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Amber Heard ist kein „perfektes Opfer“ – aber das gibt es auch gar nicht

Foto: JIM LO SCALZO/Getty Images.
Seit einigen Wochen bietet sich uns im Fairfax-County-Amtsgericht im amerikanischen Bundesstaat Virginia ein verstörendes, manchmal sogar schockierendes Bild der kurzen, aber stürmischen Ehe zwischen Amber Heard und Johnny Depp. 
Worum geht’s? Depp klagt Heard der Verleumdung an. Er behauptet, ein Artikel, den sie 2018 für die Washington Post schrieb, habe ihn diffamiert, weil sie sich selbst darin als „öffentliche Person, die häuslichen Missbrauch verkörpert“ bezeichnete. Depps Name taucht darin zwar kein einziges Mal auf; trotzdem bestehen Depps Anwält:innen darauf, er sei dadurch verleumdet worden, weil Heards Worte eine eindeutige Anspielung auf die Missbrauchsvorwürfe gewesen seien, die Heard schon 2016 gegen ihn vorbrachte, als sich das Paar trennte.
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Heard reichte daraufhin eine Gegenklage ein. Weil Depp ihr unterstellt, sie würde wegen des Missbrauchs lügen, wirft sie ihm nun ebenfalls Verleumdung vor – und behauptet, dass er, seine Agent:innen und Anwält:innen eine Schikane-Kampagne gegen sie organisiert und beispielsweise via Fake-Accounts in den sozialen Medien Falschinformationen über sie verbreitet hätten.
Die Berichterstattung über diesen Gerichtsprozess ist mittlerweile mindestens genauso nervenaufreibend wie Heards und Depps Beziehung selbst. In den sozialen Netzwerken wird die Verurteilung der intimsten Details ihrer Beziehung immer mehr zum Publikumssport, und Falschinformationen verbreiten sich wie Lauffeuer. Ein besonders boshaftes Gerücht behauptet, Heard habe im Zeugenstand heimlich gekokst. Dafür gibt es keine Beweise; Heard wird während dieses Verleumdungsprozesses also weiter verleumdet. 
Das Kokain-Gerücht ist dabei kein Einzelfall. Immer wieder wird Heard online als „Lügnerin“ abgestempelt. Ihre psychische Gesundheit wird ausgenutzt, um an ihrer Glaubwürdigkeit zu kratzen. Sie wird zur Zielscheibe von Spott, beispielsweise in Form des Hashtags #MePoo („poo“ heißt übersetzt „Scheiße“) – eine Reaktion auf Depps Behauptung, sie habe ins gemeinsame Bett gemacht. Ihre eigenen Anwält:innen entgegnen, das sei einer der Hunde des ehemaligen Paares gewesen.
Während des Prozesses hat Heards Team Fotos von ihrem lädierten Gesicht, ihrer aufgeplatzten Lippe und blonden Haarbüscheln auf dem Boden des gemeinsamen Schlafzimmers präsentiert. Depp selbst hat zugegeben, Drohnachrichten an die Wände ihres gemeinsamen Hauses geschrieben zu haben – mit seinem eigenen Blut.
Aber ganz egal, wie überzeugend die Beweislage darzustellen versucht, dass Heard zum Opfer häuslicher Gewalt wurde – im Social-Media-Gericht wird sie weiterhin brutal verurteilt. Sie ist eine Frau, der die Welt einfach nicht zu glauben wollen scheint. Und das, obwohl der britische oberste Gerichtshof 2021 zu dem Fazit kam, dass Depp definitiv Gewalt an seiner Exfrau verübt habe. 
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Die Reporterin Lucia Osborne-Crowley berichtet für Law360 über Gerichtsverhandlungen und Justizangelegenheiten. Sie hat außerdem bereits zwei Bücher über sexuellen Missbrauch geschrieben. Gegenüber Refinery29 betont sie, dass die allgemeine Reaktion auf diese Verhandlung uns allen zu denken geben sollte.
„Mir macht die Reaktion auf den Depp/Heard-Prozess wirklich Sorgen – nicht, weil ich auf ‚ihrer Seite‘ stehe oder alle ihre Behauptungen glaube“, erklärt Osborne-Crowley. „Was mich verstört, ist der Ton des Contents, mit dem sie online kritisiert wird. Vieles davon befeuert alte, längst widerlegte Mythen rund um sexuelle und häusliche Gewalt. Viele Leute haben mir beispielsweise schon gesagt, dass ‚echte‘ Opfer zum Beispiel keinen weiteren Kontakt zu ihren Partner:innen suchen würden – wie wir es zum Beispiel in Audioaufnahmen zwischen Depp und Heard gehört haben, in denen Depp eine Situation verlassen wollte und Heard ihn darum bat, bei ihr zu bleiben. Dabei ist diese Art von Verhalten in manchen Formen missbräuchlicher Beziehungen sogar ziemlich verbreitet und hängt mehr von den individuellen Beziehungstypen und -hintergründen ab als davon, ob es zum Missbrauch kam.“ 
Osborne-Crowley merkt außerdem an, dass die Kritik an und sogar Hassrede gegen Heard auf völlig veraltete Vorstellungen des „guten“ Opfers hindeuten, die implizieren, dass eine Frau, die sich gegen ihren missbräuchlichen Partner wehrt oder ihn beleidigt und ihn daraufhin öffentlich anprangert, kein „echtes“ Opfer sei.

[Heards] Geschichte sollte unabhängig von allem anderen bewertet werden – nicht abhängig von Vorstellungen dazu, wie sich ‚echte‘ Opfer verhalten ‚sollten‘.

Lucia Osborne-Crowley
„Ich habe jetzt schon oft gehört, ‚echte‘ Opfer würden ihre Partner:innen nicht verspotten, wie es Heard nachweislich getan hat“, erklärt Osborne-Crowley. „Was wir dabei aber unbedingt bedenken sollten, ist, dass es nicht ‚die eine Art‘ gibt, zum Opfer missbräuchlicher Partner:innen zu werden. Wir reagieren alle unterschiedlich auf solche Situationen, abhängig von unserer Lebenserfahrung und Vergangenheit.“
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„All das macht mir Sorgen, weil es den Mythos des ‚perfekten‘ Opfers aufrechterhält und von Heard verlangt, sich vielen – oft widersprüchlichen – gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen, die ihr vorschreiben, wie sie sich verhalten sollte, damit man ihr glaubt“, sagt Osborne-Crowley. „Dabei sollten sich diese Erwartungen überhaupt nicht darauf auswirken, ob ihre Behauptungen vor Gericht als wahr erwiesen werden – diese Aufgabe sollte die Beweislage übernehmen.“
Dabei gehen die Konsequenzen dieser Verhandlung ja weit über den Gerichtssaal und die beiden Protagonist:innen hinaus. Ob die Geschworenen Heard nun glauben oder nicht – die Befeuerung der Mythen rund um das „gute“ Opfer und der damit verbundenen Erwartungen können gesellschaftliche Schäden anrichten.
„Ich finde es wichtig, immer zu bedenken, dass [Heards] Geschichte unabhängig von allem anderen bewertet werden sollte – nicht abhängig von Vorstellungen dazu, wie sich ‚echte‘ Opfer verhalten ‚sollten‘“, meint Osborne-Crowley. „Das trägt bloß weiter zu dem Mythos bei, dass nur ‚gute‘ oder ‚moralische‘ Menschen häuslichem Missbrauch zum Opfer fallen. Viel der brutalen Kritik an Heard richtet sich gegen sie als Person – dabei kann sie natürlich in der Vergangenheit moralisch verwerflich gehandelt haben und trotzdem hier die Wahrheit sagen.“
Zum Prozess selbst betont Osborne-Crowley, dass wir ja erst die Hälfte davon gesehen haben. „An der Social-Media-Reaktion stört mich vor allem, dass Heard ja noch gar keine Chance hatte, ihre eigenen Beweise oder Zeug:innen anzuführen. Bei den Gerichtsverhandlungen, über die ich bisher geschrieben habe, hat der:die Richter:in die Geschworenen typischerweise dazu aufgefordert, unvoreingenommen zu bleiben, bis sie alle Beweise gehört haben. Dasselbe sollte auch für die Öffentlichkeit gelten. Stattdessen beobachte ich, dass ihre Story größtenteils als Lüge abgestempelt wird, bevor sie sie überhaupt zu Ende erzählt hat. Ganz egal, was man von Heard hält: Jede Person, die kriminelles Verhalten anklagt, sollte die Gelegenheit bekommen, ihre Beweise darzulegen, bevor sie beleidigt, verspottet oder ignoriert wird.“
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Sie hat Recht: Bisher haben wir nur Depps Seite der Geschichte zu hören bekommen. „Es ist ganz normal, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt der Verhandlung eher auf seine Seite schlagen“, meint Osborne-Crowley dazu.

Die Person, die zuerst ihre Seite präsentieren darf, ist immer im Vorteil, und viele von [Depps] Aussagen und Beweisen fand ich tatsächlich auch ziemlich überzeugend. Ich weiß aber auch, dass sich das ändern könnte, wenn Heard ihre Zeug:innen aufruft.

LUCIA OSBORNE-CROWLEY
„Ich befürchte, dass viele Leute diese natürliche Tendenz mit der Wahrheit verwechseln“, fährt sie fort. „Die Person, die zuerst ihre Seite präsentieren darf, ist dahingehend immer im Vorteil, und viele von [Depps] Aussagen und Beweisen fand ich tatsächlich auch ziemlich überzeugend. Ich weiß aber auch, dass sich das ändern könnte, wenn Heard ihre Zeug:innen aufruft. Wenn die Leute am Ende der Verhandlung immer noch der Meinung sind, Heard lügt, ist das etwas anderes. Unser Verhandlungssystem basiert aber eben darauf, dass beide Parteien die Chance bekommen, ihre Seite zu präsentieren – und im Gericht der Öffentlichkeit hat Heard ihre Version ja noch gar nicht darstellen können.“
Gleichzeitig macht sich Osborne-Crowley große Sorgen darüber, wie Leute in den sozialen Netzwerken ihre Meinung kundtun. „So viele User:innen ziehen [Heards] Aussage ins Alberne. Einige Clips davon, wie Heard den sexuellen Missbrauch durch Depp beschreibt, werden in viralen TikToks dazu genutzt, von Sex mit Johnny Depp zu schwärmen. Nochmal: Es ist egal, ob du ihr glaubst oder nicht – Witze über Vergewaltigungen sind niemals angebracht oder nötig. Vor allem dann, wenn sie die Vergewaltigung mit einvernehmlichem Sex gleichsetzen“, erklärt sie.
„Ich wünschte mir, die Leute würden [Heards] Beweise und ihre Story bewerten, ohne sich dabei über die sehr ernsten kriminellen Anklagepunkte lustig zu machen. Eine australische Bäckerei hat zum Beispiel ein virales TikTok gepostet, in dem sie anbot, Heard ein Paket mit einer Flasche Wodka zu schicken – eine Anspielung auf die Wodka-Flasche, mit der Depp Heard angeblich sexuell missbrauchte. So etwas ist beleidigend und wirklich abstoßend.“
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Zuletzt sollten wir Osborne-Crowley zufolge auch unbedingt darauf achten, wie die Beweise, laut derer Heard selbst körperlich aggressiv war, ausgenutzt werden, um ihre Geschichte zu widerlegen. 
„Es ist besorgniserregend, dass viele Leute die Indizien, dass Heard selbst körperlich übergriffig war – zum Beispiel einen Audioclip, in dem sie sagt: ‚Ich habe dich nicht geschlagen, ich habe dich gehauen‘ –, quasi als Beweis dafür anführen, dass sie gar kein Opfer häuslicher Gewalt gewesen sein könne“, erklärt sie. „Dabei verschwimmen individuelle Gewalttaten mit dem juristischen Konzept der häuslichen Gewalt. Diese häusliche Gewalt ist vom Justizministerium in Virginia als ‚Verhaltensmuster und Methode zur Kontrolle‘ definiert, ‚die eine Machthierarchie in einer Beziehung etablieren sollen, in der ein:e Partner:in den:die andere:n durch körperliche Gewalt und/oder psychologischen Missbrauch dominiert.‘“
„Aus juristischer Sicht geht es bei häuslicher Gewalt nicht um einzelne gewalttätige Taten, sondern um das Machtverhältnis innerhalb einer intimen Beziehung und darum, welche:r Partner:in diese Dynamik ausnutzt, um die Kontrolle zu behalten. Und nochmal: Wir haben noch gar nicht sämtliche von [Heards] Beweisen und Zeug:innenaussagen zu dieser Dynamik zu hören bekommen. Es ist also einfach noch zu früh, um wirklich darüber urteilen zu können, was passiert ist und wer hier die Macht hatte.“
Das entscheidende Problem hierbei ist klar: Wenn wir Heards Vorwürfe der häuslichen Gewalt allein deswegen abtun, weil sie selbst schon mal gewalttätig war, suggerieren wir damit, dass sich Opfer häuslichen Missbrauchs nie dagegen wehren würden – obwohl wir genau wissen, dass sie das sehr wohl tun. „Das ist ein weiterer mit missbräuchlichen Beziehungen verbundener Mythos, der durch die Berichterstattung rund um diesen Prozess weiter aufrechterhalten wird“, meint Osborne-Crowley.
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Vor Gericht hat jede:r das Recht auf einen kompletten, fairen Prozess. Niemand außer ihnen selbst weiß genau, was zwischen Johnny Depp und Amber Heard vorgefallen ist – und vor allem niemand, der:die die beiden nie getroffen hat. Trotzdem könnten die zahlreichen Social-Media-Posts zu dem Prozess dafür sorgen, dass Heard diese faire Verhandlung verwehrt bleibt. Der Hass, der ihr gerade von allen Seiten entgegenschlägt, wirkt nicht mehr zeitgemäß – denn wie auch immer die Wahrheit aussieht, handelte es sich hier eindeutig um eine traumatische, zerstörerische Beziehung. Diese Tatsache sollten wir ernst nehmen, und genau deswegen zumindest kurz innehalten, bevor wir über den Prozess posten oder etwas liken, das Heard nicht nur beleidigt, sondern sie womöglich auch durch Falschinformationen verleumdet.
Traurigerweise verrät uns die Reaktion auf diesen Prozess eine schmerzhafte Wahrheit – aber nicht über Heards und Depps Beziehung, sondern über unsere Gesellschaft. Frauen werden immer noch untergraben und bezweifelt, wenn sie Missbrauch öffentlich anprangern. Der Diskurs über häusliche Gewalt ist für viele betroffene Frauen weiterhin ein kräftezehrender Kampf um Verständnis und Respekt. 
„Heard ist die Angeklagte in diesem Prozess, und jeder Mensch hat das Recht auf eine vollständige, faire Verteidigung“, sagt Osborne-Crowley abschließend. „Und anhand dessen, was ich hier bisher gesehen habe, scheint sie diese Chance nicht zu bekommen.“

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