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Kannst du ADHS wirklich selbst diagnostizieren? Es ist kompliziert

Foto: Beth Sacca.
Seitdem es 2021 gepostet wurde, hat das TikTok-Video, das die Debatte rund um die ADHS-Selbstdiagnose überhaupt angestoßen hat, mittlerweile über neun Millionen Views angesammelt. Vielleicht hast du es auch selbst schon gesehen: Eine Person im Batik-Thrasher-T-Shirt zeigt auf eine Sprechblase über ihrem Kopf, in der steht: „Things you didn’t realize could be ADHD“ – also „Wovon du nicht wusstest, dass es an ADHS liegen könnte“. Über die nächsten 60 Sekunden hinweg werden dann diverse Symptome aufgezählt: Wut wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, unruhiges Zittern, Schwierigkeiten damit, abgelehnt zu werden, unbewusste Geräusche, Konkurrenzdruck und ein Hyperfokus auf die eigenen Interessen.
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Wenn du dich dann durch die Kommentare zu dem Video scrollst, fühlt sich das ein bisschen so an, als seist du bei einer archäologischen Ausgrabung – als würdest du in der Zeit zurückreisen und zuerst die Nachbeben, dann den Auslöser entdecken. Ganz oben in den Kommentaren warnt die Person, die das Video überhaupt erst gepostet hat, andere vor der Selbstdiagnose. „Leute… Es ist total okay, mit Problemen mitzufühlen… Aber es ist nicht okay, dich selbst zu diagnostizieren und anderen zu erzählen, dass du [ADHS] hast.“ Wenn du dich weiter durchscrollst, liest du immer mehr Kommentare von Leuten, die dasselbe betonen – dass niemand aufgrund eines Videos vermuten sollte, ADHS zu haben. Aber dann, weiter unten, stellst du fest, dass dort sehr viele Leute genau das tun und Dinge schreiben wie: „Halt, dieses plötzliche/ängstliche Zittern ist nicht normal?“, oder: „Ich wusste nicht, dass ich ADHS habe“, oder: „Ich… ich glaube… ich habe ADHS.“
Ähnlich läuft es in den Kommentarspalten unter Videos zu anderen Erkrankungen oder Störungen ab: Die eine Hälfte bittet darum, sich nicht selbst zu diagnostizieren, während die andere fleißig drauflosdiagnostiziert. Diesen Kontrast findest du gleichermaßen unter Videos zu Traumata, Autismus, Persönlichkeitsstörungen, und so weiter. Manchmal sprechen die Kommentare einfach nur von einer Identifikation mit dem Inhalt („Das klingt genau wie ich!“, oder: „Machen das nicht alle so?“). Oft, vor allem unter beliebteren Videos, melden sich aber auch andere Stimmen zu Wort und betonen, dass das Video nicht von Expert:innen erstellt wurde, oder dass die darin angeführten Symptome sehr vage formuliert sind und sich auf jede:n übertragen ließen.
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Wie im Fall dieses ADHS-Videos wird der Konflikt zwischen Selbstdiagnostizierenden und davor Warnenden aber so laut, dass man meinen könnte, die gesamte Gen Z sei dank TikTok davon überzeugt, jede klitzekleine Angewohnheit sei das Symptom irgendeiner geistigen Erkrankung. Aber lässt sich ADHS überhaupt selbst diagnostizieren? Und wäre es denn so schlimm, wenn das aufgrund eines TikToks passiert?

Die Pro- und Kontra-Liste der TikTok-Selbstdiagnose

„Ich finde es positiv, dass das Thema auf TikTok so groß ist“, meint Dr. Kim Heyes, Dozentin für Gesundheit und soziale Gerechtigkeit an der Manchester Metropolitan University. „In jeder Gesellschaft – in aller Welt – wird uns gesagt, wir sollten gegen die Stigmatisierung mentaler Gesundheitsprobleme angehen. Aber es spricht kaum jemand darüber, wie diese Probleme eigentlich aussehen. Genau das liebe ich an diesen TikToks und an Online-Foren wie Reddit.“ Es sorgt für ein besseres Allgemeinwissen rund um geistige Gesundheit, wenn Leute offen erzählen, wie sich ihre Angststörung oder ihr ADHS äußert, meint Dr. Heyes. Ihrer Meinung nach ist das etwas Gutes.
Sie jedenfalls stört sich nicht daran, dass manche User:innen nach dem Schauen solcher Videos glauben könnte, diese oder jene Erkrankung zu haben. „Wenn jemand ein TikTok findet, das genau seine oder ihre eigene Erfahrung widerspiegelt, wird sich diese Person dazu sicher nicht nur auf TikTok informieren“, meint Dr. Heyes. „Sie wird sich sicher auch online nach anderen Informationen umschauen.“ Und diese Recherche wird den ersten Verdacht dann entweder entkräften oder bestätigen – und wenn die Person weiterhin glaubt, die Selbstdiagnose könnte stimmen, wird sie sich vermutlich hilfesuchend an das eigene Umfeld oder Ärzt:innen wenden.
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Wenn es dann aber um die medizinische Behandlung geht, gibt es doch Grund zur Vorsicht, betont Dr. Heyes. „Die medizinische Behandlung von geistigen Beschwerden hat meist enorme Nebenwirkungen. Wenn die Therapie also nicht gründlich überwacht wird, kann es sehr gefährlich werden“, sagt sie. Sie glaubt aber, dass nur wenige Leute, die sich selbst eine Krankheit diagnostizieren, dann auch tatsächlich an die psychiatrischen Mittel kämen, mit denen sie ihre Symptome vielleicht behandeln könnten.
Es gibt aber doch Expert:innen, die die TikTok-Selbstdiagnose für potenziell schädlich halten. „Das ist eine ziemliche Grauzone“, erklärt Dr. Inna Kanevsky, Professorin für Psychologie am San Diego Mesa College. Dr. Kanevsky betont, sie ist keine klinische Psychologin und diagnostiziere daher niemanden. Auf TikTok hat sie über eine Million Follower:innen und postet regelmäßig Stitches, Duets oder Antworten auf Videos, von denen sie glaubt, sie würden Fehlinformationen zur mentalen Gesundheit verbreiten. „Ich bemerke diesen Trend [zur Selbstdiagnose] und mache mir Sorgen deswegen“, sagt sie.
Dr. Kanevsky räumt ein, dass es durchaus geistige Beschwerden gibt, die eindeutig unterdiagnostiziert sind. „Was beispielsweise ADHS oder Autismus angeht, wurde beides jahrelang bei Menschen ignoriert, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde. Das lag an dem Irrglauben, ADHS und Autismus betreffe nur Jungs und Männer, und daran, dass Ärzt:innen lange nicht verstanden, inwiefern sich beides bei Frauen anders äußert“, sagt sie. „Ich will also nicht sagen, dass man nie auf das hören sollte, was auf TikTok erzählt wird, oder dass man sich nicht selbst diagnostizieren darf, oder dass das immer ein:e Therapeut:in tun muss.“
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Dr. Kanevsky stört sich aber sehr wohl an Videos, deren Creators scheinbar wollen, dass sich Leute anhand dieses Inhalts diagnostizieren – wie Videos, in denen dazu aufgefordert wird, in den Kommentaren einen erhobenen Finger zu posten, wenn sich die Zuschauer:innen mit dieser oder jener Erfahrung identifizieren können. „Viele der ‚Symptome‘, die in solchen Videos aufgezählt werden, sind in Wahrheit gar keine Symptome dieser Erkrankungen“, sagt sie. „Sie können durchaus bei Betroffenen auftreten, aber auch fernab dieser Erkrankungen.“

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Um es kurz zu sagen: TikTok-Videos können nie echten medizinischen Rat ersetzen – das heißt aber nicht, dass es in der App nicht doch hilfreiche Informationen gibt. Du solltest aber alles kritisch hinterfragen und selbst nachforschen. „Ich sage immer: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, meint die Psychologin Dr. Lesley Cook, die selbst Content bei TikTok postet. „Es gibt Leute, die wissentlich Fehlinformationen verbreiten, und Leute, die sich für Expert:innen halten, aber über Themen sprechen, die sie nicht völlig verstehen.“
TikTok-Videos werden nicht zwangsläufig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Unabhängig davon, ob ein Video absichtlich oder unabsichtlich Fehlinformationen enthält, kann irreführender Content viel Verwirrung auslösen und dafür sorgen, dass wir der medizinischen Community weniger Glauben schenken. „Wenn eine Person ein Video sieht, das ihr einzureden versucht, sie habe ADHS, und sie sich dann medizinisch untersuchen lässt und gesagt bekommt, sie habe kein ADHS, kann das die Autorität der Medizin untergraben“, meint Dr. Cook. „Vielleicht denkt diese Person danach: ‚Ärzt:innen haben keine Ahnung, wovon sie reden.‘“
Obwohl Social Media niemals deine primäre Quelle für medizinische Informationen sein sollte, hält Dr. Cook die Selbstdiagnose doch ab und an für legitim. Weil das Gesundheitssystem in vielen Ländern immer noch wohlhabendere Menschen bevorzugt, findet sie es okay, sich diesem System zu entziehen – vorausgesetzt, man tut es auf gründlich informierte und verantwortungsbewusste Art, und das nicht nur auf TikTok.
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Paige Layle, auf TikTok bekannt als @paigelayle, wo sie 2,6 Millionen Follower:innen hat, unterstützt ebenfalls die Selbstdiagnose – wie auch Dr. Cook aber auch fernab von TikTok. Layle bekam kurz nach ihrem 15. Geburtstag die Diagnose Autismus, nachdem sie ein Suizidversuch zu einem Kinderpsychiater geführt hatte. Fünf Jahre danach hat sie sich ihre Followerschaft vor allem durch ihre Posts zur Neurodiversität aufgebaut. „Ich fing an, über Autismus zu sprechen, weil viele Leute auf TikTok das Wort ‚Autismus‘ als Synonym für ‚dumm‘ benutzten“, erzählt Layle. „Ich postete also ein Video dazu, und es war das erste, das mehr als 100 Likes bekam. Nach einer Weile waren es dann über 100.000. Da wurde mir klar, dass viele Leute diese Informationen wollen oder brauchen – und ich sie ihnen geben kann.“
Layle postet keine Videos zur Selbstdiagnose, unter denen sich die Leute melden sollen, die sich darin wiedererkennen. Sie konzentriert sich darauf, Informationen zum Thema Autismus zu teilen und eine Community aufzubauen. „Eine Selbstdiagnose ist legitim, und sollte es auch sein. Es gibt unzählige Gründe dafür, warum sich jemand keine klinische Diagnose holen kann“, meint sie. „Wichtig ist mir aber: Benutze mehrere glaubwürdige Quellen, um dich zu informieren. Nicht nur mich!“ All diejenigen, die unter ihren Videos den Verdacht äußern, selbst autistisch zu sein, verweist sie an eins ihrer YouTube-Videos „zu deinen nächsten Schritten, inklusive Selbstdiagnose-Tipps und Ratschlägen für ein ärztliches Untersuchungsgespräch“. (Auch Dr. Kanevsky hat auf ihrem TikTok-Account Tipps für Leute gesammelt, die sich selbst keine mentale Gesundheitsversorgung leisten können.)
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Hürden bei der Behandlung & den Medikamenten

Ein Grund dafür, wieso es hilfreich ist, dir eine professionelle Diagnose einzuholen, ist die Möglichkeit eines sicheren und effektiven Behandlungsplans. Dr. Kanevsky und Dr. Cook warnen, dass auf TikTok zahlreiche Fehlinformationen zu vermeintlichen Behandlungsmöglichkeiten für diverse mentale Erkrankungen kursieren, sowie auch falsche Informationen zu Symptomen. „Manche Leute verteilen beispielsweise Ratschläge zur Ernährung, die überhaupt nicht wissenschaftlich fundiert sind und auch nicht helfen. Oder sie empfehlen Supplements, die ohne medizinische Aufsicht nicht eingenommen werden sollten“, meint Dr. Kanevsky. „Vielleicht findest du auf diese Art also gar keine Lösungen, die dir wirklich helfen können.“ Dr. Cook zufolge hat sie sogar schon Leute auf TikTok gesehen, die ADHS-Betroffene dazu aufgefordert haben, ihre Medikamente gegen das Nahrungsergänzungsmittel L-Tyrosin einzutauschen. „Sowas macht mir Sorgen“, sagt sie.
Obwohl Dr. Cook betont, dass nicht jede:r zwangsläufig eine klinische Diagnose braucht, kann es für Betroffene – insbesondere junge Betroffene – doch den Zugang zu hilfreichen Ressourcen und Behandlungsmöglichkeiten einschränken. Noch dazu kann es sein, dass sie dadurch die Chance verpassen, aufgrund ihrer speziellen Bedürfnisse anders berücksichtigt zu werden, beispielsweise in der Schule. Layle wünscht sich genau deswegen, die Selbstdiagnose würde reichen, um derartige Anpassungen gewährt zu bekommen. „Letztlich liegt das an der Ressourcenknappheit: Wir priorisieren, wer Hilfe bekommen sollte. Dabei sollte jede Person, die von solchen Rücksichtsmaßnahmen profitieren könnte, diese auch bekommen – egal, ob sie das in Form eines sehr teuren ärztlichen Wischs nachweisen kann“, meint sie. Dr. Kanevsky ergänzt: „Wenn sich Betroffene keiner professionellen Untersuchung unterziehen, verhindern sie es für sich selbst, wegen ihrer Erkrankung oder Störung anders berücksichtigt zu werden.“
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Die Expert:innen sind sich jedenfalls darin einig, dass es völlig okay ist, dir TikToks zu geistigen Erkrankungen anzuschauen und dich darin wiederzuerkennen. Es ist genauso okay, diese Videos zu posten. Offen darüber zu sprechen, hilft dabei, die Stigmatisierung dieser Krankheiten oder Störungen zu reduzieren, und schenkt denen eine Community, die sie brauchen. Solche Videos können aber niemals das große Ganze abbilden – vor allem, wenn du bedenkst, dass jede:r auf TikTok posten darf, und dass der Algorithmus so designt ist, dass dir vor allem Videos gezeigt werden, die denen ähneln, mit denen du bereits interagiert hast. Dadurch bekommst du nur wenige Gegenpositionen gezeigt.
Wenn du dich also fragst, ob du diese oder jene Krankheit haben könntest, nachdem du ein Video dazu gesehen hast, solltest du diesen Verdacht nur als Ausgangspunkt betrachten – nicht als Diagnose. Achte darauf, dass die Leute, die du dir anhörst oder -schaust (auch auf TikTok!), lizenzierte Profis sind, und zwar idealerweise Expert:innen in ihrem Feld, meint Dr. Cook. Informiere dich zu der Erkrankung in diversen angesehen medizinischen Quellen, und, wenn du kannst, bitte deine Ärzt:innen um Rat. Wie Dr. Cook sagt: „Die Leute, die sich meinen Content ansehen, verdienen mehr als ein einminütiges Video. Sie verdienen die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Experten oder einer Expertin.“
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