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Ich lebe seit 3 Jahren enthaltsam & fühle mich sexuell empowert wie nie

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Suizid und Fehlgeburt.
Ich hatte gerade ein Baby verloren. Ich pumpte mich voll mit Tequila, während ich meiner besten Freundin, die Hunderte Kilometer von mir entfernt lebte, am Telefon die Ohren vollheulte und darauf wartete, dass mein Ex-Freund – der Vater des Babys – auftauchte und den Schmerz auf magische Weise verschwinden ließ. Er ist nie aufgetaucht, weder körperlich noch emotional, und ich verbrachte die Wochen bis zum Jahreswechsel betrunken und suizidgefährdet. 
Jetzt, Jahre später, bin ich in einer ganz anderen Verfassung. Ich bin stolz darauf, enthaltsam zu leben, und das hat mir mehr über mein Verhältnis zum Sex beigebracht als alles andere zuvor.
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Ich hatte immer Schwierigkeiten mit Sex; es war nie ein Berg, den ich erklimmen oder bezwingen wollte. Ich wuchs als gläubige Christin auf und wollte damit bis zur Ehe warten, verlor aber trotzdem mit 17 Jahren meine Jungfräulichkeit. Eine Kurzschlussreaktion darauf, dass mein High-School-Freund seine verlor – so begann meine sexuelle Reise. Wie viele junge Mädchen war ich nicht wirklich bereit für Sex, und obwohl mein Partner ein netter Kerl war, war es nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Ich wuchs mit dieser Vorstellung auf, dass das „erste Mal“ etwas wirklich Bedeutsames sei, das romantisch und voller Zärtlichkeit sein sollte. Ich verstand nicht, wie ich mir selbst Grenzen setzen konnte, und ich ließ zu, dass der Titel „Freund“ zur einzigen Voraussetzung für Sex wurde.
Eine „erwachsene“ oder „feste“ Beziehung ohne Sex erschien mir unmöglich und unrealistisch. Es gab keinen magischen Knopf, der mich wieder zur Jungfrau und meine Entscheidungen rückgängig machen könnte, also akzeptierte ich, dass Sex in einer Beziehung immer unverzichtbar sein würde.
Das änderte sich, als ich einen Mann traf, von dem ich dachte, ich würde ihn heiraten. Es war, als hätte ich endlich ein sexuelles Rätsel gelöst. Es fühlte sich sicher an und machte Spaß, und ich fühlte mich selbstbewusst und war sicher, dass die Verbindung auf Gegenseitigkeit beruhte... bis er mich betrog und wir uns trennten. 
Wir lebten ein Jahr lang getrennt und versöhnten uns dann wieder, nur um daraufhin eine Schrecksekunde zu durchleben, die den Verlauf unserer Beziehung veränderte: Ich war vielleicht schwanger. Ich hatte immer gesagt, dass ich niemals Mutter werden wollte und hatte deshalb Angst. Er hatte immer betont, dass er sich wünschte, Kinder mit mir zu bekommen. Wir waren also unterschiedlicher Meinung. Zwei Monate später hatte ich eine frühe Fehlgeburt, und meine ganze Welt stand kopf. Die Fehlgeburt ging schnell und unkompliziert, aber ich trug Schuldgefühle und Scham mit mir herum, als hätte ich mir einen Felsbrocken auf den Rücken geschnallt.
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Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, enthaltsam zu leben, um mich für meinen Leichtsinn zu bestrafen, meinen Körper der falschen Person anzuvertrauen. Es kam mir wie eine einfache mathematische Gleichung vor, Sex ganz aus dem Bild zu streichen, weil ich mir selbst nicht traute. Dieser schwere Fehler hatte mich viel gekostet, und ich wollte ihn nicht noch einmal begehen.
Aber als ich mit einer Therapie anfing, in meiner Beziehung zu Gott herumwühlte und sie zu heilen begann, änderten sich langsam meine Beweggründe. Mir wurde klar, dass Sex für mich wie eine Pizza ist, die richtig belegt werden muss, damit ich zufrieden bin. Ich kann mich nicht einfach mit dem zufriedengeben, was gerade da ist, sonst ist es bedeutungslos für mich. Wann immer ich mich für Sex außerhalb dieser Parameter entschieden hatte, habe ich mir selbst keinen Gefallen getan. Ich habe verstanden, dass mein Wohlbefinden an erster Stelle stehen sollte. Und das bedeutet, dass ich keinen Sex haben sollte, nur um zu beweisen, dass ich eine „erwachsene Frau“ bin.

Mir wurde klar, dass Sex für mich wie eine Pizza ist, die richtig belegt werden muss, damit ich zufrieden bin.

„Ich werde enthaltsam leben“ oder „Ich will keinen Sex haben, bis…“ sind keine Aussagen, die mich bei meinen Freund:innen oder bei der Partnersuche beliebt gemacht haben. In den letzten Jahren habe ich ein Bewusstsein und eine Liebe für mich selbst entwickelt, von denen ich mir wünsche, ich hätte sie früher gehabt. Das hat sich schließlich auch in meinen engsten Beziehungen bemerkbar gemacht. Meine Familie ist sehr religiös, und als ich mich nach meiner Fehlgeburt für das Zölibat entschied, wurde ich mit Jubel und Beifall belohnt. Als Christin spielt der Glaube zwar eine Rolle dabei, welchen Stellenwert Sex bei mir hat, aber er ist nicht der einzige Grund, warum ich mich für die Enthaltsamkeit entschieden habe. Es ist traurig, dass mich erst eine Fehlgeburt dazu gebracht hat, über Sex nachzudenken. Aber der Verlust eines Teils von dir zwingt dich dazu, herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, dass du dich überhaupt so verloren hast.
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Meine Freund:innen wissen von meiner sexuellen Vergangenheit und der Fehlgeburt, aber das hält sie nicht davon ab, mich zum Sex zu ermutigen. Ihr mangelnder Enthusiasmus über meine Entscheidung fühlt sich an wie eine Erweiterung meines Dating-Lebens. Der Dating-Pool wirft kein Konfetti aus, wenn man sagt: „Ich lebe enthaltsam“, sondern zieht sich zurück wie eine Beute auf der Flucht vor einem Löwen. Seit ich mich für das Zölibat entschieden habe, stoße ich in meinem Dating-Leben auf Skepsis, Resignation, Ghosting und blankes Entsetzen. Wie kann ich es wagen zu sagen, dass ich keinen Sex haben werde, und erwarten, dass ein Mann damit einverstanden ist?

Der Dating-Pool wirft kein Konfetti aus, wenn man sagt: „Ich lebe enthaltsam“, sondern zieht sich zurück wie eine Beute auf der Flucht vor einem Löwen.

Als ich anfing, Männern zu erzählen, dass ich enthaltsam lebe, zerbrach ich mir lange darüber den Kopf, wann es „zu früh“ oder „zu spät“ für diese Offenbarung sein könnte. Ein Mann gab mir nach zwei Monaten voller wunderbarer Dates den Laufpass; ein anderer sagte mir, es sei nicht realistisch, davon auszugehen, dass ein Mann damit einverstanden sei, keinen Sex zu haben. Ich habe Situationen erlebt, in denen ein Mann versucht hat, mich zum Sex zu überreden – wie ein Anwalt, der einen großen Fall gewinnen wollte. Dann geht es darum, zu sehen, wie weit er tatsächlich kommen kann, oder mich davon zu überzeugen, dass ich dazu bestimmt bin, allein zu sein. Dazu kann ich nur sagen: Das macht mir nicht im Geringsten Angst.
Ich will nicht behaupten, dass es einfach sei oder dass ich mich nicht manchmal wie eine Versagerin fühle, denn das tue ich. Aber es ist eine Entscheidung, zu der ich stehe. Ich bewundere diejenigen, die selbst entscheiden können, wie und wann sie Sex haben wollen; das ist ein Menschenrecht, auf das sie ein Anrecht haben. Genauso darf ich aber auch Grenzen und Normen für mein Sexualleben festlegen. In diesem Fall heißt das, zu warten, bis ich bereit bin.
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Im Zölibat geht es in erster Linie um mich: Ich liebe und schütze mich selbst und lege einen Maßstab fest. Das erlaubt es mir, der Art von sexueller Erfahrung, die ich mir wünsche, den Vorrang zu geben. Ich bin ein Mensch, und deshalb kann es sich einsam anfühlen. Ich werde oft gefragt, wie ich mein sexuelles Verlangen stillen kann, als ob es da ein besonderes Geheimnis gäbe. Und weißt du was? Es gibt keins. 
Dating fühlt sich bereits wie ein olympischer Sport an: Vom Kennenlernen über Apps, der „talking stage“, der Exklusivität und schließlich der Kurve vor der Ziellinie, einer „festen Beziehung“. Wenn ich mich für Enthaltsamkeit entscheide und beim Dating von Anfang an ehrlich bin, mache ich es mir nicht gerade leichter. Es kann zwar eine Weile dauern, aber ich bin zuversichtlich, dass es einen Mann geben wird, der mich auf meinem Weg der Enthaltsamkeit respektieren und unterstützen will, ganz gleich, wohin es uns beide führt. Ein Mann, der Daten nicht wie ein Schachspiel behandelt, das es zu gewinnen gilt, oder ein Spiel, von dem er denkt, dass ich es spiele, um „süß“ oder „schüchtern“ zu wirken. 
Keinen Sex zu haben ist nicht das Ende der Welt – wenn es doch so viel mehr über die Person zu entdecken gibt, mit der ich mich treffe, als nur die Tatsache, ob sie mir einen Orgasmus verschaffen oder es mir richtig besorgen kann. Das Zölibat hat mir einen Schub an Selbstvertrauen und Selbstliebe gegeben, die ich vorher nicht hatte. Es hat meine Sicht auf Sex und die Rolle, die ich dabei spiele, verändert, und das finde ich großartig für mich.
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Wenn es dir selbst mal nicht gut geht oder du eine Person kennst, die Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen.
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