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Wie mir meine Tattoos beim Coming-Out geholfen haben

FOTO: ERIN YAMAGATA.
Im spärlich beleuchteten Badezimmer, dessen Wände mir immer näher zu kommen schienen, starrte ich die dunkelvioletten Linien an, die die komplette Innenseite meines Unterarms bedeckten.
„Es ist ja gar nicht so groß“, flüsterte ich und glaubte mir selbst kein Wort, während ich mir die Schablone meines ersten Tattoos genauer ansah. Was eigentlich nur eine rund fünf Zentimeter kleine Kundgebung meiner Queerness hatte sein sollen, schien stattdessen aus vollem Hals zu schreien: „Ich bin bisexuell!!“
Dieses Tattoo war einer der größten Schritte, die ich auf meiner queeren Reise bisher zurückgelegt habe. Ich war damals noch „ganz frisch“ bi und fühlte mich bereit, der Welt zu verkünden, dass ich auch auf Frauen stand. Genauso, wie ich jahrelang meine Sexualität hinterfragt hatte, verbrachte ich jetzt Wochen damit, mir das perfekte Design, die perfekte Stelle, den perfekten Style für mein erstes Tattoo zu überlegen.
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Schließlich entschied ich mich für eine Schlange, die sich um einen Orchideenstrauß herumwindet. Das Ganze sollte einen Neuanfang repräsentierten. Meine Wahl fiel auf die Schlange, weil sie so sinnlich und mutig ist; Orchideen hingegen symbolisieren sapphische, also lesbische, Liebe. Ich hatte eine gute Freundin damit beauftragt, ein paar Entwürfe zu zeichnen – und voilà! Nach nur 30 Minuten im Studio bedeckte die süße kleine Schlange meinen Unterarm.
Damals war ich noch in einer Langzeitbeziehung mit einem Mann. Bisexuelle Menschen wie ich fühlen sich oft von beiden Communitys, mit denen sie sich identifizieren, isoliert und nicht ernst genommen. Ich hatte das Glück, einen Partner an meiner Seite zu haben, dem ich vertraute und der mich unterstützte. Er war der Erste, dem gegenüber ich mich outete, und ist bis heute einer meiner stärksten Verbündeten. Mit seinem Support und meinem neuen sapphischen Tattoo traute ich mich, zum ersten Mal zaghaft an die Tür der queeren Community zu klopfen.
Während mein erstes Tattoo meine Hingezogenheit zu Frauen symbolisierte, stand mein zweites Tattoo – ein Freundschaftstattoo mit meiner besten Freundin – für die Familie, die man sich selbst aussucht. Und damit ist natürlich auch die queere Community gemeint.
Meine beste Freundin ist für mich wie meine queere Schwester. Sie hat es geschafft, mich aus dem Schneckenhaus zu locken, in das ich mich unter dem kombinierten Druck aus Religion, zwanghafter Heterosexualität und Unsicherheit verkrochen hatte. Ihre Liebe und ihr offenes Ausleben ihrer Queerness halfen mir dabei, zu der queeren Frau zu werden, die ich heute bin. Wir beschlossen, uns Schmetterlinge tätowieren zu lassen, um unsere Verwandlung von Freundinnen zu Schwestern zu symbolisieren.
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Für mein drittes Tattoo entschied ich mich, queere Kunst auf meinem Körper zu verewigen. Im Laufe meiner Tattoo-Erfahrung habe ich festgestellt, dass es genauso wichtig ist wie das Motiv, wer dich da eigentlich tätowiert. Zwischen dir und deinem:deiner Künstler:in muss eine Vertrauensbasis bestehen, weil es sich so intim anfühlt, jemanden deinen Körper für immer verändern zu lassen. Also ließ ich mir von einer queeren Künstlerin ein Stick-and-Poke-Motiv einer Vase mit zwei Zweigen stechen. Wir unterhielten uns während der gesamten Session – über unsere Liebe für unsere Haustiere bis hin zu unseren Erlebnissen als queere Frauen. Diesmal ging es mir dabei viel mehr um die Erfahrung des Tätowierens selbst als um das finale Motiv.
Für mein viertes Tattoo besuchte ich den Lieblingskünstler meiner Freundin (ja, meiner festen Freundin!!!). Weil ich mich von unserer öffentlichen queeren Liebe ermutigt fühlte, ließ ich mir mein bisher eindrucksvollstes Motiv stechen – eine kniende Frau aus Stein mit einem kunstvollen Kerzenständer als Kopf. 
Das Tattoo versinnbildlichte für mich ganz viele komplexe Gefühle – Trauer um die Person, die ich mal war, und Freude über den Menschen, der ich jetzt bin. Ich fühlte mich selbstbewusst, stark, und vor allem bereit. Die Freiheit und das Glücksgefühl, die ich daraus gewann, öffentlich eine Frau zu lieben, ließen sich kaum in Worte fassen. Diese Frau hat Seiten von mir zum Leben erweckt, von denen ich nicht mal wusste, dass es sie gibt.
Auf meinem Körper ist die Geschichte davon verewigt, wie mächtig es sich anfühlen kann, queer zu sein. Meine Schlange spricht von Neuanfängen und Stärke, mein Schmetterling symbolisiert Freundschaft und auserwählte Familie, die blumigen Zweige entstammen einem Treffen mit jemandem, die meine Identität versteht, und die Steinfrau erleuchtet meine sexuelle Identität. Während ich selbst gelernt habe, mich als queere Frau auszudrücken, erzählen meine Tattoos ganz ohne Worte, wer ich bin.
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Als queere Person repräsentiert mein persönlicher Stil viele Dinge: Trotz, Neuerfindung und Durchhaltevermögen. Jetzt gerade bin allein ans andere Ende des Landes gezogen und habe mir zu diesem Anlass ein Buntglasfenster stechen lassen. Meine Tattoos stehen dafür, wie sehr ich mich verändert habe und auch noch weiter verändere, nachdem ich mich meiner Queerness geöffnet und zu mir selbst gefunden habe. Ich habe keine Ahnung, wohin mich meine queere Reise als Nächstes führt – bin aber unheimlich dankbar dafür, jede bisherige Version von mir selbst in meiner Haut mit mir zu tragen, als Erinnerung daran, wer ich war und wer ich sein werde.
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