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Wie meine plötzliche Be_hinderung meine Freundschaften veränderte

Foto: FRANCESCO SAMBATI/EYEEM.
Innerhalb eines Augenblicks änderte sich mein ganzes Leben. Wenn ich daran zurückdenke, spielt sich die Erinnerung in Schwarzweiß vor meinem inneren Auge ab: Erste Frühlingsblumen erblühen hoffnungsvoll auf dem Mittelstreifen. Der Himmel über mir ist voller Wolken. Der Stau vor mir auf der Straße bewegt sich nur schleichend voran. Ich weiß heute nicht mehr, was mir durch den Kopf ging, während ich darauf wartete, dass sich der Verkehr wieder in Bewegung setzte. Ich kann dir nicht sagen, ob mir kalt oder heiß war, ob ich glücklich oder traurig war. Aber obwohl die Erinnerung größtenteils verschwommen ist, sind einige Details bis heute kristallklar geblieben – vor allem das wachsende Entsetzen, das mir durch den Körper schoss, als mir eine schnelle Bewegung in meinem Rückspiegel auffiel. Ein Auto hinter mir raste um die Kurve und kam mir schnell näher. Zu schnell.
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Genauso gut erinnere ich mich daran, wie sich mir der Magen umdrehte, als mir bewusst wurde, dass die Fahrerin des Wagens auf ihrem Beifahrersitz rumkramte, anstatt nach vorne zu schauen – anstatt zu bemerken, dass der Verkehr auf dieser sonst freien Straße ins Stocken geraten war. Und ich weiß noch, dass ich in dem Moment, in dem ich voller Gewalt in das Auto vor mir gerammt wurde, instinktiv begriff: Mein ganzes Leben würde sich in dieser Sekunde schlagartig ändern. Meine anfällige Gesundheit war schon immer ein wankendes Kartenhaus gewesen, und wenn mein Skelett stärker wäre, hätte ich das Ganze vielleicht unversehrt überstanden. Stattdessen konnte ich danach nicht mal mehr laufen.
Über die nächsten Wochen hinweg versank ich in einer Schmerzmittel-Trance, die die furchtbaren Schmerzen bei jeder Bewegung dennoch nicht ganz stillen konnte. Ich war auf Krücken und einen Rollstuhl angewiesen, und meine Freund:innen scharten sich um mich, wie es gute Freund:innen eben so tun. Meine Wäsche wurde zum Trocken aufgehängt, meine Teppiche gesaugt, während ich versuchte, ein Mindestmaß an Normalität zu erhalten. Weil ich drei Kinder zu versorgen hatte, konnte ich es mir nicht erlauben, zusammenzubrechen – zumindest nicht äußerlich. Innerlich war ich zu Staub zerfallen. Es fiel mir von Tag zu Tag schwerer, die wachsende Panik zu unterdrücken. Mir kreiste immer wieder derselbe fieberhafte Gedanke durch den Kopf: Was, wenn ich nie wieder richtig laufen kann?
Meine Gefühle konnte ich trotzdem nicht richtig in Worte fassen. Ich hatte Angst, die Sorgen laut auszusprechen und ihnen so Form und Gewicht zu verleihen. Stattdessen wurde mein Gesicht zur Maske, und jedes Mal, wenn ich Besuch bekam, schnallte ich mir ein Lächeln aufs Gesicht. Meine Freund:innen versammelten sich bei mir, so wie früher – mit Kaffee und Keksen, Gossip, Erzählungen von Wochenendplänen. Ich hörte zu, nickte, lächelte. Innerlich war ich am Schreien. Es kam mir alles so belanglos vor; meine Lebensfreude hatte ich in meinem Autowrack zurückgelassen.
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Eines Tages planten meine Freund:innen einen Partyabend. Komm, das wird dir gut tun! Ich brach in kalten Schweiß aus, als mich die Angst vor dem Ausgehen überkam – davor, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Als mich das Meer aus Gesichtern um mich herum erwartungsvoll anstarrte, sagte ich trotzdem Ja, obwohl ich mich noch nicht dazu bereit fühlte. Jemand schlug unsere Lieblingsbar vor, und ich musste anmerken, dass ich bezweifelte, die steile Treppe zum Eingang bewältigen zu können. Eine andere Bar wurde als Alternative angeboten; die hatte aber keine Toilette im Erdgeschoss. Bei einer dritten gab es keine Parkplätze in der Nähe. Handys wurden zu Rate gezogen, Anrufe getätigt. Endlich fanden wir eine Bar, die passte. Meine Freund:innen verabschiedeten sich voller Enthusiasmus, und ich blieb allein zurück, umgeben von dreckigen Tassen und meiner eigenen Angst.
Der Abend war eine Katastrophe. In dem Pub war es viel zu voll. Es gab nicht genug Tische, also stellten wir uns an die Bar; ich lehnte mich schmerzhaft auf meine Krücken, konnte keinen Drink halten und kämpfte mit den Tränen. Ich hatte mich noch nie so unsichtbar, so allein gefühlt wie in diesem lebhaften Raum voller Menschen, umringt von meinen Freund:innen. Ich gab vor, Kopfschmerzen zu haben, und ging.
Danach war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Meine Freund:innen zogen sich von mir zurück. Uns allen wurde klar, dass meine Genesung – wie auch immer die denn aussehen würde – kein kurzer Weg sein würde. Die Besuche wurden weniger, irgendwann kamen gar keine mehr. Damals dachte ich, das Ende unserer Freundschaft sei ihre Schuld. Ich hielt mich für zu umständlich, zu anders. Ich war überzeugt, dass sich die Gruppe würde ändern müssen, wenn ich weiterhin dazugehören sollte, weil ich eben nicht mehr so daran teilhaben konnte wie früher. Sie änderte sich jedoch nicht, und ich folterte mich selbst damit, indem ich mich Tag für Tag durch Facebook scrollte und mir die Posts und Fotos ansah, in denen alle außer mir verlinkt waren. Ich wurde nie wieder zu einem anderen Abend eingeladen.
Heute glaube ich, dass ich genauso die Schuld daran trage. Meine Freund:innen konnten mich nicht verstehen – weil ich ihnen nie die Chance gegeben hatte. Jedes Mal, wenn mich jemand gefragt hatte, wie es mir ging, war meine Standard-Antwort („Mir geht’s gut!“) eine Lüge. Das müssen sie gespürt haben – wenn es mir schwer fiel, von einem Stuhl aufzustehen oder mein eigenes Kind hochzuheben, zum Beispiel. Vielleicht hatten sie das Gefühl, dass ich ihnen nicht genug vertraute, um mich ihnen gegenüber zu öffnen. Dabei weiß ich heute: Ich wollte mich ihnen öffnen, aber die Scham zwang mich dazu, alle von mir zu stoßen. Scham darüber, dass sich mein Körper alt, müde und nicht wie die ihren anfühlte. Scham darüber, dass ich mit meinen Krücken und meinem Rollstuhl anders aussah. Scham darüber, dass ich an diesem Punkt in meinem Leben mehr von ihnen brauchte, als ich hätte zurückgeben können. Vielleicht wussten mich meine Freund:innen nicht so zu schätzen, weil ich mich selbst nicht schätzen konnte.
Inzwischen habe ich mich akzeptiert und liebe mich wieder selbst. Meine Gesundheit ist besser geworden, obwohl ich vermutlich nie wieder schmerzfrei oder komplett mobil sein werde. Ich habe außerdem gelernt, dass ich immer noch Freund:innen habe – die besten, die nicht abgehauen waren, als ich versucht hatte, sie in die Flucht zu treiben. Denen es egal ist, dass ich nicht aufstehen und tanzen und laufen und shoppen kann – weil ich reden kann. Zuhören. Lachen. Ich bin mehr als mein Körper, mehr als meine Be_hinderung. Und all denjenigen, die mal in einer ähnlichen Situation stecken, möchte ich raten: Bitte schäm dich nicht, und bitte fühl dich nicht minderwertig. Geh ehrlich mit deinen neuen Einschränkungen um, und stoße die Menschen nicht von dir, ohne ihnen zumindest die Chance zu geben, sich gemeinsam mit dir an die neue Lage anzupassen. Du hast so viel mehr zu bieten, als du glaubst.

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