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Warum Sextherapien gerade auf dem Vormarsch sind

Foto: Karen Sofia Colon
Vor dem Ausbruch der Pandemie waren Addison und Steven immer sehr beschäftigt – wahrscheinlich sogar zu beschäftigt. Ihre Kalender waren voller Treffen mit Freund:innen, Familienmitgliedern und beruflichen Terminen. Als aber die Pandemie zu wüten begann, standen ihre Leben plötzlich auf dem Kopf und all diese Ablenkungen waren auf einmal weg. Als sie in ihrer gemeinsamen Wohnung festsaßen und nur noch einander hatten, waren sie gezwungen, sich mit einem Problem auseinanderzusetzen, dem sie bereits seit einigen Jahren aus dem Weg gegangen waren: ihrem schwindenden Liebesleben.
Sie hatten nur noch selten Sex. Das war schon eine Weile lang so gewesen. Da sie davor aber immer damit beschäftigt waren, vom Fitnessstudio zur Arbeit und dann zur Happy Hour zu rennen und am Ende eines jeden Tages erschöpft ins Bett zu fallen, konnten sie die Schuld für ihre Flaute im Bett auf einen Mangel an Zeit und Energie schieben. Jetzt aber hatten sie von beidem mehr als genug zur Verfügung und dennoch hatten sie keinen Geschlechtsverkehr. Schnell wurde ihnen klar, dass sie etwas ändern mussten. Deshalb beschloss das Pärchen Ende März, mit einer Online-Sextherapie zu beginnen.
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Addison und Steven, die uns baten, ihre echten Namen aus beruflichen Gründen nicht zu verwenden, sagen, dass die Sextherapie ihre Ehe für immer verändert hat. Die Therapiesitzungen, die sie einmal pro Woche hatten, halfen beiden dabei, sich wohler damit zu fühlen, Sex in die Wege zu leiten und ihre Wünsche und Bedürfnisse zu äußern. Das brachte ihr Liebesleben wieder in Schwung. Addison und Steven sind immer noch in Therapie – wenn auch nicht mehr so oft wie zu Beginn – und haben auch nicht vor, damit aufzuhören, sobald unsere Leben wieder ihren normalen Lauf nehmen.
Addison und Steven sind aber nicht die Einzigen, die inmitten von COVID-19 eine Sextherapie ausprobiert haben. Für viele Paare und Einzelpersonen dienten die vergangenen 14 Monate als Beschleuniger, um endlich die Probleme anzugehen, die sie zuvor hatten, sagt Malika O'Neill, lizenzierte Berufsberaterin, Sextherapeutin und Gründerin von The Pleasure Collective. „Ich habe festgestellt, dass Pärchen im Durchschnitt erst sechs oder sieben Jahre nach Beginn eines Problems eine Therapie in Anspruch nehmen. Oft stellt sie eine Art letzte Option dar“, sagt sie. „Die Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns haben das aber geändert. Jetzt suchen viel mehr Leute professionelle Hilfe, um ihre Schwierigkeiten im Schlafzimmer zu lösen. Wenn zwei Menschen in einer Wohnung festsitzen, sind sie wirklich gezwungen, sich mit ihren Bedürfnisse und Wünschen auseinanderzusetzen.“ Der American Psychological Association zufolge sei seit der Pandemie die Nachfrage nach Therapie im Allgemeinen gestiegen. Die Expert:innen, mit denen wir gesprochen haben, sagen, dass es im Falle von Sextherapien nicht anders sei.
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Nicht nur Pärchen zeigen mehr und mehr Interesse an Sextherapien: O'Neill sagt, dass sie jetzt auch mehr Anfragen von Einzelpersonen hat, die mit ihrer Hilfe das Thema Selbstbefriedigung, das sehr schambehaftet sein kann, angehen wollen. Durch ihre Unterstützung wollen sie sich von ihren Schamgefühlen befreien und herausfinden, welche Möglichkeiten Masturbation bieten kann, sagt O'Neill. „Manche Frauen wissen nicht einmal, wie ihre Klitoris aussieht. Deshalb habe ich viele Klitoris-Modelle in meinem Büro.“
Viele Leute wissen nicht, was eine Sextherapie wirklich auszeichnet und stellen sich etwas vor, das der einen Folge von Sex and the City ähnelt, in der die vier eine tantrische Sex-Demo miterleben (die Analogie mit der Orangenpresse werde ich nie vergessen). Wie Ehe- und Familientherapeut:innen sind Sextherapeut:innen lizenzierte Fachleute; ihr Spezialgebiet unterscheidet sich bloß, sagt Dr. Holly Richmond, eine somatische Psychologin und zertifizierte Sextherapeutin. Selbst wenn Sitzungen von Angesicht zu Angesicht stattfinden, sind Berührungen normalerweise nicht erlaubt. Es gibt aber auch Ausnahmen: nicht lizenzierte somatische Therapeut:innen oder Bodyworker zum Beispiel.
Diese Expert:innen können dabei helfen, eine Vielzahl von Problemen wie Schmerzen oder körperliche oder medizinische Schwierigkeiten beim Sex zu bewältigen. Sie können auch Hilfestellung bei der Verarbeitung eines sexuellen Traumas leisten. „Ein Großteil meiner Klient:innen sind Überlebende“, sagt Dr. Richmond.
Eine Sextherapie kann auch hilfreich sein, wenn du mit deinem Liebesleben unzufrieden bist, besondere sexuellen Vorlieben oder BDSM erkunden oder deine sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität erforschen möchtest, sagt Sextherapeut Ty David Lerman. Du kannst eine Sextherapie aber auch dann in Anspruch nehmen, wenn du mit dem Gedanken spielst, eine offene, einvernehmlich nicht-monogame oder polyamoröse Beziehung auszuprobieren. Sie eignet sich auch dafür, mit Sex verbundene Scham zu überwinden. „Etwa 90 Prozent meiner Arbeit besteht darin, Zweifel, Scham- und Schuldgefühle, die Menschen in Bezug auf Geschlechtsverkehr und Berührungen empfinden, aufzuarbeiten“, sagt O'Neill.
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„Patient:innen kommen oft mit einem Wunsch zu mir, den sie für eine Störung halten. Was sie brauchen, ist jemand, der ihnen sagt, dass es sich dabei um keine Fehlfunktion handelt, sondern alles in Ordnung mit ihnen ist – fast so, als bräuchten sie die Erlaubnis, diese Seite von sich zu erforschen“, fügt Lerman hinzu.
Während die Pandemie Addison und Stevens altes Problem verschlimmerte, schuf sie im Falle von anderen Pärchen neue. Erik und Emma Alda zum Beispiel arbeiteten von zu Hause aus und zogen gleichzeitig einen Teenie und drei Kinder unter fünf Jahren groß. Sie waren die ganze Zeit zusammen und fingen irgendwann an, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Das Ganze ging so weit, dass sie manchmal nachts im Bett lagen und sich gegenseitig anschnauzten, anstatt miteinander zu schlafen. Sie sagen, dass das vor COVID-19 nie der Fall gewesen sei – nicht auf diese Weise und nicht annähernd so oft. „Wir haben es zwar geschafft, während dieser Ehekrise einige Male Sex zu haben, aber das Feuer zwischen uns war weg. Der Geschlechtsverkehr fühlte sich für beide von uns langweilig an. Was das betrifft, waren wir uns einig“, sagt Alda. Schließlich fanden sie über gemeinsame Freund:innen eine Sextherapeutin. „Da wir beide lateinamerikanischer Abstammung sind, fällt es uns relativ leicht, mit Partner:innen über unser Liebesleben zu sprechen. Nichtsdestotrotz fanden wir es wichtig, eine Expertenmeinung einzuholen, um festzustellen, was das wirkliche Problem [war]“, sagt sie. „Mein Mann war zunächst gegen die Idee, eine Therapie zu machen. Er hatte nämlich die Befürchtung, dass sie das Ende unserer Beziehung bedeuten könnte. Ich konnte ihn aber umstimmen, indem wir uns gegenseitig versicherten, dass wir sie machen wollten, um unsere Beziehung zu retten.“
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In der Therapie lernte das Paar, effektiver miteinander zu kommunizieren und einander besser zu verstehen. Eines Tages bat ihre Therapeutin sie, ihre Videofunktion auszuschalten und sich vollständig auszuziehen. „Sie begann, uns eine Reihe von Fragen zu stellen. Sie wollte wissen, wie wir uns fühlten und was wir sahen, wenn wir uns in einer nicht sexuellen Situation nahe waren“, sagt Alda. „Das war ein Wendepunkt für uns. Diese Erfahrung ermöglichte es, uns gegenseitig wirklich zu sehen.“
Laut Dr. Richmond werden in einer guten Sextherapie sowohl emotionale als auch Beziehungsprobleme, die sexueller Natur sind, thematisiert. „Einige Therapeut:innen denken, dass guter Sex die natürliche Folge von emotionaler Verbundenheit ist“, sagt Dr. Richmond. Das ist aber eine falsche Annahme, sagt sie. „Wir Sextherapeut:innen wissen, dass sich Probleme nicht von selbst in Luft auflösen. Sobald aber das Liebesleben wieder in Schwung kommt, wirkt sich das fast immer positiv auf die Beziehung und emotionale Komponenten im Allgemeinen aus.“
Dr. Richmond stellte aber auch fest, dass sich ihre Sitzungen im vergangenen Jahr durch mehr emotionale Arbeit als sonst auszeichneten. Vor allem die Auseinandersetzung mit Gefühlen von Angst und Instabilität war ein großes Thema, was wahrscheinlich eine Folge der durch die Pandemie verursachten Umwälzungen ist. Ein besonderer Streitpunkt waren Corona-Regeln: Die eine Hälfte wollte sich mit Leuten treffen und das Haus verlassen, während die andere sich damit nicht wohlfühlte. Lerman fügt hinzu, dass auch um ein heikles Thema in polyamoren Beziehungen war, da es sich darauf auswirkte, wann und wie ein Paar neue Partner:innen ins Spiel bringen konnte. Er sagt, es sei die Aufgabe von Sextherapeut:innen, Patient:innen dabei zu helfen, darüber zu sprechen und folgende Fragen zu klären: Wenn sie jemand Neues kennenlernen würden, wie lange würden sie Masken tragen? Würden sie sich alle testen lassen und wie oft?
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Wegen der Pandemie konnten Sextherapeut:innen ihren Klient:innen nicht mehr die gewohnten „Hausaufgaben“ geben, sagt Dr. Richmond. Sie konnten zum Beispiel keinen romantischen Wochenend-Trip vorschlagen oder Patient:innen, die BDSM ausprobieren wollten, dazu raten, ein Dungeon zu besuchen. Therapeut:innen mussten also kreativ werden: Sie empfahlen zum Beispiel Massagen zu Hause, um einen Spa-Tag nachzuahmen, etc. Die neuen Umstände machten diesen Aspekt unserer Arbeit zwar schwer, aber nicht unmöglich, sagt O'Neill.
Es ist also keine Überraschung, dass die meisten Sextherapeut:innen, mit denen ich sprach, sagen, dass sie froh darüber sind, dass sich die Lage für geimpfte Menschen langsam verbessert. So können ihre Patient:innen ihre Sexualität auf eine sichere Art und Weise erkunden. „So viele Menschen konnten ihren sexuellen Drang in den letzten 14 Monaten nicht so ausleben, wie sie es wollten“, sagt Lerman. „Für viele wird es eine enorme Erleichterung sein, wieder ein gesundes Liebesleben führen zu können.“
Angesichts des öffentlich angekündigten „Sommers voller Sex“ erwartet Dr. Richmond, dass sich Sextherapien auch weiterhin großer Beliebtheit erfreuen werden. Sie glaubt, dass sich die Nachfrage sogar noch weiter erhöhen könnte. Das hat damit zu tun, dass diesen Sommer Untreue zum großen Thema werden könnte, sobald die Lockdowns aufgehoben werden und wir wieder unter Leute kommen dürfen (obwohl sie natürlich hofft, dass Partner:innen einander treu bleiben werden). Betrug ist schließlich ein weiterer häufiger Grund, warum manche Patient:innen eine solche Therapie machen.
O'Neill hingegen sagt, dass sie einen kleinen Einbruch erwartet, sobald unsere Leben wieder ihren normalen Lauf nehmen werden. Sie glaubt, dass Sex eine weniger wichtige Rolle spielen wird, da wir wieder mit anderen Sachen beschäftigt sein werden. „Trotz allem bin ich mir sicher, dass die Nachfrage nach Sextherapien bestehen bleiben wird“, sagt sie. „Ich hoffe, dass Patient:innen die Emotionsarbeit beenden werden, die sie (pandemiebedingt) begonnen haben.“

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