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Sex Re-Education

Asexualität ist so viel mehr als „keine Lust auf Sex“

Brianna hatte früher immer das Gefühl, dafür überkompensieren zu müssen, dass sie keine sexuelle Lust empfand. Bis in ihre frühen 20er tat die Supermarktleiterin in Gesprächen mit Freundinnen so, als fände sie dieselben Leute heiß wie sie und hätte Lust auf Sex mit ihnen. 2012 hörte sie dann zum ersten Mal von Asexualität – dem Überbegriff für sexuelle Orientierungen, bei denen nur wenig oder gar keine sexuelle Hingezogenheit empfunden wird. Nachdem sie in einem Forum namens Gaia Online um Hilfe dabei gebeten hatte, ihre Gefühle zu deuten, fing für sie ein neuer Lebensabschnitt an.
„Ich dachte mir plötzlich: ‚Oh mein Gott, die sind hier alle genau wie ich!‘ Danach verbrachte ich eine ganze Woche mit der Recherche. Es war das Beste, was ich je über mich gelernt hatte: dass mit mir nichts ‚falsch‘ war“, erzählt Brianna, heute 31 Jahre alt. „Es hat mich unheimlich glücklich gemacht, zu wissen, dass das normal ist und es andere Leute gibt, die meine Gefühle nachvollziehen können.“
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In Angela Chens Buch Ace: What Asexuality Reveals About Desire, Society, and the Meaning of Sex von 2020 vergleicht die Autorin Julie Sondra Decker, die von Chen für das Buch interviewt wurde, die Definition von Asexualität mit der einer Person, die keinen Spaß an Basteln hat. Ihr Beispiel: Jemand, der oder die gerne bastelt, würde sich vielleicht als „Bastler:in“ bezeichnet – aber jemand, der oder die diese Leidenschaft nicht teilt, käme nie auf die Idee, sich als „Nicht-Bastler:in“ zu bezeichnen. „Wir sind vollständige Menschen, denen einfach dieser ‚Antrieb‘ fehlt“, erklärt Decker gegenüber Chen im Interview. „Das ist genauso verständlich wie jemand, der oder die ‚Basteln‘ nicht als persönlichen Antrieb empfindet.“ In ihrem Beispiel ist es den „Nicht-Bastler:innen“ nicht wichtig, sich als solche zu bezeichnen – und trotzdem werden asexuelle Menschen in Bezug auf etwas definiert, was sie gar nicht empfinden: sexuelle Hingezogenheit.
Aber wie ließe sich Asexualität – und der damit verbundene Prozess der Selbstentdeckung – denn als etwas zelebrieren, was es ist, und nicht als etwas, was es nicht ist?
Asexuelle Freude, die mit der Erkenntnis einhergehen kann, dass man ace ist (die Kurzform für diverse asexuelle Identitäten), variiert von Person zu Person. Marshall Blount zum Beispiel, ein 30-jähriger ace Aktivist, lebt seine Freude durch das Backen von Kuchen und Torten aus, die er danach postet. (Kuchen ist ein weit verbreitetes Symbol der Online-Ace-Community – weil Dessert ihnen zufolge besser ist als Sex.)
Javay Fraser (25) hingegen freut sich am meisten darüber, andere Aces bei öffentlichen Events in der Community willkommen zu heißen: „Ich liebe es, jemanden zu ermutigen, der oder die die eigene Asexualität noch nicht ganz verstanden hat. So nach dem Motto: ‚Hey, komm her, schließ dich uns an. Das hier ist deine Familie, dein Zuhause. Mach’s dir bequem.‘“
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Für viele ist es eine augenöffnende Erfahrung, diese Community und Ace-Mentalität auch in andere Lebensbereiche zu übertragen – wie zum Beispiel im Zusammenhang mit Gender, romantischen Beziehungen und Freundschaften.
„Deine Asexualität zu entdecken, kann unheimlich befreiend sein, weil dir das zeigt, dass du nicht ‚kaputt‘ bist“, erklärt der Assistenzprofessor Canton Winer von der Northern Illinois University, der zu Asexualität forscht. „Du erkennst, dass es auch andere Leute gibt, die Ähnliches erleben wie du. Und das kannst du als etwas Positives empfinden – anstatt als etwas, das dir fehlt.“
Diese Art von Mindset steht auch im Zentrum des Buchs Sounds Fake but Okay: An Asexual and Aromantic Perspective on Love, Relationships, Sex, and Pretty Much Anything Else von 2023. Die Autorinnen Sarah Costello und Kayla Kaszyca, beide auf dem Ace-Spektrum, haben auch einen gleichnamigen Podcast. Costello erzählt im Buch, dass ihr Coming-out als aromantisch und asexuell nach dem ersten Studienjahr ihren Blick auf ihre Wünsche und Bedürfnisse verändert habe.
„Ich konnte mich dadurch von dem ‚Du tust jetzt X und Y, weil es von dir erwartet wird‘-Denken lösen“, sagt die 25-jährige Costello. „Von diesem ‚Du heiratest. Du bekommst Kinder. Du kaufst ein Haus‘. Ich kam zu der Erkenntnis: ‚Okay, das kann ich alles machen, wenn ich will. Aber ich muss nicht. Ich habe auch andere Optionen.‘“
Viele sind der Meinung, die Akzeptanz der eigenen asexuellen Identität könne außerdem zu stärkeren Beziehungen führen. Jessica Hille, die stellvertretende Leiterin für Bildung am Kinsey Institute, das sich mit Ace-Spektrum-Identitäten befasst, erklärt: „Meine Freund:innen gehören zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben, und wir kennen und unterstützen einander auf sehr intime Weise – nur eben ohne Sex.“
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In Hilles Worten erkennt sich auch die 25-jährige Journalistin Mariana da Costa wieder. Sie spürte asexuelle Freude, als sie erkannte, dass sie sich komplett fühlt – genau so, wie sie ist. „Mir wurde klar, dass ich eben so bin. Das kann ich nicht ändern. Aber dann dachte ich mir: ‚Oh, warte – vielleicht will ich das aber auch gar nicht ändern!‘“, erzählt sie. „Ich brauche keinen Partner, keine Partnerin. Ich muss mich nicht zu jemandem hingezogen fühlen, um erfüllt zu sein.“ Sich selbst auf diese Weise besser kennenzulernen, hat ihr auch neue Freundschaften eingebracht. Ein Mann, gegenüber dem sie sich bei einer Party outete (nachdem er kurz mit ihr geflirtet hatte), ist heute ihr bester Freund.
Costello geht es ähnlich. Sie ist aromantisch und weder an romantischen noch sexuellen Kontakten interessiert und priorisiert Freundschaften und familiäre Bindungen in ihrem Leben. Daraus hat nicht nur sie, sondern auch ihr Umfeld wichtige Erkenntnisse gewonnen, sagt sie. Winer glaubt, dieser Fokus könne uns tatsächlich allen guttun.
„Daraus können viel widerstandsfähigere Communitys entstehen. Anstatt dich in so vielen verschiedenen Bereichen nur auf eine einzelne Person zu verlassen – die, zu der du eine sexuelle oder romantische Beziehung hast –, hast du dadurch ein ganzes Netzwerk aus Leuten, die dir auf ganz diverse Art helfen“, meint Winer. „Das ist, wie ich finde, eine viel stärkere Bindung als die einer monogamen, traditionellen Beziehung oder Ehe.“
Manchmal entsteht asexuelle Freude auch einfach daraus, mehr freie Zeit zu haben. Der 30-jährige Maximilian Ximenez erzählt, es habe sein Leben verändert, sich von der Erwartungshaltung zu lösen, ausgehen und Sex haben zu müssen. „Ich habe mehr Zeit“, sagt er. „Direkt, als ich mich als asexuell zu identifizieren anfing, war mein Kalender plötzlich viel leerer. Ace-Freude bedeutet für mich, bis 10 Uhr schlafen zu können.“
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Auch Brianna erzählt, sie habe heute mehr Zeit und Energie, um sich auf Hobbys konzentrieren zu können, seit ihr klar wurde, dass sie keine Beziehung braucht, um glücklich zu sein. Manchmal liest sie sich trotzdem Posts auf Subreddits wie r/relationships durch, die meist mit der Frage enden, ob der:die Autor:in die eigene Beziehung beenden sollte.
„Wenn ich sowas lese, denke ich mir einfach: ‚Ah, Gott sei Dank muss ich mir über sowas nicht den Kopf zerbrechen‘“, sagt sie. „Immer, wenn ich jemanden Neues aus der Community kennenlerne, teilen wir diesen kleinen, netten Moment à la: ‚Ich kann gar nicht fassen, dass andere Leute den ganzen Tag lang an Sex denken‘, oder: ‚Ich kann nicht glauben, dass sich andere so darauf verkrampfen, eine Beziehung zu finden – und währenddessen genießen wir einfach das Leben.‘“
Ace-Freude bedeutet so viele verschiedene Dinge: die Neudefinition von Beziehungen, Ausschlafen, Kuchen. Aber in ihrem Kern steht eine Community aus Menschen, die sich selbst als erfüllt zelebrieren – ganz genau so, wie sie sind.
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