Seit Jahrzehnten sind wir damit beschäftigt, Frauen unermüdlich zu be- und verurteilen – und scheinbar sind wir nun in Sachen Beauty ganz, ganz unten auf der Niveau-Skala angekommen. Die neuesten Trends, die gerade durch TikTok und Instagram geistern, sorgen nämlich dafür, dass sich immer mehr Leute Wangenfett absaugen lassen und millimetergenau den Absatz zwischen Oberlippe und Nase ausmessen.
Schönheitsstandards, die diktieren, was am Haar, Gesicht oder Körper eines Menschen als „begehrenswert“ gilt, sind schon immer im dauernden Wandel. Dabei kann es passieren – abhängig vom jeweiligen Land und Jahr –, dass sich diese Standards sogar widersprechen. Von Augenformen, Körbchengrößen über Körpergröße bis hin zur Haarlänge: Es gibt nicht den einen Inbegriff von Schönheit. Eines haben all diese Schönheitsideale aber sehr wohl gemeinsam: die Vorstellung, das eigene Aussehen irgendwie kontrollieren zu können.
WerbungWERBUNG
Die Wangenfett-Entfernung („buccal fat removal“) ist dabei der neueste Trend in der plastischen Chirurgie, der in den sozialen Netzwerken immer mehr an Fahrt gewinnt. Obwohl der Eingriff keine neue Erfindung ist, kursiert gerade eine neue Welle der Neugier rund um Promis wie Lea Michele und Chrissy Teigen, die sich der OP Gerüchten zufolge bzw. tatsächlich unterzogen haben. Indem im mittigen Bereich der Wangen Fett herausgeschnitten wird, sorgt der Eingriff für eine definiertere Gesichtsform, in der die Wangenknochen besser zur Geltung kommen.
Dieses kleine Fettpolster sitzt zwischen den Muskeln und dient der Kaubewegung und dem Verziehen der Gesichtszüge und war kaum ein öffentliches Thema, bis der chirurgische Eingriff plötzlich in den sozialen Medien diskutiert wurde. Jetzt hat das Ganze aber viele Leute auf die Fülle ihrer Wangen aufmerksam gemacht – eine bizarre Unsicherheit, die auch in eine Black-Mirror-Folge passen würde.
Kein Wunder, dass diverse TikToker:innen den Trend (zum Glück) direkt kritisierten und dagegen vorgingen, indem sie beispielsweise in Make-up-Tutorials ihre eigenen runden Wangen betonten oder den Trend mit der angeblichen Rückkehr der „heroin chic“-Ästhetik verglichen. Eine dünne Figur und ein jugendliches Aussehen sind quasi Synonyme für westliche Schönheitsstandards – und wenn uns das 2000er-Revival eines gelehrt hat, dann, dass vergangene Trends nie wirklich verschwinden.
In einem TikTok-Video spekuliert die Comedienne Claire Parker, Schönheitsstandards seien heute sogar noch unmöglicher zu erreichen als früher. „Ich habe das Gefühl, dass Frauen in den 2000ern, dem Zeitalter der Magersucht, um ihre Existenz in der dritten Dimension kämpften; wir hatten quasi gar kein Recht darauf, Raum einzunehmen. Heute, mit heutigen Skincare-Trends, kämpfen wir um die vierte Generation. Wir dürfen keine Zeit einnehmen, wir dürfen nicht altern“, meint sie.
WerbungWERBUNG
Zu diesem Verdacht passt auch der „nose gap“-Trend, bei dem Leute den Abstand zwischen ihrer Oberlippe und ihrer Nase ausmessen. In der Wissenschaft nennt sich diese Lücke das „Philtrum“. TikTok-User:innen behaupten, je kleiner der Abstand, desto jugendlicher und vermeintlich attraktiver wirke jemand.
@joycethedentist #stitch with @haleyybaylee and yes I have a long philtrum length lol. I guess I’m old. 😅😏#greenscreen ♬ original sound - Dr. Joyce Tiktok Dentist
Sich an diesem willkürlichen Gesichtsmerkmal aufzuhängen, ist natürlich völlig absurd. Und wenn sich Menschen kosmetischen Eingriffen unterziehen, um diese Körperstellen zu „korrigieren“ (typischerweise durch Filler oder Botox), sind sie zwangsläufig irgendwann „abgehängt“, wenn sich der Trend-Kreislauf weiterdreht.
Seit einiger Zeit wird die Diskussion rund um die Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit von Beauty-Trends aber immer lauter, weil der Trend zum BBL-Po („brazilian butt lift“) zurückzugehen scheint. „Jahrelang wünschte ich mir diesen Traumkörper, der jetzt einfach spontan als ‚out‘ abgehakt wurde… Als Schwarze Frau fühlt es sich für mich wie eine Art der Ausradierung an, so viele weiße Creators zu sehen, die jetzt den Körpertyp als vergangenen ‚Trend‘ abstempeln, den ich mein ganzes Leben in meiner Familie und der jamaikanischen Community gesehen und bewundert habe“, erzählte die 28-jährige Sarah gegenüber Refinery29.
Diese Thematik spiegelt sich auch im rapiden Aufstieg und Fall des „Fox Eye“-Trends. „‚Fox Eye‘-Fadenliftings waren letztes Jahr total beliebt. Der Trend scheint sich aber zum Glück zu verabschieden“, sagte die Augen-Chirurgin Dr. Elizabeth Hawkes. „Es ist ein sehr unnatürlicher Look und sieht meist furchtbar aus.“
Aber was passiert mit denen, die diesen vergänglichen Schönheitsstandards zum Opfer fallen und sich kosmetischen Eingriffen unterziehen? Was passiert, wenn diese Eingriffe nicht mehr „in“ sind? Was, wenn deine ethnischen Gesichtszüge plötzlich zum „Trend“ werden, dann aber zwangsläufig irgendwann wieder „passé“ sind?
WerbungWERBUNG
„In meinen Untersuchungen habe ich vier Haupt-Antriebskräfte identifiziert, die für die heutige Beauty-Industrie verantwortlich sind. Und das sind quasi dieselben Kräfte, die die westliche Kultur im Ganzen erschaffen haben“, erzählt die Beauty-Redakteurin Jessica Defino im Podcast Sounds Like A Cult. „Das sind das Patriarchat, die Vorstellung der white supremacy [„weiße Überlegenheit“], Kolonialismus und Kapitalismus. Jeder Schönheitsstandard, jeder Skincare-Standard, lässt sich auf einen oder mehrere dieser Faktoren zurückführen.“
Defino zufolge ist die Beauty-Kultur für uns alle zutiefst traumatisierend. „Die Hautpflege-Industrie bietet uns eine physische Lösung in Form eines Produkts für unsere Ängste und unsere emotionale Reaktion auf den Druck der Schönheitskultur“, erzählt Defino weiter. Unsere unerwiderte Liebe für Beauty-Standards sagt dabei sehr viel aus. Trends ändern sich, und Schönheitsstandards sind vergänglich. Ihnen ist egal, dass du nur einen Körper und ein Gesicht hast.
„Als Mensch, als Seele, nur auf dein körperliches Aussehen reduziert zu werden, das deinen Wert in dieser Welt bestimmt – das ist etwas spirituell Traumatisierendes“, meint Defino.
Lust auf mehr? Lass dir die besten Storys von Refinery29 Deutschland jede Woche in deinen Posteingang liefern. Melde dich hier für unseren Newsletter an!
WerbungWERBUNG