Als Kind hatte ich eine Freundin, bei der es eine Süßigkeitenschublade in der Küche gab. Nein, ich spreche nicht von einer Schublade, in der zwischen Mehl und Dosenmais ein paar Kinderriegel und drei uralte nimm2-Bonbons rumliegen. Ich spreche davon, dass es eine Schublade gab, in der ausschließlich Süßigkeiten aufbewahrt wurden.
Ich habe oft bei ihr übernachtet. Zusammen haben wir eine The Nanny-Folge nach der anderen geschaut, uns dabei unsere Fußnägel lackiert und über Jungs gesprochen. Das war großartig! Aber ein kleiner Teil von mir war nie ganz bei der Sache. Meine Gedanken drifteten immer wieder ab und landeten in der Küche. Während ich ihren Erzählungen zuhörte, wer wen auf dem Schulhof geneckt hatte, dachte ich gleichzeitig darüber nach, wie viel ich wohl aus der Schublade stibitzen könnte, ohne dass es jemand bemerkt.
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Bei uns zu Hause gab es keine Süßigkeitenschublade. Und auch in meiner ersten eigenen Wohnung hatte ich nie was zum Naschen da. Selbst nachdem ich beschlossen hatte, keine Diät mehr machen zu wollen. Warum? Weil es in mir verankert war, dass ich die Art von Mensch bin, die einfach nicht damit umgehen kann, permanent Zuckerzeug in der Wohnung zu haben. Und dann zog ich mit meinem Freund zusammen. Es war der Tag nach Halloween und mitten im Chaos lag auf unserer brandneuen Arbeitsplatte in der Küche eine Packung Celebrations. „Kann ich die in die türkisfarbene Schüssel tun?“, fragte Harry mich. Ich schaute auf all die Umzugskartons und die Luftpolsterfolie, und dachte, alles, was ausgepackt und weggeräumt ist, ist ein Anfang. Also nickte ich ihm zu.
Ein paar Wochen später stand die Schüssel immer noch für alle zugänglich draußen rum – sie war allerdings auf den Couchtisch gezogen. Harry hatte gemeint, es wäre doch schön, immer ein paar Süßigkeiten griffbereit zu haben. „Für Besuch!“, hatte er gesagt. Ich hatte eine Augenbraue hochgezogen und ihn skeptisch angeschaut. Aber dann dachte ich: meinetwegen. Die Halloween-Reste sind eh bald alle und ich würde ganz sicher keine neuen Süßigkeiten nachkaufen. Und er vergisst die ganze Sache bestimmt auch schnell.
Doch dann kam Harry eines Tages mit einer – wie beschreibe ich es am besten? – Jahresration Naschzeug nach Hause. Es gab M&Ms, Gummibärchen, Schokobons, Maoam, Riesen,… einfach alles, was das Herz begehrt. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
„Okay wow. Also das ist jetzt ganz offiziell unsere Süßigkeitenschüssel?!“
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„Jupp!“
„Du willst also immer Süßkram im Haus haben?“
„Jupp, das fänd ich cool.“
Es war eine dieser Unterhaltungen, bei denen man vorsichtig sein muss. Meine Gedanken sprangen hin und her zwischen vertrauten Ängsten, die ich immer in der Gegenwart von Zucker hatte, und den neuen Neurosen einer Person, die gerade mit ihrem Freund zusammengezogen war und noch lernen musste, wann es sich lohnt, für etwas zu kämpfen und wann nicht – Pick your Battles, wie man so schön sagt. Ich schaute auf die randvolle Schüssel und realisierte: Die Schüssel stand da schon seit über einem Monat. Wie ein stiller Mitbewohner. Und ich hatte sie kaum wahrgenommen. Ich hatte nicht mal an sie gedacht, außer wenn Harry meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt hatte oder Freund*innen zu Besuch waren und fragten, ob sie sich was nehmen dürfen.
„Na klar!“
„Bist du sicher? Ich will euch ja nicht die Vorräte wegessen.“
„Das sind doch nur Süßigkeiten, kein Meth. Aber mein Meth bekommst du nicht.“
Ich dachte an mein Grundschul-ich. Daran, wie ich überlegt hatte, wie viel ich heimlich vom Vorrat meiner Freundin naschen könnte. Und dann fiel mir auf, dass ich problemlos die halbe Schüssel hätte leeren können, ohne dass irgendjemand was gesagt hätte.
Menschen, die eine Schublade voller Süßkram haben, an der sie sich zu jeder Zeit bedienen können, sind nicht pausenlos hibbelig und denken daran, etwas vom geheimen Vorrat zu stibitzen. Weil es für sie kein geheimer Vorrat ist. Es ist nichts Verbotenes. Sie denken nicht groß drüber nach, außer wenn sie auf einmal Heißhunger auf ein Stück Schokolade bekommen. Früher dachte ich immer, diese Art von Menschen wären wie Wunderkinder oder Naturblondinen – Menschen, die einfach anders (besser?) sind als ich. Menschen, die Fähigkeiten haben, die man nicht erlernen kann. Aber das ist natürlich Quatsch. Das Einzige, was sie haben und ich nicht? Ernährungssicherheit. Oder besser: Süßigkeitensicherheit. Der Begriff “Ernährungssicherheit“ wird nämlich meist verwendet, wenn es darum geht, dass Menschen (komplette Länder oder auch nur Individuen) keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben und hungern müssen. Und in meinem Fall geht es natürlich nicht um Grundbedürfnisse oder ums pure Überleben. Ich will den Begriff also nicht leichtfertig verwenden oder verharmlosen. Doch Ernährungsunsicherheit kann nicht nur fatale gesundheitliche Probleme zur Folge haben, sondern auch eine seelische Belastung darstellen und ernsthafte Ängste hervorrufen. Und das ist bei mir ähnlich. Nationale und internationale Hungersnot ist eine fürchterliche Sache und deswegen will ich es auch nicht mit der Ernährungsunsicherheit gleichsetzen, die Menschen empfinden, die ihr Leben lang auf Diät sind. Aber ich denke du verstehst, was ich meine. Auch in meinem Kopf ist – beziehungsweise war – das Thema Essen ein permanenter Gedanke.
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Ich halte gefühlt schon immer Diät und deswegen habe ich mir Süßigkeiten auch nie erlaubt. Deswegen habe ich sie wie verbotene Früchte behandelt. Wenn es dann doch mal irgendwo welche gab, musste ich sie einfach essen – ob ich nun Hunger hatte oder nicht. Und es war auch komplett egal, was es war und ob ich es überhaupt mochte. In den Phasen zwischen zwei Diäten war mein Gehirn darauf konditioniert, jede Chance der Zuckerzufuhr zu ergreifen. Ich wusste ja nicht, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit dazu hatte, also musste ich sie nutzen. Eine Kollegin hat Pralinen mitgebracht und in die Büroküche gestellt? Schnell hin da und so viel wie möglich essen oder für später einstecken! Nicht, dass mir jemand noch was wegisst!
Als ich dann beschloss, das Diät machen komplett aufzugeben und die Methode “Intuitives Essen“ auszuprobieren, sorgte ich dafür, immer genügend Essen zu Hause zu haben – und zwar vor allem das, was ich mir früher verboten hatte, wie Kartoffeln, Bagels und Hamburger. Aber Naschzeug? Davor hatte ich immer noch Angst. Ich wäre nie auch nur auf die Idee gekommen, Süßigkeiten für mich zu kaufen. Ich dachte, die anderen Nahrungsmittel enthalten ja wenigstens noch ein paar Nährstoffe oder machen mich zumindest satt. Aber Süßigkeiten? Die braucht doch nun wirklich niemand.
Doch ich lag komplett falsch. Weil ich nichts Süßes hatte, entstand ja überhaupt erst das Verlangen danach. Deswegen ist es im Nachhinein auch keine Überraschung, dass das Verlangen, die Angst oder das Bedürfnis – wie du es auch nennen magst – verschwand, als ich (oder besser mein Freund) es befriedigte.
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Mittlerweile sind vier Monate vergangen und die Süßigkeitenschüssel ist mir immer noch relativ wurst. Es gab mal ein PMS-Nachmittag, an dem mir gegen 16 Uhr auffiel, dass ich gar kein Mittag gegessen hatte und da bekam ich auf einmal Heißhunger auf was Süßes also naschte ich ein bisschen. Aber abgesehen davon spielt die Schüssel in meinem Alltag gar keine Rolle. Ich schau so einmal die Woche rein, nehme mir ein Bonbon und lutsche ihn, während ich zusammen mit Harry America's Sweethearts schaue (Jupp, dazu konnte ich ihn tatsächlich überzeugen. Ich sag ja: Pick your battles!).
Du kannst deinem Gehirn nicht sagen, es soll aufhören, an Schokolade zu denken und erwarten, dass es mit „Verstanden. Ich habe alle Ängste, Verhaltensweisen und persönliche Erfahrungen, die mit Schokoladenprodukten zu tun haben, gelöscht“ antwortet. Vielleicht funktioniert das, wenn du eine Hypnosetherapie machst. Aber ansonsten würde ich dir empfehlen, leg dir eine Süßigkeitenschüssel zu. Füll sie mit allem, wovor du am meisten Angst hast und stelle sie irgendwo hin, wo du sie immer sehen kannst. Greif zu, wann immer du Lust hast und achte darauf, immer genug Nachschub im Haus zu haben. Vielleicht dreht dein Gehirn erst mal durch und sagt dir, du sollst so viel auf einmal essen, wie irgendwie möglich. Aber wenn du diese erste Phase überstanden hast, wird die Stimme in deinem Kopf irgendwann leiser – vielleicht sogar schneller als du denkst.
Wenn dein Gehirn weiß, dass die Süßigkeiten nicht verschwinden, dass du immer und jederzeit Zugang hast, dann verhältst du dich auch nicht länger wie jemand, der kurz vorm Verhungern ist, sobald du eine Packung Pralinen in der Büroküche liegen siehst. Okay, ganz so simple ist die Sache vielleicht nicht. Aber man muss sie auch nicht komplizierter machen als sie ist. Ein Versuch ist die Schüsselmethode auf jeden Fall wert, findest du nicht?
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