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Wieso du deine Streits immer erstmal im Kopf „übst“

Foto: Lula Hyers.
Vor ein paar Wochen plante die 26-jährige Cassie* einen Streit mit ihrem Freund. 
„Er hatte seit Wochen nicht mehr geputzt. Dem Frieden zuliebe hatte ich versucht, das zu ignorieren – inzwischen war es aber so schlimm geworden, dass ich es nicht mehr hinnehmen konnte“, erzählt sie.
Also ging Cassie im Kopf die Schritte durch: Sie würde abends darauf warten, dass er nach Hause kam. Dann würde sie ihn um ein Gespräch bitten und ihm sagen, dass sie unglücklich sei, weil er nicht seinen Teil zum Haushalt beigetragen habe. 
„Dann kontert er damit, dass er nur deswegen nichts mehr im Haushalt gemacht hat, weil er ja dauernd arbeitet“, erklärt sie. Und dann knallt sie die „Beweise“ auf den Tisch, sagt Cassie.
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„Danach präsentiere ich ihm die harten Fakten – wer wann am meisten arbeitet, wer mehr im Haushalt macht und wer unser gemeinsames Leben stärker finanziert.“
Dieser Streit fand niemals wirklich statt. Er spielte sich ausschließlich in Cassies Vorstellung ab; er war komplett imaginär – ein Testlauf für ein echtes Gespräch.
„Und als wir dann tatsächlich im echten Leben über das Putzen geredet haben, hat er sich bloß entschuldigt und mir versprochen, jeden Tag eine Stunde dafür einzuräumen. Das Ganze war superschnell vorbei“, erzählt Cassie. „Es war fast schon unbefriedigend, dass das Gespräch so schnell vorüber war, obwohl ich natürlich keine richtige Konfrontation mit ihm haben wollte. Ich hatte den Streit in meinem Kopf aber so aufgebauscht.“
Dieses Gefühl kennt nicht nur Cassie. Auf TikTok wird klar, dass ganz viele Leute schwierige Gespräche oder Streits erstmal im Kopf durchgehen, bevor es dazu tatsächlich kommt. Das Ganze ist inzwischen sogar ein echter TikTok-Trend geworden. 
In den Videos bewegen junge Frauen die Lippen zu Eminems „Rap God“ (zu der fast schon übermenschlich schnell gerappten Strophe), versehen mit Captions wie „Ich, während ich die Notizen zu Streits mit meinem Freund durchgehe“ oder „Ich, wie ich Streits mit meinem Freund übe“. 
Wie Cassie führt auch die 27-jährige Ellie regelmäßig imaginäre Streits, meist mit ihrem Freund, aber auch mit ihrem Vater, ihrer Chefin oder ihren Freund:innen.
„Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben für irgendein Verhalten oder irgendwelche Worte kritisiert, ohne den Streit vorher erstmal im Kopf durchgespielt zu haben. Ich hasse Konfrontationen und finde es einfach leichter, mich erstmal selbst anzuschreien. Aber natürlich nicht laut“, sagt sie. „Klar fühle ich mich dabei wie ein Psycho“, fügt Ellie lachend hinzu. „Warum zur Hölle liege ich stundenlang im Bett und denke darüber nach, wie ich mich mit jemandem streiten könnte, obwohl es zu diesem Streit vielleicht nie kommt?“
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Manchmal sorgt das dann sogar für Frust, wenn sich Ellie einen Streit ausmalt, diesen daraufhin auch „in echt“ führt – und er überhaupt nicht so abläuft, wie sie vermutet hatte. „Das macht mich total fertig, wenn sich die andere Person nicht ans ‚Drehbuch‘ hält! Ich bereite mich so krass auf potenzielle Konfrontationen vor, denke mir vier verschiedene Versionen davon aus, was er oder sie sagen könnte und wie ich darauf reagieren sollte. Manchmal werde ich dann sogar wütend darüber, was die imaginäre Person zu mir sagt – was natürlich überhaupt nicht fair ist. Ich bereite mich so sehr vor, dass es mich komplett aus der Bahn wirft, wenn mein Gegenüber beim echten Gespräch dann irgendwas Unerwartetes sagt.“
@fleeekxyyyy Me planning an argument in my head be like this @official_abdxl #fyp #relatable #couples #relatablecouple #argument ♬ Originalton - nadegemferi
Die Sexpädagogin Gigi Engle, die sich auf Gender-, Sexualitäts- und Beziehungsdiversität spezialisiert hat, erklärt sich unsere imaginären Streits mit unserem Bedürfnis, uns auf Konfrontationen oder Meinungsverschiedenheiten vorzubereiten.
„Trotzdem kannst du dabei ja kein Drehbuch für deine:n Partner:in schreiben“, fügt sie hinzu. „Du kannst nicht vorhersagen, was er oder sie bei einem Streit sagen könnte. Trotzdem machen wir uns selbst gern vor, wir könnten das. Genau deswegen entwickeln wir im Kopf diese Drehbücher, um quasi jedes Szenario einmal ‚durchzuspielen‘ und uns dafür bereit zu fühlen.“
Diese Angewohnheit ist sozusagen eine Methode zur persönlichen Krisenbewältigung: Du analysiert das Worst-Case-Szenario, um dich auf einen Notfall vorzubereiten. Dabei sind unsere Partner:innen natürlich genauso Menschen wie wir selbst und verhalten sich womöglich überraschend. Das ist nichts Schlechtes, sondern ein realer, unvermeidlicher Aspekt jeder zwischenmenschlichen Beziehung, den wir nicht zu kontrollieren versuchen sollten.
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Engle vermutet, dass sowohl Frauen als auch Männer solche imaginären Streits führen, Frauen aber eher „darauf sozialisiert sind, empathischer zu sein“. Das heißt, dass uns die Gefühle anderer Leute wichtig sind – oft sogar wichtiger als unsere eigenen.
„In heterosexuellen Beziehungen wird oft erwartet, dass die Frau für die emotionale Problemlösung zuständig ist“, meint sie. Das erklärt womöglich, wieso wir instinktiv versuchen, Kritik und Konfrontationen zu „üben“. Frauen sind so daran gewöhnt, emotionale Probleme zu lösen – und stehen dahingehend unter enormem Druck –, dass wir sichergehen wollen, dass alles „nach Plan“ läuft.
Weil von ihnen so viel emotionale Intelligenz und Erfahrung erwartet wird, neigen Frauen auch eher als Männer dazu, sich mit ihren Beziehungsproblemen erst einmal Freund:innen anzuvertrauen, anstatt direkt mit ihren Partner:innen darüber zu sprechen. Dann wird gemeinsam an ein „Schlachtplan“ ausgearbeitet, anstatt sich hitzköpfig in einen spontanen Streit zu stürzen.
@azianagranday

Planning our future arguments bae 😫

♬ original sound - azianagranday
Einige dieser Schlachtpläne, dieser imaginären Streits, schaffen es dann aber nie ins reale Leben. Das lässt vermuten, dass diese fiktiven Gespräche gar nicht immer das Ziel haben, eine Konfrontation zu üben – sondern können sie von vornherein verhindern.
Die 24-jährige Hannah erzählt uns, dass sie in ihrem Kopf mit ihrem Verlobten streitet, damit sie es „in echt nie tun muss“. „Unsere Beziehung fing ziemlich kompliziert an. Er ging mir fremd, und ich rächte mich mit einem eigen Seitensprung. Seitdem haben wir viel an uns gearbeitet und führen jetzt eine sehr gute Beziehung. Manchmal – meistens während meiner Periode – werde ich aber aus dem Nichts immer noch wütend deswegen“, erklärt sie.
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Hannah glaubt nicht, sie hätte das Recht, diese Gefühle nach so vielen Jahren erneut anzusprechen. „Wir haben uns beieinander entschuldigt und uns darauf geeinigt, es alles hinter uns zu lassen. Trotzdem schreie ich ihn in Gedanken immer noch manchmal deswegen an. Ich weiß, dass das nicht gut ist. In diesem Fake-Streit sage ich ihm erneut, wie ich mich damals gefühlt habe, und beleidige ihn. Er winselt dann um Gnade.“ Im echten Leben erwähnt Hannah diese Gefühle gegenüber ihrem Verlobten aber nie. 
Engle erklärt das so: „Manche Frauen erstellen diese Drehbücher für Streits in ihrem Kopf, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, weil uns beigebracht wird, unsere Gefühle seien unsere Schuld.“ Oft stempeln wir unsere Gefühle selbst als „albern“ oder „melodramatisch“ ab. Dann wird es schwer, sie noch anzusprechen. In diesen Fällen ist es nachvollziehbar, warum die Frauen die Streits lieber direkt überspringen – und stattdessen mit sich selbst diskutieren.
In diesem Fall sind diese imaginären Streits ein Akt der Selbstsabotage. Du befeuerst damit negative Gefühle, anstatt ein konstruktives Gespräch mit der Person zu führen, die sie betreffen.
Dir Streits auszumalen – vor allem solche, aus denen du „siegreich“ hervorgehst –, kann auch ein Versuch sein, innerhalb einer Beziehung an Macht zu gewinnen. Gute Beziehungen fußen aber nicht auf Macht, sondern setzen auf viel mehr: auf Teamwork, auf Kommunikation, auf Vertrauen und Liebe.
Wenn du das Gefühl hast, selbst in einer Endlosschleife aus Fake-Streits festzuhängen, frage dich, was innerhalb deiner Beziehung dafür sorgt, dass du dich ständig auf einen „Kampf“ einstellen möchtest. Versuch dann, darüber mit deinem Partner oder deiner Partnerin zu sprechen. Engle betont: „Uns wird eingetrichtert, wir sollten nie zu viel verlangen. Es ist aber nicht zu viel verlangt, Bedürfnisse zu haben.“ Und wenn du diese Bedürfnisse nie kommunizierst, kann dein Gegenüber schließlich nie erfahren, was du eigentlich brauchst.
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*Name wurde von der Redaktion geändert.
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