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Der Lockdown hat mich dem Islam näher gebracht denn je

Foto: Getty Images
Der Wunsch, eine „bessere Muslima“ zu sein, geht mir oft durch den Kopf. Ich weiß zwar, dass ich aktiv versuchen sollte, darauf hinzuarbeiten – rückblickend habe ich aber das Gefühl, in Sachen Religion nie wirkliche Fortschritte gemacht zu haben. Zum Beispiel, weil es mir immer schwer fiel, konsequent fünfmal pro Tag zu beten oder während des Ramadan rechtzeitig Feierabend zu machen, um abends mein Fasten zu brechen. 
Nach dem letzten Jahr ist das aber alles anders.
Als Vorbild-Muslima würde ich mich zwar immer noch nicht bezeichnen – und meine religiösen Ziele habe ich auch noch nicht ganz erreicht –, bin diesem Bild aber dadurch näher gekommen, dass ich in den letzten zwölf Monaten viel Zeit allein verbracht habe. Es ist nichts Neues, dass sich viele Leute in Krisenzeiten der Religion zuwenden (und das schlägt sich auch bei Google wieder, wo die Suchanfragen nach Gebeten im März 2020 so hoch waren wie nie zuvor), aber in meinem Fall – und dem vieler junger Muslim:innen – bot der Verlust der alltäglichen Ablenkungen während der Pandemie die Möglichkeit, eine tiefere Verbindung zum Islam aufzubauen. 
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Fast 70 Prozent aller Muslim:innen haben seit Beginn von Corona eine bessere Beziehung zu Gott, ergab eine noch nicht veröffentlichte Studie der Psychiatrieprofessorin Dr. Rania Awaad vom Stanford Muslim Mental Health and Islamic Psychology Lab. „COVID ist eigentlich etwas mikroskopisch Kleines, hat aber die ganze Welt zum Stillstand gezwungen. Etwas, das wir selbst nicht sehen können, hat völlig verändert, wie wir unser Leben gestalten – wie wir arbeiten, wie wir reisen, wie wir mit anderen umgehen“, erzählt sie Refinery29. „Wenn etwas so Einschneidendes passiert, suchen die Leute nach etwas, das größer ist als sie selbst, denke ich.“
Furqan, 19, sieht das auch so. „Ich verlasse mich heute definitiv mehr [auf meine Religion, den Islam]“, sagt die Studentin. „Irgendetwas am Alleinsein führt dich zu Gott. Wenn du deine Sorgen und Frustration nicht ausdrücken kannst, wendest du dich damit an eine höhere Kraft“, meint sie – und fügt hinzu, dass religiöse Praxis durch Podcasts oder Online-Lesungen viel einfacher geworden ist. 
Vor der Pandemie war genau das für viele aber gar nicht denkbar; der Alltag war einfach zu stressig. Dr. Awaad, die auch einen Hintergrund in Islamstudien hat, erklärt mir, wie tief die Verbindung zwischen Religion und geistiger Gesundheit im Islam verwurzelt ist. Dabei erwähnt sie den Propheten Mohammed, der viel Zeit damit verbrachte, seine Gefühle zu hinterfragen und durchdenken. Wie auch er besinnen sich Muslim:innen in spiritueller Abgeschiedenheit auf ihren Glauben, ihre Beziehung zu Allah und anderen Menschen, ihren Lebensweg und das Jenseits. „Das ist eine sehr nach innen gekehrte Praxis. In der modernen Welt, die vielbeschäftigt und dauernd online ist, findet man dafür kaum die Ruhe. Dabei solltest du dir im Islam eigentlich eine Auszeit von deinem Umfeld nehmen, um zu entschleunigen und nachzudenken.“ Die Pandemie hat nun vieles davon nachgeahmt und uns dazu gezwungen, unser Leben zu überdenken. In vielerlei Hinsicht war das genau die spirituelle Erfahrung, die sich viele Gläubige im religiösen Kontext wünschen.
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Das Homeoffice ist ein Privileg – und hilft meiner geistigen Gesundheit enorm, weil ich die Zeit und Möglichkeit habe, zu beten, wann immer ich das gerade brauche.

Das gilt vor allem während des Fastenmonats Ramadan, dieses Jahr vom 13. April bis zum 12. Mai, der vor COVID noch völlig anders aussah. Die 27-jährige Mrwa erklärt mir, wie schwierig es für sie war, ihre Religion in der westlichen Welt auszuüben, während sie regulär arbeiten musste – insbesondere in Bezug auf tägliche Gebete oder Fastenzeiten. Als dieser Arbeitsalltag allerdings durch Corona plötzlich ins Homeoffice verlagert wurde, fielen diese Probleme für sie auf einmal weg. Mrwa ist kein Einzelfall: Laut Dr. Awaads Recherchen hatten 73 Prozent aller Muslim:innen 2020 einen besseren Ramadan als im Vorjahr.
„Vor der Pandemie wäre es echt schwer gewesen, fünfmal am Tag zu beten. Natürlich gibt es viele, die es tun, aber ich hatte dafür einfach nicht die Kraft“, erzählt Mrwa. Sie will diesen Monat die Koran-Übersetzung lesen. „Momentan, wo ich von zu Hause aus arbeite, ist es viel leichter, mir ein paar Minuten zum Beten zu nehmen.“ Das geht mir auch so. Das Homeoffice ist ein Privileg – und hilft meiner geistigen Gesundheit enorm, weil ich die Zeit und Möglichkeit habe, zu beten, wann immer ich das gerade brauche.
Noch dazu bringt der Ramadan für viele Gläubige ein Gefühl der Normalität. Viele freuen sich auf den heiligen Monat, weil er den Geist, den Körper sowie die Seele reinigen soll. Indem wir zwischen Sonnenauf- und -untergang auf Essen und Trinken verzichten, ergeben wir uns Gott, üben Selbstdisziplin über unsere irdischen Verlangen und fühlen mit jenen, die bedürftiger sind als wir selbst. Dieses heilige Ritual fühlt sich umso wichtiger an, während die Welt eine globale Krise durchlebt, in der sich viele ein bisschen mehr Selbstreflexion wünschen. Und obwohl viele der gemeinschaftlichen Seiten des Fastenmonats auch dieses Jahr wegfallen – wie zum Beispiel das Fastenbrechen mit Freund:innen und Verwandten, oder Treffen zum gemeinsamen Beten –, fühlen wir uns einander durch diese gemeinsam erlebte Krise doch irgendwie nah
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Aber was passiert mit unserem neu oder wieder entfachten Glauben, wenn wir irgendwann zur Normalität zurückkehren?
Wer nach Corona wieder ins Büro muss, könnte zum Beispiel mal nachfragen, ob es eventuell möglich wäre, einen Gebetsraum einzurichten, in dem Muslim:innen, Anhänger:innen anderer Religionen oder Angestellte, die einfach in der Mittagspause ein bisschen meditieren wollen, die nötige Ruhe finden könnten. Außerdem kann es helfen, feste Gebetszeiten einzuplanen (und diese mit deinen Arbeitgeber:innen zu vereinbaren). Dr. Awaad betont: Dabei geht es darum, dir einen zeitlichen Freiraum zu nehmen, der dir eine spirituelle Pause und eine tiefere Verbindung zu Allah ermöglicht – ganz ohne die „Hilfe“ einer globalen Pandemie. „Unsere fünf täglichen Gebete sollen uns nämlich genau daran erinnern.“ Denn deine Spiritualität kannst du nur aufrechterhalten, wenn du dir wirklich die Zeit dazu nimmst. 
Wenn mir das vergangene Jahr eines gebracht hat, dann einen neuen Ausblick auf meine Prioritäten – und den will ich mir auch nach der Pandemie beibehalten. Denn ich stimme Mrwa zu, wenn sie sagt: „Das Leben läuft nicht immer so, wie du es dir wünschst. Ich glaube, genau durch diese Einsicht ist mir mein Privileg erst so richtig bewusst geworden. Ich habe gelernt, dass meine Religion mir in schwierigen Zeiten Geduld und Ruhe schenkt. Und in Zukunft, hoffe ich, wird sie das auch in friedlichen Zeiten tun.“

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