grenze zu Bangladesch. „Meghalaya und fast all seine Bewohner:innen gehören zum Khasi-Stamm“, erzählt sie. „Ich wusste, dass ich in den kleineren Dörfern bessere Chancen auf einen engen Kontakt zu den Khasi haben würde.“
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Was die Khasi so außergewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass sie nur einer von zwei ureinheimischen matrilinealen Stämmen in Indien sind; das heißt, dass ihr gesellschaftliches System dem Familienzweig der Mütter folgt, nicht dem der Väter, wie im Westen üblich. Klüppel erklärt, inwiefern sich diese soziale Struktur im Alltag zeigt: „In der Khasi-Kultur werden Frauen enorm geschätzt. Wer in dieser Kultur eine Frau nicht respektiert, schadet damit der Gesellschaft. Töchter sind daher häufig gewünschter als Sohne, und eine Familie, die nur Söhne in die Welt gesetzt hat, wird deswegen als glücklos angesehen, weil nur Töchter den Fortbestand einer Familie garantieren können.“ Sie ergänzt, dass die Khasi außerdem laut eigener Aussage keine Ehen arrangieren, obwohl die überwältigende Mehrheit der indischen Ehen von den Eltern organisiert wird. „Wenn sich eine Frau und ein Mann ineinander verlieben, leben sie einfach gemeinsam im selben Haus – meist im Haus der Frau, weil Männer nur selten Grundbesitz haben –, und dann sind sie effektiv verheiratet. Die meisten Khasi sind zum Christentum konvertiert, und heute heiraten viele Paare auch kirchlich.“ Auch Scheidungen und erneute Eheschließungen werden respektiert, erzählt sie, und in Shillong – der „Hügelstation“, der größeren Stadt in der Nähe – beschließen viele Frauen, allein zu wohnen.
Klüppel ist in einer Kleinstadt in der Nähe von Kassel aufgewachsen. Auf die Frage, ob sie schon immer den unabhängigen Geist gehabt habe, den ihre Arbeit von ihr erfordert, beschreibt sie sich selbst als weniger extrovertiert; sie ist eher ein vorsichtiger Mensch. „Ich schätze, ich habe aber immer schon mein eigenes Ding gemacht“, sagt sie, „und wenn ich heute reise, fühle ich mich außerdem wie jemand anderes – freier, selbstbewusster. Vielleicht, weil ich das sein muss.“ Als sozial engagierte Fotografin, die auf der Suche nach Geschichten um den ganzen Globus reist, ist das Reisen ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Sie meint, dass sie sich selbst erstmal beibringen musste, sich damit wohlzufühlen, Monate von zu Hause weg zu sein, sich an neue Umgebungen anzupassen, sich potenziell gefährlichen Situationen auszusetzen und mit anstrengenden finanziellen Bedingungen klarzukommen. Wie fühlt sich bei einer solchen Karriere das Leben zu Hause an?
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Die Antwort lautet – zumindest in Klüppels Fall –, dass sich alles im Laufe der Zeit verändert und es natürlich schwieriger wird, immer wieder zu unbefristeten Entdeckungsreisen aufzubrechen. „Ich habe Mädchenland vor ein paar Jahren produziert, als ich gerade die Uni abgeschlossen hatte“, erinnert sie sich. „Damals fühlte ich mich in meinen Entscheidungen sehr frei, weil ich keine Familie und keine echten Verpflichtungen hatten. Ich war nur für mich selbst und mein eigenes Wohl verantwortlich. Wenn ich heute reise, bleibe ich Berlin nicht allzu lange fern – und bin dann auch mal zu lange dort. Außerdem muss ich mir heute mehr Gedanken über die Kosten machen als früher. Natürlich hatte ich auch manchmal Heimweh, während ich so lange in Indien war – aber dann hat es mir immer geholfen, daran zu denken, dass ich ja auch jederzeit wieder zurückreisen könnte. Ich musste nur so lange bleiben, wie ich selbst wollte.“
In Zeiten der Krankheit war das natürlich etwas anderes, und Klüppel erinnert sich daran, wie sie einmal in Indien mit einer bakteriellen Entzündung und hohem Fieber flach lag. „Meine Gastfamilie brachte mich ins Krankenhaus, und ein Teil der Community aus Mawlynnong blieb drei Tage lang dort bei mir, bis ich wieder zurückkonnte. Der Arzt lieh mir sogar Geld, damit ich meine Rechnung bezahlen konnte!“ Es war eine harte Zeit. Sie fühlte sich schwach und war sich bewusst, wie weit sie von zu Hause entfernt war – und gleichzeitig war sie gerührt, wie viel Aufmerksamkeit und Fürsorge man ihr hier entgegenbrachte. Gleichzeitig war sie sich aber auch bewusst, wie vorsichtig sie als Frau in Indien sein musste, insbesondere in ihrem Job. „Leider muss man als Frau in Ländern wie Indien vorsichtiger sein“, sagt sie, glaubt aber gleichzeitig nicht, dass sie das davon abhalten sollte, manche Geschichten oder Erfahrungen zu fotografieren. Von Fotografinnen wird oft erwartet, ihre Storys aus einer feministischen Perspektive zu produzieren – und vielleicht ist es auch leichter für Frauen, die Geschichten anderer Frauen zu erzählen –, doch findet Klüppel es auch wichtig, dieselben Themen von „Männern, Frauen und nicht-binären Menschen“ abgebildet zu sehen. Sie glaubt, dass diverse Perspektiven dafür entscheidend sind, jede Erfahrung im Kern zu begreifen.
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Das erste Mal, als Klüppel Mawlynnong besuchte, blieb sie ganze sechs Monate. „Während dieser ersten Reise hatte ich echt keine Ahnung, dass ich so lange bleiben würde. Das Projekt lief aber so gut, und ich fühlte mich so wohl bei den Leuten, die ich dort kennengelernt hatte, dass ich meinen Aufenthalt immer wieder verlängerte und sogar nach Nepal fuhr, um mir ein neues Visum zu besorgen.“ Nach sechs Monaten in der Heimat reiste Klüppel für weitere drei Monate nach Mawlynnong zurück, um ihr Projekt abzuschließen. Jedes Mal wohnte sie bei zwei Khasi-Familien, zu denen sie eine enge Beziehung aufgebaut hatte. „Eine der Familien hatte vier Kinder, und es war echt toll, für längere Zeit dazuzugehören“, erzählt sie. Dazu zeigt sie auf das Foto eines kleinen Mädchens, das in einem Blumenkleid auf einem Hocker in der Küche steht und ihr Gesicht hinter ihren Händen verbirgt, auf die sie comicartige Augen gezeichnet hat. „Das ist Grace, eins der Kinder meiner Gastfamilie. Sie war damals sieben Jahre alt und hatte so eine tolle Persönlichkeit. Sie hat drei kleine Geschwister und muss sich ziemlich häufig um sie kümmern, wenn ihre Mutter zum Beispiel zum Fluss geht, um die Wäsche zu waschen. Grace ist schon ziemlich reif und liebevoll, wenn sie ihrer Mutter mit der Kinderversorgung und im Haushalt helfen muss, wird aber sofort wieder zu einem kleinen Mädchen, wenn sie ein bisschen Zeit hat, um mit ihren Freund:innen zu spielen.“ Klüppels Fotos setzen Grace’ verspielte Seite auf sanfte Art in Szene. Dasselbe gilt auch für ihre anderen Bilder – und die liebevolle, menschliche Art, mit der sie mit ihren Subjekten umgeht, kann nur das Ergebnis dessen sein, dass sie lange bei ihnen wohnte und ihre Persönlichkeiten durch und durch kennenlernen konnte.
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„In der Khasi-Kultur haben Frauen und Mädchen eine spezielle Rolle innerhalb der Gesellschaft, und mir fiel auf, dass das zu einem starken Selbstbewusstsein zu führen schien. Ich wollte nicht einfach nur eine klassische Dokumentation zu ihrer Kultur machen, sondern diese außergewöhnliche Frauenrolle irgendwie festhalten“, erklärt sie. „Ich beschloss also, die Mädchen für Porträts zu fotografieren, weil mich ihr selbstbewusstes Auftreten so beeindruckte; darin spiegelte sich die Matrilinearität der Khasi wider. Gleichzeitig wollte ich die Mädchen in ihrem alltäglichen Umfeld zeigen. Ich wollte fotografieren, wo sie wohnen und wie sie spielen. Einige Bilder sind inszeniert, andere nicht. Ich habe viel Zeit mit den Mädchen verbracht, und daraus entstanden dann diverse Ideen.“
Seit Mädchenland ist Klüppel auch in die Höhen des Himalaya-Gebirges gereist und hat sich in die Leben der Mosuo vertieft, einer weiteren matriarchalischen Gemeinde in den chinesischen Provinzen Yunnan und Sichuan. Hier lernte sie die Oberhäupter der Mosuo-Community kennen – Entscheidungen werden dort ausschließlich von Frauen getroffen – und lernte viel über ihren Kampf um den Erhalt ihrer Kultur und Traditionen gegen äußere Einflüsse und die negative Darstellung der Mosuo außerhalb ihrer eigenen Grenzen. Wohingegen sie einst in Frieden gelassen wurden, werden die Mosuo heute fälschlicherweise als sexuell freizügig dargestellt und von der chinesischen Regierung immer mehr als Tourismusattraktion ausgenutzt, erzählt Klüppel.
Wie gefährlich es sein kann, Aufmerksamkeit auf Communitys zu lenken, die bisher außerhalb des öffentlichen Sichtfelds gelebt haben, behält Klüppel bei ihren Reisen ins Herz dieser Stämme immer im Hinterkopf. Daher achtet sie besonders darauf, sie ehrlich und einfühlsam zu repräsentieren und „den ruhigen, würdevollen Rhythmus ihres Alltags“ festzuhalten. „Ich dokumentiere außerdem eine Kultur, die Gefahr läuft, zu verschwinden“, sagt sie – und das ist wichtige Arbeit.
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Was haben sie die Communitys, mit denen sie zusammengelebt hat, über sich selbst gelehrt? Klüppel meint: „Was mich wirklich beeindruckt hat, und was mir in Deutschland enorm fehlt, ist, wie viel Wert die Khasi – und prinzipiell Inder:innen – auf ihre Familie und ihre Freund:innen legen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind hier so stark. Das macht auch Sinn, weil die Leute sehr arm sind und nur wenig Unterstützung von der Regierung bekommen. Wenn sie einander nicht helfen, sind sie verloren. In der Khasi-Kultur empfinden die Menschen daher nicht dieselbe Einsamkeit wie wir, weil die Leute einander brauchen und einander wirklich haben. In meiner eigenen Kultur leiden hingegen viele Leute unter Einsamkeit. Jede Kultur hat ihre Vor- und Nachteile.“ Welchen Rat hat Klüppel für andere junge Frauen, die für die Arbeit in die weite Welt hinaus reisen? „Kreative Arbeit ist harte Arbeit. Also bleib fokussiert und stell dich darauf ein, auch mal zu versagen – und dann direkt wieder aufzustehen.“
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