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Wie ich als Tätowiererin zu meinen asiatischen Wurzeln zurückfand

Georgina Leung, 31, ist eine Tattoo-Künstlerin aus London, die auf ihrem Instagram-Account @chop_stick_n_poke die asiatische Kultur und Bevölkerung im Ausland feiert. Sie erzählt uns ihre Geschichte.

Meine Eltern lernten sich in Nordirland kennen, nachdem sie beide in den 1980ern aus Hongkong dorthin emigriert waren. Mitten im irischen Konflikt und trotz der Sprachbarriere öffneten sie in einem Vorort von Belfast ein chinesisches Lieferrestaurant. Sie arbeiteten sieben Tage die Woche, um Geld zu ihren Familien nach Hongkong schicken und mir und meiner Schwester das bestmögliche Leben bieten zu können. An meine Schule gingen nur zwei andere chinesische Kinder, und Rassismus gehörte für mich zum Alltag – aber zu Hause hatte ich meinen sicheren Unterschlupf. Meine Eltern sprachen Kantonesisch mit mir, ich schaute viel kantonesisches Fernsehen und aß jede Menge selbstgekochtes chinesisches Essen.
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Mit sechs Jahren fing ich an, im Restaurant meiner Eltern zu arbeiten; die Arbeitsmoral wurde mir also schon sehr früh eingetrichtert. Meine Schwester war clever genug, dem Traum aller asiatischen Eltern zu folgen und Ärztin zu werden. Ich war aber schon immer kreativ und fing mit vier Jahren an zu zeichnen – alles von Manga über Anime bis hin zu Graffiti und surrealistischer Kunst. Als Jugendliche liebte ich Tattoos. Mir gefiel der körperliche Selbstausdruck, den sie ermöglichten. Im Gegensatz zu Klamotten und Frisuren – die andere sehen können – ist ein Tattoo nur deins. Niemand sonst muss etwas davon wissen. Mit 17 ließ ich mir dann ein paar Tattoos stechen. Die waren aber spontane Ideen, und der ganze Prozess lief ab wie eine Transaktion, ohne Gefühle oder Intimität.

Ich finde, Tattoos sind eine starke Möglichkeit, negative oder traumatische Ereignisse in einem ganz neuen Licht zu betrachten und als wunderschöne Körperkunst zu verarbeiten.

Ich erwähnte die Idee, zur Tätowiererin zu werden, zum ersten Mal mit 18, und das Gespräch lief absolut furchtbar, mit zahlreichen Tränen und zerschmetterten Tellern. Meine Eltern hatten (verständlicherweise) die Angst, dass das keine sinnvolle Karriere sein könnte, weil es eine Weile dauern würde, bis ich mich soweit etabliert hatte, um damit genug Geld zu verdienen. Natürlich hatten viele ihrer Sorgen auch mit dem veralteten Stigma rund um Tattoos in Asien zu tun (dort wirst du durch Tattoos vielerorts als kriminell betrachtet). Ich verdrängte meinen Karrierewunsch also erstmal.
Stattdessen einigte ich mich mit meinen Eltern auf einen Kompromiss: Sie ließen mich Juwelierskunst und Silberschmiede studieren. Nach dem Abschluss arbeitete ich im Schmuckdesign, sowohl im Luxussegment als auch für kommerziellen Schmuck. Das war etwas Greifbares, das meine Eltern verstehen und nachvollziehen konnten. Im Laufe der nächsten acht Jahre machte ich in diesem Job aber eine Reihe traumatischer rassistischer Erfahrungen – von Mikroaggressionen bis hin zu Beleidigungen, kaum verschleierten Witzen und sogar offenem Rassismus, oft von meinen eigenen Vorgesetzten. Aus dem Grund kam ich karrieretechnisch einfach nicht voran. Es war ein endloser Kampf darum, überhaupt gehört zu werden, geschweige denn, gerecht bezahlt oder betitelt zu werden. Und direkt nach einem besonders verstörenden Erlebnis kam dann Corona.
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Viele meiner jungen asiatischen Follower finden Trost und Zuflucht in meiner Arbeit, weil ihnen in den sozialen Medien ansonsten nur Rassismus, Trauma und Gewalt entgegenschwappte.

Ich wurde daraufhin drei Monate lang freigestellt. Alles, was ich spürte, war Erleichterung, weil mir diese Pause den mentalen Freiraum gab, alles Erlebte zu verarbeiten. Ich fing wieder an zu zeichnen, um meine Liebe für die kreative Arbeit neu zu entfachen, und es fühlte sich therapeutisch an. Die Kunst wurde für mich zur Quelle des Friedens und der Selbstliebe. Ich spielte mit ein paar Illustrationen herum, empfand aber nicht viel dafür. Erst, als ich diese zwei Tiger zeichnete – inspiriert von chinesischer ornamentaler Kunst –, machte es Klick. Ich stürzte mich in die Recherche von Farbpaletten und chinesischer Kunst, Traditionen und Techniken. Aus meinen Illustrationen heraus entstand dann schließlich mein Instagram-Account, auf dem ich mich inzwischen allem Möglichen widme – von der Geschichte der Reishi-Pilze, über die eleganten Details chinesischer Knotenkunst bis hin zu Martial-Arts-Kämpfen, die all die Wut symbolisieren, die ich durch Mobbing empfand. Ich fing schließlich an, mich selbst von Hand zu tätowieren. Als Nächstes tätowierte ich Freund:innen aus Hongkong, und kurz danach fragte mich das Londoner Tattoostudio Rose of Mercy auf Instagram, ob ich nicht als Gast-Artist vorbeikommen wolle. Nach drei Tagen dort boten sie mir eine Festanstellung an – und seitdem tätowiere ich für Rose of Mercy.
Mit meinem Instagram-Account wollte ich die Schönheit meiner Kultur und meines Hintergrunds zelebrieren, ganz ohne Vorurteile – vor allem, weil ich selbst so angegriffen worden war. Dabei spielte auch der antiasiatische Rassismus während der Pandemie eine große Rolle. Indem ich meine Kultur feierte, fanden viele meiner jungen asiatischen Follower Trost und Zuflucht in meiner Arbeit, weil ihnen in den sozialen Medien ansonsten nur Rassismus, Trauma und Gewalt entgegenschwappte. Durch meinen Instagram-Account habe ich eine riesige asiatische Kunst-Community kennengelernt. Ich habe das große Glück, dadurch quasi eine ganze Familie hinzugewonnen zu haben.
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Keine Frage: Rassismus wird uns so schnell nicht verlassen, wenn wir mal ehrlich sind. Aber ich möchte ihn ausbalancieren, wenn ich kann – wie ein CO2-Abdruck.

Trotzdem fiel es mir nicht leicht, meinen Eltern von meiner neuen Karriere zu erzählen. Ich fühlte mich schuldig und beschämt. Heute wissen sie aber Bescheid – und sind sogar stolz, glaube ich. Manchmal fragt mich mein Dad per Nachricht oder am Telefon, wie viele Tattoos ich heute gestochen habe, und meine Mum macht Fotos meiner Tattoos und schickt sie meinen Verwandten in Hongkong.
In der Tattoo-Szene ist Diversity immer noch selten. Ich glaube, wir sehen hier langsam eine Veränderung, aber die Community ist immer noch sehr weiß und männlich. Deswegen führe ich auf Instagram eine Datenbank, in der ich versuche, möglichst viele weibliche (und sich als weiblich identifizierende) asiatische Artists festzuhalten. Ich würde sagen, rund 80 Prozent meiner Kund:innen sind ganz oder teilweise asiatischer Abstammung, aber viele von ihnen sind auch weiße Kinder von Auswanderer:innen, die in Singapur oder Hongkong aufgewachsen sind. Ich finde es wichtig, ihnen allen eine kulturelle Verbindung mit ihren Artists zu ermöglichen.
Meine Beziehung zu meinen Kund:innen ist etwas ganz Besonderes. Wir sind alle so daran gewöhnt, unsere Handys, Bücher oder etwas anderes anzustarren, dass es vielen von ihnen komisch vorkommt, zwei Stunden lang ganz still zu liegen und einfach nur zu denken. Es ist befreiend. Ich finde, Tattoos sind eine starke Möglichkeit, negative oder traumatische Ereignisse in einem ganz neuen Licht zu betrachten und als wunderschöne Körperkunst zu verarbeiten. Das ist dann eine Erinnerung daran, dass etwas passiert ist, das dich zu dem Menschen gemacht hast, der du jetzt bist – dass du aber die aktive Entscheidung getroffen hast, dem Ganzen eine neue Bedeutung zu verleihen. Meine Kund:innen erzählen mir von toxischen Beziehungen und jeder Form von Traumata – aus der Kindheit, am Arbeitsplatz, in Form von Rassismus. Ich möchte ihnen weiterhin einen sicheren Raum bieten, in dem sie sich öffnen und verletzlich zeigen können.
Ich habe schon Nachrichten von Asiat:innen aus aller Welt bekommen – Australien, Europa, Kuba, Hawaii –, die mir schreiben: „Tausend Dank dafür, dass du meine Erfahrungen teilst und bestätigst.“ Das ist mir das Wichtigste an meinem Job. Ich will meine Kultur weiterhin zelebrieren und die Leute ein kleines bisschen glücklicher machen. Keine Frage: Rassismus wird uns so schnell nicht verlassen, wenn wir mal ehrlich sind. Aber ich möchte ihn ausbalancieren, wenn ich kann – wie ein CO2-Abdruck. Ich will den Leuten etwas zum Feiern geben, etwas, worauf sie stolz sein können. Ein Tattoo kann wie ein kleines Ehrenabzeichen dafür sein, wer du bist und woher du kommst. 

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