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„Babyfalle“: Gibt es wirklich Frauen, die Sperma „klauen“?

„Ich glaube, sie sah das als Möglichkeit, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen“, erzählt Charlotte*, 33. Sie spricht von einer Frau, die nach zwei Jahren Beziehung schwanger wurde. Es war eine natürliche Empfängnis in einer heterosexuellen Beziehung und wirkte, zumindest nach außen hin, völlig normal.
Die Frau, von der Charlotte redet, war die Partnerin ihres Bruders, der zu der Zeit häufig auf Dienstreise war. „Er war schon seit einer ganzen Zeit nicht mehr glücklich [mit ihr] gewesen“, sagt Charlotte. Oberflächlich freute er sich total darüber, die Schwangerschaft zu verkünden, aber „ganz so einfach war das nicht“, erzählt sie.
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Laut Charlottes Bruder stimmte nämlich irgendwas nicht. Ihm war schon vorher aufgefallen, dass die Pillenpackung seiner Freundin „größtenteils voll“ blieb, war aber nie auf die Idee gekommen, sie darauf anzusprechen – obwohl sie zu dem Zeitpunkt noch nicht geplant hatten, eine Familie zu gründen. Er vermutet, dass die Schwangerschaft nicht ganz versehentlich war, konnte aber, so Charlotte, „nichts beweisen“.
In vielerlei Hinsicht haben wir diese Story so oder so ähnlich schon x-mal gehört. Im englischsprachigen Raum gibt es dafür sogar mehrere Begriffe: „baby trapping“ (z. Dt. „Babyfalle“) oder „spermjacking“ („Sperma-Diebstahl“) zum Beispiel. Und letzten Monat machte Drake mit scharfem Sperma (kein Witz) Schlagzeilen: Ein Instagram-Model hatte angeblich versucht, sich mit seinem benutzten Kondom zu schwängern, nachdem die beiden Sex gehabt hatten – nur hatte der Rapper kurz zuvor Chilisauce ins Kondom gekippt, um die Spermien abzutöten (und ja, das tat ihr ordentlich weh). Und 2011 setzte die Daily-Mail-Kolumnistin Liz Jones in Brand, als sie gestand, schon mehrfach versucht zu haben, „Sperma zu klauen“ – unter anderem mit dem Benutztes-Kondom-Trick. Und noch lange vor Liz Jones war da die Bibel.

Meine Tante hat mir mal von einer Frau aus meiner Heimatstadt erzählt, die ihre Pille abgesetzt hat, als sie rausfand, dass ihr Freund mit einer anderen schrieb

Anonym
Die Bibel erwähnt den „Sperma-Diebstahl“ sogar dreimal, wenn auch mit anderen Worten: Darin ist von Frauen die Rede, die Männer verführen, um an deren Samen zu kommen. Das wird als Moralverbrechen dargestellt. Interessanterweise geht es in allen drei biblischen Fällen um Vorfahr:innen von König David, und in zweien um Inzest.
Für mich als Journalistin ist es spannend, nach einer wochenlangen Recherche zur „Babyfalle“ herauszufinden, dass diese Story in uralten biblischen Erzählungen verwurzelt ist. Dabei haben viele Leute, mit denen ich darüber spreche, ähnliche Geschichten parat wie die von Charlotte: Sie alle scheinen Personen zu kennen, deren Freundin mal ein Loch in ein Kondom geschnitten hat, deren Cousine zweiten Grades sich heimlich die Spirale rausnehmen ließ oder deren Bekannte ihren Partner austrickste und ihn dann um Unterhaltszahlungen anbettelte. „Meine Tante hat mir mal von einer Frau aus meiner Heimatstadt erzählt, die ihre Pille abgesetzt hat, als sie rausfand, dass ihr Freund mit einer anderen schrieb“, berichtet mir jemand. Aber niemand – nicht mal die Mitarbeiter:innen einer Kinderwunschklinik oder die Anwält:innen, mit denen ich über das Thema spreche – scheint wirklich Erfahrungen aus erster Hand zu haben. Sind das also alles… Mythen?
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Wenn du ein bisschen Zeit in den richtigen Subreddits verbringst, klingt das überhaupt nicht nach Mythos. Unter den Aktivist:innen für Männerrechte (MRA) scheint dieser „Spermaklau“ ziemlich häufig vorzukommen – so häufig sogar, dass letztes Jahr eine Petition gestartet wurde, um den Akt offiziell zum Verbrechen erklären zu lassen. Die Petitionär:innen bestanden darauf, das Ganze sollte als ernsthaftes Sexualverbrechen gewertet werden, vergleichbar mit dem sogenannten Stealthing (wobei ein Mann beim Sex ohne gegenseitiges Einverständnis das Kondom abstreift). Die Petition wurde abgewiesen, weil diese Form von fehlendem Einverständnis keine Regierungs-, sondern Justizsache sei. Dennoch wirft die Existenz der Petition ein paar Fragen auf: Sollte der Spermadiebstahl gesetzlich geregelt sein, und wenn ja, wie? Was ist die Ideologie dahinter? Und wie verbreitet ist dieses Phänomen überhaupt?
„Selbst wenn du direkte Beweise dafür hättest, dass jemand gezielt eine andere Person derart hintergangen hat, ist es immer noch kein Sexualverbrechen“, erklärt die Juraprofessorin Clare McGlynn von der Durham University. „In Bezug auf die sexuelle Aktivität und die Schäden, die hier willentlich zugefügt werden, lässt sich [der Diebstahl] vermutlich immer noch nicht als solches Verbrechen klassifizieren.“
Obwohl es moralisch verwerflich ist, gilt der Spermadiebstahl in keinem Land dieser Welt als Kriminaldelikt. In den einzigen Fälle, die weltweit gerichtlich gemeldet wurden, ging es meist um Männer, die Unterhaltszahlungsforderungen anfochten – und selbst diese Fälle gibt es selten. Die Frauen, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, sind sich alle darin einig, dass eine solche Täuschung eine furchtbare Art wäre, ein Kind zur Welt zu bringen – und sind noch dazu wenig davon überrascht, dass sich die Männer in diesen Fällen nur für die (gescheiterte) Verhütung zu interessieren schienen, weil es dann plötzlich um Geld und Verantwortung ging.
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„‚Aber sie hat doch gesagt, sie würde die Pille nehmen!‘ ist so eine Ausrede“, meint eine meiner Freundinnen, die 37-jährige Sophie*. „Wenn Männer nicht die Verantwortung dafür übernehmen wollen, dass eine Frau schwanger wird, sollten sie sich mehr für die Verhütung einsetzen. Wie viele Streits ich schon mit erwachsenen Männern darüber hatte, dass sie kein Kondom benutzen wollten, kann ich gar nicht mehr zählen. Als Single erlaubte ich mir manchmal einen Scherz mit den Typen, die ich datete, wenn sie sich weigerten, ein Kondom zu tragen, ohne danach wenigstens nachzufragen, ob ich denn auch anders verhütete. Ich meinte dann manchmal nach dem Sex: ‚Naja, wir schauen mal, was nächsten Monat passiert.‘ Dann gerieten sie direkt in Panik, weil sie ganz selbstverständlich davon ausgegangen waren, dass ich mich schon für sie um die Verhütung gekümmert hätte. Ich erinnerte sie daran, dass sie sich nur kurz zuvor überhaupt nicht dafür interessiert hatten. – Der Frau im Nachhinein die Schuld zuzuschieben, ist so ein alter Hut. Wenn diese öffentliche Debatte [rund um Spermadiebstahl] jetzt aber dafür sorgt, dass sich die Männer einer umkehrbaren Vasektomie unterziehen, freue ich mich.“
Eine andere Freundin, die besonders unter dem gesellschaftlichen Druck leidet, als Frau in den 30ern Kinder bekommen zu müssen, geht noch einen Schritt weiter. „Ich habe schon mal drüber nachgedacht“, gibt sie zu. „Ich bin 36 und Single, und ein Freund, mit dem ich schlief, weigerte sich, ein Kondom zu tragen, ohne nach anderen Verhütungsmitteln zu fragen. Mir schoss kurz durch den Kopf: Was, wenn ich ihm einfach nicht sage, dass ich nicht verhüte? Ich könnte ein Kind bekommen, ich bin finanziell gut gesichert. Und wessen Schuld wäre das, mal ehrlich? Er kam ja nicht mal auf die Idee, nachzufragen. Dabei war er 41.“
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„Auf einer ganz grundlegenden Ebene unterscheidet sich die Verantwortung für die Verhütung immer noch enorm zwischen Frauen und Männern“, meint Elizabeth Williamson, Leiterin des Spermalabors am University College London Hospital. „Dasselbe gilt für die Kommunikation zur Verhütung. Hier spielen auch spannende gesellschaftliche Faktoren eine große Rolle – zum Beispiel kommen oft Männer in mein Labor, die ihr Sperma einfrieren lassen, bevor sie sich einer Vasektomie unterziehen, obwohl sie für sich selbst und mit ihren Partner:innen eigentlich beschlossen hatten, keine Kinder (mehr) zu bekommen.“
Hat das vielleicht mit männlichen Gender-Stereotypen und der Fetischisierung der männlichen Potenz zu tun? „Ja, womöglich“, meint Williamson. „Vielleicht geht es ihnen dabei mehr um das Symbolische.“

Ein Kind wird deine Finanzen ein Leben lang belasten. Eine positive Belastung – aber eben eine lebenslängliche. Sowas macht man nicht, um Geld zu verdienen.

Prof. Clare McGlynn
Diese Vorstellung schwebt tatsächlich über der gesamten Diskussion: dass Sperma irgendwie „heilig“ sei. In Verbindung mit einem tief verwurzelten Stereotyp, der Frauen als hinterlistig darstellt, werden die Ursprünge der Spermadiebstahl-Mythen immer klarer. Keine Frage: Es gibt Frauen, die auch auf Täuschung zurückgreifen würden, um schwanger zu werden – und es zweifelt auch niemand daran, wie eindeutig verwerflich das ist. Dennoch besteht das Risiko, dass die Legende der „spermastehlenden Frau“ eine weitere Form dessen werden könnte, Frauen als nicht vertrauenswürdig darzustellen, warnt Professor McGlynn.
„Da ließen sich jetzt einige Vergleiche zu Fällen häuslicher Gewalt ziehen [bei denen die Opfer von den Täter:innen angeklagt werden]“, erklärt sie. „Das wird häufig als Waffe gegen Frauen genutzt: Sie werden gegenüber der Polizei als schuldig dargestellt, um sie zu diskreditieren.“ Ähnlich scheint es abzulaufen, wenn Männer behaupten, von Frauen in die „Babyfalle“ gelockt zu werden, weil diese Frauen sich so angeblich Unterhaltszahlungen sichern wollen. Alles Quatsch, meint Professor McGlynn. „Ein Kind wird deine Finanzen ein Leben lang belasten“, sagt sie. „Eine positive Belastung – aber eben eine lebenslängliche. Sowas macht man nicht, um Geld zu verdienen.“
Letztlich können wir uns nicht ganz sicher sein, wie oft so etwas wirklich passiert. Werden Männer wirklich ausgetrickst – oder Frauen zu Unrecht beschuldigt? Obwohl die Antworten dazu noch in trübem Gewässer herumdümpeln, sollte die ganze Debatte dazu hoffentlich dennoch ein Weckruf für viele Männer sein: Wenn du Sex mit einer Frau hast, dann übernimm verdammt nochmal die gerechte Verantwortung.
*Namen wurden von der Redaktion geändert.

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