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Ich esse, um mich besser zu fühlen. Aber ist das noch gesund?

Foto: Tino Chiwariro
Für mich war Essen schon immer eine emotionale Sache – aber nicht nur auf „normale“, gesunde Art, wie beim Geburtstagskuchen und Feiertagsbraten, sondern manchmal auch auf eine Weise, die mir Sorgen macht.
Wenn wir in den Sommerferien keine Schokolade im Haus hatten, schnappte ich mir die Schokosauce aus dem Kühlschrank, die du über Eiscreme gießt, und fror sie in einer Schüssel ein; so sah Langeweile in der Prä-Internet-Ära aus. Dieses Langeweile-Hobby entwickelte sich aber nach und nach zu einer kleinen Sucht. Als hormonelle, unsichere Teenagerin schlich ich mich zum Süßigkeiten-Schrank und lenkte mich mit Schoki oder Pringles von meinem Alltag ab, selbst wenn ich nicht hungrig war. In meinen späten Teenie-Jahren legte sich in meinem Kopf aber ein Schalter um und verteufelte diese eigentlich relativ normale Abhängigkeit von Süßkram. Ich fing an, meine Gefühle – und insbesondere meine Scham und Angst – zu managen, indem ich mein Essen einschränkte, bis ich mit 19 eine Magersucht diagnostiziert bekam. Als Konsequenz verbrachte ich einen großen Teil meiner 20er damit, zu lernen, wie ich mein Essverhalten auf gesunde Weise an das Auf und Ab meiner Gefühle anpassen konnte, ohne es von ihnen bestimmen zu lassen – Schluss mit „emotionalem Essen“ also. 
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„Emotionales Essen“ klingt… intensiv. Dabei denkst du vielleicht an jemanden, der oder die mitten in der Nacht mit beschämtem Gesichtsausdruck eine große Tüte Chips auffuttert, nach einer Trennung in eine riesige Packung Eiscreme schluchzt oder nach einem nervenaufreibenen Meeting erstmal einen Snack nach dem anderen verschlingt. „Emotionales Essen“ klingt nach einem Fressgelage, nach Futtern aus Langeweile, Angst, Trauer, Stress oder Frustration. Wir sehen emotionales Essen meist als Reaktion auf etwas Negatives, als eine schädliche, ungesunde Art des Essens – als etwas, das gesunde, ausgeglichene Menschen nicht tun würden.
Dabei ist emotionales Essen eigentlich völlig normal, und ich bin mir sicher, dass wir alle schon mal versucht haben, unsere Gefühle durch unseren Alkohol- und/oder Nahrungs-Konsum zu regulieren – insbesondere in den letzten Monaten. Kein Wunder: Schließlich kann das schnell über gewisse Gefühle hinwegtrösten und ist daher insbesondere im stressigen, isolierenden Lockdown für viele eine Art nützliches emotionales Pflaster geworden. Ich persönlich habe im Lockdown quasi völlig auf Alkohol verzichtet; bei meinen Essgewohnheiten sah das aber anders aus. Wenn mir langweilig ist oder ich unruhig bin, bestelle ich mir gerne ein paar Donuts, oder ignoriere meinen liebevoll selbst gekochten Eintopf für eine Packung Chips, wenn ich meine Freund:innen vermisse. Es hat mir oft geholfen, meine Gefühle meine Essgewohnheiten bestimmen zu lassen – selbst, wenn ich mal über das Sättigungsgefühl hinaus esse.
Ich habe so hart daran gearbeitet, mein Essverhalten von jeglichen Schuld- oder Schamgefühlen zu trennen. Als ehemalige Magersüchtige ist es nicht übertrieben, wenn ich sage: Ich verdanke einen großen Teil meiner Gesundheit und Lebensfreude der Einsicht, dass ich mein Essen nicht in „Das sollte ich essen“ und „Das sollte ich nicht essen“ aufteilen muss. Während sich der (hoffentlich letzte) Lockdown aber allmählich dem Ende neigt, merke ich, dass sich das emotionale Essen – und insbesondere das Überessen – so weit in meinen Alltag zurückgeschlichen hat, dass es sich nicht mehr normal anfühlt. Darüber mache ich mir Sorgen; und dann mache ich mir Sorgen darüber, dass meine Sorgen einfach daher kommen, dass ich früher magersüchtig war. Und dann mache ich mir Sorgen, dass ich irgendeinen alten Zwang auslösen könnte, den ich mir mühsam abgewöhnt habe, wenn ich jetzt versuche, mein Essverhalten einzuschränken. Vermutlich ist das eine Überreaktion. Wenn ich aber darüber nachdenke, wie mein Essverhalten nach dem Lockdown aussehen könnte, stelle ich mir vor allem zwei Fragen:
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Kann ich das emotionale Essen jemals ganz sein lassen? Und sollte ich das überhaupt versuchen?
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Wichtig ist zuallererst mal: Emotionales Essen ist ein normaler Teil des Lebens, meint der Psychotherapeut Dr. Christian Buckland. „Das ist eine ganz normale menschliche Reaktion“, sagt er gegenüber R29. „Vielleicht fällt dir auf, dass du isst, wenn du dich freust oder traurig bist. Wenn wir etwas feiern, gehen wir schick essen. Emotionales Essen gibt es in so vielen verschiedenen Formen.“
Da stimmt die Ernährungswissenschaftlerin Claire Fudge zu und betont: „Emotionales Essen ist keine Diagnose.“ Zwar bewegt sich emotionales Essen – und insbesondere das Überessen, über das Sättigungsgefühl hinaus – auf demselben Spektrum wie Essstörungen wie die Binge-Eating-Störung; im Gegensatz dazu gehen mit dem emotionalen Essen aber kein Kontrollverlust oder eine emotionale Notlage einher. 
Wie wir uns von unseren Gefühlen zum Essen verleiten lassen, ist so unterschiedlich wie die Gefühle selbst. Wenn das emotionale Essen (und vor allem das Überessen) allerdings immer häufiger passiert und Gefühle wie Langeweile, Angst oder Einsamkeit regulieren soll, kann es doch durchaus besorgniserregend werden. 
Kate Robbins vom Beratungsteam der Essstörungs-Wohltätigkeitsorganisation Beat meint, ihre Organisation habe während des Lockdowns festgestellt, dass sich immer mehr Leute durch Essen zu helfen versuchen. „Das Essen im Restaurant war in den letzten Monaten keine Option; daher war die gelegentliche Essensbestellung für viele eines der seltenen Highlights, auf die man sich freuen konnte“, sagt sie. „Ich denke, zu Krisen- und Traumazeiten versuchen wir, durch emotionales Essen mit unseren Gefühlen klarzukommen.“ Sie findet das nachvollziehbar, weil viele unserer sonstigen Bewältigungsmechanismen im Lockdown plötzlich wegfielen. Ohne unsere normalen emotionalen Ventile – wie das Treffen mit Freund:innen oder der Besuch im Fitnessstudio – wurde das Essen eine Sache, die sich noch gut kontrollieren ließ und auf die wir uns freuen konnten.
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Und genau darin liegt der große Pluspunkt des emotionalen Essens. Solange es sich wie etwas anfühlt, das wir freiwillig und absichtlich machen, erklärt Kate, kann das eine sehr effektive Methode sein, unsere Emotionen zu verarbeiten. „Das ist ein Akt der Selbstliebe. Ich finde es toll, wenn mir Leute erzählen, dass sie sich selbst etwas als Teil einer gesunden, ausgeglichenen Ernährung haben essen lassen, das sie sich früher nicht erlaubt hätten.“
Dazu kommt die Kraft der sinnesbedingten Erinnerungen und die Gefühle, die manche Geschmäcker und Düfte in uns auslösen können. „Wenn ein Gericht eine emotionale Verbindung für dich hat, kann das tröstend wirken. Das kann eine bestimmte Erinnerung sein oder dich an bestimmte Leute denken lassen“, erklärt Claire. 
Schwieriger wird es, wenn das Essen oder Überessen die einzige Methode zur Gefühlsbewältigung wird. „[Emotionales Essen] kann den zugrundeliegenden Auslöser dieser Gefühle natürlich nicht beheben“, sagt Kate. „Am Ende stehst du dann immer noch mit allen Gedanken und Gefühlen da, die du schon vor dem Essen hattest. Das kann dann wiederum noch zusätzlich für Frust und Schuldgefühle sorgen.“
Wenn das emotionale Essen dazu noch ein langfristiger Bewältigungsmechanismus wird, kann das auch körperliche Auswirkungen haben. „Das kann sich an deinem Blutzuckerspiegel, durch eine Gewichtszunahme, Hautprobleme oder Stimmungsschwankungen zeigen und deinen Schlaf stören, wenn du spätabends isst“, erklärt Claire. Insbesondere der gestörte Schlaf kann dich in einen Teufelskreis stürzen, weil Schlafmangel wiederum ein Auslöser für emotionales Essen und Überessen sein kann. „Wenn du viel isst, das deinen Blutzuckerspiegel steigen lässt oder besonders fettig ist, wird das deinen Schlaf verschlechtern. Du kannst nicht einfach davon ausgehen, dass dein Körper zu deiner Bettzeit seinen Stoffwechsel abschaltet.“
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Während das emotionale Essen also nicht unbedingt ein langfristig lohnenswerter Bewältigungsmechanismus ist, solltest du auf keinen Fall versuchen, es dir mit einem Schlag abzugewöhnen. Stattdessen ist es wichtig, dem Auslöser für die Scham- und Schuldgefühle, die dem emotionalen Essen zugrundeliegen, auf die Spur zu gehen. 
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Während die Welt allmählich wieder in ihren normalen Alltag zurückfindet, hinterfragen wir die neuen Angewohnheiten, die wir im Laufe des letzten Jahres entwickelt haben. Was das emotionale Essen angeht, sollten wir uns dabei vor Augen halten, dass es ein normaler Teil des Lebens ist – und wir unsere Gefühle auch nie zu hundert Prozent von unserem Essverhalten loskoppeln können. 
Problematisch ist also weniger das emotionale Essen an sich, sondern eher die Lebensmittel, die wir dafür bevorzugen. Wenn wir uns von unseren Gefühlen zum Essen verleiten lassen, konsumieren wir dabei meist „Ungesundes“ – also besonders fetthaltige, salzige und/oder süße Lebensmittel. „Bei emotionalem Essen geht es meist um Nahrungsmittel, die wir als Gesellschaft als entweder ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ abstempeln“, meint Claire. Insbesondere bei „schlechtem“ Essen sind die eigenen Schuldgefühle oft besonders stark. „Wenn du diese Stempel aber mal weglässt, siehst du das Essen schnell ganz anders – und hast vielleicht auch gar nicht so viel Heißhunger darauf.“ Gilt das „schlechte“ Essen nicht mehr als verboten, wirkt es plötzlich viel weniger „sündenhaft“ und lässt dich viel intuitiver zugreifen, anstatt dich mit seinem bedrohlichen „Böse!“-Stempel zu blenden. 
Wenn dich dein emotionales Essverhalten trotzdem besorgt oder für dich der einzige Bewältigungsmechanismus geworden ist, sind sich alle, mit denen ich darüber gesprochen habe, in einem Punkt einig: Du solltest dir mehrere Methoden zur Gefühlsbewältigung suchen – und nachsichtig mit dir selbst sein.
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Christian betont dabei vor allem die Bedeutung offener Gespräche, insbesondere im Kontext einer Therapie. „Es ist so wichtig, alles ehrlich anzusprechen“, sagt er. Nur so kannst du den Auslösern deines Essverhaltens auf den Grund gehen. Erinnere dich auch daran zurück, wie du vor dem Lockdown mit deinen Gefühlen umgegangen bist. Kannst du zu diesen alten Methoden zurückkehren? Wenn nicht, erforsche neue Optionen.
Am wichtigsten ist es aber, dir selbst nicht zu viel Druck zu machen, sondern das Essen vielleicht sogar als Chance zu betrachten, eine ganz neue Liebe zum Essen zu entdecken. „Versuch’s mit einem anderen Blickwinkel: Das ist die Gelegenheit, um mal wirklich auf deinen Körper und seine Bedürfnisse zu hören“, meint Claire. Vielleicht gibt es neue Ess-Routinen, die du ausprobieren möchtest, neue Restaurants, die du besuchen willst, neue Geschmacksrichtungen, auf die du schon lange neugierig bist. Jetzt ist die ideale Zeit für all das.
Dich beim Essen von deinen Gefühlen leiten zu lassen, ist menschlich. Oft lassen wir uns aber in unserem Essverhalten von unseren Ängsten und Unsicherheiten blenden und halten die Grenzen der „guten“ und „schlechten“ Ernährung viel zu strikt ein. Gesundheit ist aber eben auch eine emotionale und mentale Angelegenheit; also frage dich, wie du deine Gefühle managst, ohne dich für eventuelle „Fehler“ selbst zu geißeln. Muss dieses Kuchenstück jetzt sein? Nein. Aber du brauchst dich wirklich nicht dafür fertig zu machen, wenn du es trotzdem isst. 

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