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Coming-out mit 30: Der Lockdown gab mir den Mut, mich endlich zu outen

Foto: Moment/Getty Images
Wenn ich an mein eigenes Coming-out zurückdenke, erinnere ich mich dabei vor allem an eine Situation. Mit 17 saß ich vor meiner Schule auf einem Grashügel und erklärte meiner besten Freundin, dass ich auf Mädchen stand. Und auf Jungs. Sie zuckte null überrascht die Schultern und fragte mich, ob sie die andere Hälfte von meinem KitKat haben könne. Das war’s. Erledigt. Naja, nicht so ganz.
Das Coming-out ist keine einmalige Sache. Ich hatte damals nicht geahnt, wie oft ich im Laufe meines Lebens tatsächlich würde sagen müssen: „Oh, ich bin bisexuell.“ In meinem Fall wurde es aber jedes Mal leichter – denn für mich war das irgendwann kein großes „Outing“ mehr, sondern einfach ein Fakt über mich. 
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Seit diesem Gespräch mit meiner besten Freundin sind mehr als zehn Jahre vergangen, und heute kann ich mich kaum noch an die Zeit erinnern, in der ich mir meiner Sexualität unsicher war. Der Welt schon mit 17 zu verkünden, dass ich auf mehrere Gender stand, hatte eindeutige Vorteile, und in fast jeder LGBTQ+-Story in den Medien outen sich die Charaktere ungefähr in diesem Alter. Das erlaubte mir auch, in einem Alter mit meiner Sexualität herumzuexperimentieren, in dem diese Experimente quasi erwartet wurden. Noch dazu bedeutet ein Coming-out zu Schul- oder Unizeiten zum Glück oft den leichteren Zugang zur Unterstützung, die du dir vielleicht wünschst: Hotlines, Gruppen oder eben die LGBTQ+-Community. Aber was, wenn du dich erst deutlich später im Leben outest?
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Wir hatten noch nie so viel Zeit, uns über uns selbst Gedanken zu machen, als im vergangenen Coronajahr. Das hat viele Leute dazu ermutigt, sich zu outen. Umgekehrt bedeutet die Pandemie für viele aber leider auch die schwerere Verfügbarkeit von Support. 
„Ich weiß schon, seit ich 14 war, dass ich nicht hetero bin“, erzählt mir Katie, selbstständige Autorin. „Zum Abschlussball fragte ich ein Mädchen, ob sie mit mir hingehen würde, aber ‚nur als Freundinnen‘. Ich wusste zwar, dass sie auch bisexuell war, hatte aber total Schiss davor, diese Seite an mir kennenzulernen – also ignorierte ich sie quasi.“ Katie erklärt, dass ihr Problem nicht darin lag, sich selbst zu entdecken, sondern im Coming-out als solches. „Ich war mir fast sicher, wer ich war. Als ich das Thema aber vor ein paar Jahren zum ersten Mal gegenüber Freund:innen ansprach, nahmen sie das gar nicht ernst. Ich zweifelte also daran, ob ich mir dieses Label überhaupt selbst verpassen sollte. Ich war ja auch noch nie mit einer Frau zusammen gewesen! Das war ein echter Fall vom queeren Impostor-Syndrom.“ 
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Heute ist Katie seit Jahren mit einem Mann zusammen – und hat sich vor Kurzem als bisexuell geoutet, mit 29 Jahren. „Mein Partner wusste vorher Bescheid und hat mich dabei echt unterstützt. Und im Gegensatz zu früher wird heute so viel drüber gesprochen. Als Corona kam, sagte ich mir also selbst: ‚Scheiß drauf.‘ Ich weiß nicht, ob der Lockdown dran schuld war, aber ich hatte so ein ‚Jetzt oder nie‘-Gefühl. Zwar wünsche ich mir, ich hätte schon früher den Mut dazu gehabt, aber die LGBTQ-Community hat mich mit offenen Armen empfangen.“
Auch Emily* hatte vor Kurzem ihr Coming-out. Sie ist 36 und outete sich vor ihrem Mann – vier Monate nach ihrer Hochzeit. „Tom* und ich haben im Dezember geheiratet. Und es ist nicht so, als hätte ich nicht selbst gewusst, dass ich queer bin. Es hat sich bloß nie wie der richtige Zeitpunkt angefühlt, das auch auszusprechen“, erklärt sie. „Dann kam Corona. Das änderte meine Einstellung und ich dachte mir: ‚Wenn ich es jetzt nicht sage, werde ich’s nie tun!‘“ Seitdem wissen ihr Mann und ein paar enge Freund:innen Bescheid. Ihren Eltern will sie es erst erzählen, wenn sie sie das nächste Mal trifft. „Es ist ganz komisch: Ich glaube, ich dachte immer, es sei sinnlos, mich zu outen. Ich war ja in einer Beziehung mit einem Mann und fühlte mich einfach zu alt für ein Coming-out – mit Mitte 30 sollte ich das ja mittlerweile alles ‚im Griff‘ haben. Es hat mich überrascht, so viele Leute wie mich kennenzulernen. Ich hatte keine Ahnung, wie viele sich erst in ihren 30ern outen.
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Dieses Gefühl, ‚nicht alles im Griff zu haben‘, versteht C.J. Smith, der:die sich als nichtbinär identifiziert. Er:sie leitet eine Psychotherapie- und Beratungspraxis für LGBTQ+-Menschen. „Das individuelle Coming-out hängt so stark damit zusammen, was wir in der Welt um uns herum sehen. Wenn wir zum Beispiel zusehen, wie sich LGBTQ+-Personen enthusiastisch outen, schenkt uns das mehr Selbstvertrauen. Ich beobachte immer mehr Outings in allen Altersklassen. Dabei sollten wir immer bedenken, dass das eine sehr individuelle Erfahrung ist. Da denkt man schnell, nicht alles richtig zu machen – aber es ist überhaupt nicht peinlich, unser eigenes Selbstbild zu hinterfragen und Veränderungen umzusetzen, wenn es sich richtig anfühlt.“
Em, 30 Jahre alt und nichtbinär, outete sich mit 20 und identifiziert sich heute als abrosexuell (das heißt, seine:ihre Sexualität ist fließend und verändert sich) sowie genderfluid. „Ich wusste schon immer, dass ich queer bin, und meine Familie war da sehr offen. Mein Coming-out in den späten Teenager-Jahren und frühen 20ern war demnach nicht so schwierig. Ich merkte aber, dass irgendwas noch nicht ganz stimmte, und erkannte, dass ich nichtbinär bin. Zu dem Zeitpunkt war ich gerade 30 geworden und hatte das Gefühl, viele der Erwartungen an mich hätten sich dadurch verlagert. Der Druck, erfolgreich zu sein und mich so-und-so zu verhalten, hatte nachgelassen. Deswegen fühlte sich der Beginn des Lockdowns wie der richtige Zeitpunkt an, um zu sagen: ‚Hey! Das bin ich.’“
Sich als nichtbinär zu outen, fiel Em durch den Lockdown außerdem besonders leicht. „Ich glaube, für viele von uns hat der Lockdown viel Druck weggenommen, und ich denke, dass den meisten LGBTQ-Menschen klar ist, dass ein Coming-out ohnehin keine einmalige Sache ist. Wir outen uns immer wieder – jedes Mal zum Beispiel, wenn dich jemand fragt, ob du einen Freund hast, und du antwortest: ‚Nein, aber eine Freundin.‘ Ich glaube, mein Outing als nichtbinär war da leichter. Und für uns gibt es inzwischen auch so gute Repräsentation. Es ist mittlerweile viel leichter, Leute zu treffen, die so sind wie du. Ich bin auch mit einer Person zusammen, die mich echt toll unterstützt und sich riesig für mich gefreut hat. Das finde ich superwichtig.“
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Durch die Pandemie haben viele von uns ihre eigene Identität hinterfragt. Die ganze Zeit zum Nachdenken kann aber auch an den Nerven zehren. „Ich weiß schon fast mein ganzes Leben, dass ich bisexuell bin. Als dann der Lockdown kam, habe ich es auch endlich meinen Mitbewohner:innen erzählt“, sagt Sarah, die gerade 33 geworden ist. „Ich fühle mich jetzt viel besser – als wäre ein Gewicht von mir abgefallen, das ich unwissentlich mit mir rumgeschleppt habe. Vor dem Dating habe ich aber noch Angst. Alle anderen haben zehn Jahre mehr Erfahrung als ich! Ich bin ein bisschen paranoid, dass ich alles falsch machen werde.“ Sarah wartet auch noch ein bisschen damit, sich ihrer Familie zu outen. „Ich habe es noch nicht allen gesagt. Mit meinem Bruder rede ich morgen, weil ich es unbedingt persönlich machen wollte. Ich bin mir aber noch nicht ganz sicher, was genau ich sagen will.“
C.J. Smith meint, dass es vielen vor dem Coming-out so geht – egal, wie alt sie dabei sind. „Das Coming-out ist ein individueller Prozess“, erklärt er:sie. „Letzten Endes geht es dabei aber nur um ein Gespräch. Wenn du die Gelegenheit hast, kann es hilfreich sein, vorher mit einem Therapeuten bzw. einer Therapeutin oder jemandem, der dir sehr nah steht, darüber zu sprechen. Wir empfehlen außerdem, das Ganze Schritt für Schritt zu machen – also eine Person oder Gruppe nach der anderen, um den Druck zu reduzieren. Und wichtig ist, dir immer wieder bewusst zu machen, dass das Coming-out nicht bedeuten muss, dass du jedes kleine Detail preisgibst. Teile einfach nur das, womit du dich selbst wohl fühlst.“
Emilys Coming-out war schwierig, und doch sagt sie heute, sie würde es alles nochmal genauso machen. „Es war so ein komisches Jahr im Lockdown. Ich glaube, wir fühlen uns alle ein bisschen anders. Ich persönlich war aber noch nie so glücklich. Ich habe mir die Zeit genommen, um wirklich rauszufinden, wer ich bin – und fühle mich jetzt völlig anders. Und du bist nie zu alt, zu verheiratet oder zu unsicher, um du selbst zu sein.“
*Namen wurden von der Redaktion geändert

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