Vor exakt 463 Jahren stieß ein kahl werdender, bärtiger, fast 90-jähriger venezianischer Adliger einen der wohl kontroversesten TikTok-Trends los. Es war das Jahr 1558, mitten in der Renaissance also, als der Schriftsteller Luigi Cornaro mehrere Abhandlungen darüber veröffentlichte, dass eine strikte Diät ein langes Leben ermögliche. „Zuerst Brot; dann Brotsuppe oder eine leichte Brühe mit einem Ei“, schrieb er in Vom massvollen Leben oder die Kunst, gesund alt zu werden. „Von Fleisch esse ich Kalb, Reh und Hammel; ich esse Geflügel aller Art.“ Spulen wir bis 2021 vor: Heute hat der TikTok-Hashtag #WhatIEatInADay über sieben Milliarden Views.
Von Renaissance-Texten über Promi-Interviews bis hin zu YouTube-Vlogs und TikTok-Clips: Warum sind wir so besessen davon, was andere Leute essen? Während wir die toxische Diät-Kultur der frühen 2000er inzwischen (und endlich) in einem kritischen Licht sehen, scheinen wir ähnlich schädliche Ideale auf Instagram, TikTok und Co. selbst aufrechtzuerhalten. Psycholog:innen und Ernährungswissenschaftler:innen sprechen sich inzwischen spezifisch gegen die „What I eat in a day“-Videos aus, in denen oft kleine Essensportionen und Spiegelaufnahmen von dünnen Körpern zu sehen sind.
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Aber ganz so einseitig ist der Trend eben auch wieder nicht. In den letzten Monaten sind immer mehr TikToks viral gegangen, in denen die besonders radikalen „What I eat“-Videos parodiert werden. Andere wiederum nutzen den Tag, um der Welt zu erzählen, wie sie eine Essstörung überwunden haben. Und während das Thumbnail des meistgeklickten „What I eat in a day“-Videos auf YouTube ein Victoria’s-Secret-Model im Bikini zeigt, sind auf dem Vorschaubild des beliebtesten TikTok-Pendants ein riesiger, leuchtender Cocktail, Raclette, Chips, Pasta und Pizza zu sehen.
@stickaforkinme On being healthy, part 2. #savory #whatieatinaday #whatiatetoday #FoodReview #HungerGames
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Doch was sagt uns der „What I eat in a day“-Trend über unsere Einstellung zu unserer Ernährung und unseren Körpern? Warum scheint sich diese Art von Content – mal in diesem, mal in jenem Format – nie so richtig zu verabschieden? Und woher kommt dieser Trend überhaupt?
Als die 47-jährige Journalistin Emma 1999 einen Job beim britischen Daily Express anfing, hätte sie damals nie gedacht, dass sie sich mal mit einem berühmten Autoren über seinen Kühlschrank streiten würde. Emma, die immer noch in den Medien arbeitet, war damals für eine kleine Kolumne auf der Frontseite des Samstagsmagazins verantwortlich, in der sie bekannten Menschen Fragen über Essen stellte und deren Kühlschrankinhalte präsentierte.
„Es war eine süße, unterhaltsame Kolumne über die Haushalts- und Kochgewohnheiten der Leute, nicht über Ernährung an sich“, erklärt Emma. Jede Woche besuchte sie gemeinsam mit einem:einer Fotograf:in berühmte Leute zu Hause und notierte sich alles, was sie in den dortigen Kühlschränken fand. „Die meisten Inhalte waren ziemlich alltäglich – viele halbvolle Ketchupflaschen, alte Würzsaucen, ein halb gegessener Auflauf vom Vortag…“, erzählt sie. Dabei kam es selten zu Streit – außer einmal, als sich ein „sehr berühmter Autor in seinen Siebzigern“ weigerte, Fotos von seinem Kühlschrank machen zu lassen. „Am Ende fuhren wir in meine Wohnung, und machten ein Bild von meinem ollen Kühlschrank, in den wir vorher alles gestellt hatten, was ich mir aus dem Kühlschrank des Autors hatte merken können.“
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Im folgenden Jahrzehnt hüpfte diese Art von Content von Zeitschrift zu Zeitschrift, und das Thema Diät wurde immer lauter. Von 2004 bis 2014 arbeitete die 54-jährige Redakteurin Ally Oliver an der „Fridge Raider“-Sparte (z. Dt.: „Kühlschrank-Plünderer“) der britischen Closer. Auch hier wurde in die Kühlschränke von Promis geschaut – nur dass die Closer keine echten Fotos veröffentlichte, sondern die Inhalte im eigenen Studio nachstellte.
„Das Problem war, dass sich die meisten Leute dabei von ihrer besten Seite präsentieren wollten“, erzählt Ally. „Es war lustig, wie viele von ihnen Kohl, Mandelmilch und Karotten im Kühlschrank hatten.“ In der Closer äußerte sich dazu auch jedes Mal ein:e Ernährungswissenschaftler:in. Während Ally zwar findet, dass sie ihre Leser:innen so auf unterhaltsame Art über gesunde Ernährung aufklären konnte, betont sie doch, dass es der Closer dabei häufig um Diäten ging. „Zu der Zeit war unsere Zielgruppe besessen von Promi-Diäten.“
Einige Prominente waren aber doch sehr ehrlich, was ihre Essgewohnheiten anging. „Wir haben es immer geliebt, wenn jemand erzählte, sein:ihr Kühlschrank sei voller Champagner oder Pizzaresten. Das war eine nette Abwechslung“, meint die Journalistin Maddy Biddulph, die „Fridge Raider“ von 2011 bis 2014 mitgestaltete. Weil niemand von der Closer direkt vor Ort in die Kühlschränke schaute, mussten sie den Worten der befragten Promis glauben. „Da spielte vermutlich auch mit, dass die Leute ihre beste Seite zeigen und die Ernährungswissenschaftler:innen beeindrucken wollten.“
Laut Ally und Maddy war – und ist – Fridge Raider ein extrem beliebtes Format, das es bis heute nicht nur in der Closer, sondern in ähnlicher Form auch im Guardian, in der Grazia, Peopleund Harper’s Bazaargibt. Die Beliebtheit erklären sich die beiden mit unserem Bedürfnis, „hinter die Kulissen“ des Promi-Lebens zu gucken und deren Lifestyle bzw. Aussehen nachzuahmen. „In den frühen 2000ern explodierte das Reality-TV, und dadurch entstand diese ‚Promis sind Menschen wie du und ich‘-Bewegung“, meint Ally. „Die Grenze zwischen Stars und ihrem Publikum verschwamm. Wenn diese Leute eine Diät machen und dann drei Monate später plötzlich fünf Kleidergrößen weniger haben konnten, schien das auch für den 08/15-Menschen machbar.“
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Etwa zur selben Zeit, als Maddy bei der Closer arbeitete, nahm online ein neuer Trend an Fahrt auf. Anfang 2011 fingen die ersten veganen Vlogger damit an, ihre tägliche Ernährung zu dokumentieren, und schon 2012 war „Was esst ihr?“ zu einer beliebten Frage in Ernährungsforen geworden. In den folgenden Jahren erstellten Blogger und Vlogger in den Veganismus-, Bodybuilding- und Fitness-Communitys immer mehr Content mit dem Titel „What I eat in a day“, und 2015 erreichte das Format schließlich auch Mainstream-Lifestyle-YouTuber. Wenn schon Reality-TV-Stars „Menschen wie du und ich“ waren, waren es die YouTuber noch viel mehr und brachten uns die Essgewohnheiten anderer Leute näher denn je.
Aber wie die Promis in edlen Zeitschriften-Artikeln waren auch die ersten „What I eat“-YouTuber nicht immer komplett ehrlich darüber, was sie wirklich an einem Tag essen – vermutlich, weil der Trend seine Wurzeln in der Wellness-Community hatte. Die 22-jährige Talia Maizels aus England erstellt seit fast vier Jahren YouTube-Videos. Als sie vor zwei, drei Jahren mit „What I eat in a day“-Videos anfing, verschwieg sie dabei manchmal die ungesunden Snacks zwischendurch. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mir dieses gesunde Image aufgebaut hatte, das ich nicht kaputtmachen wollte“, erklärt sie heute.
Gegen Ende 2019 stieß Maizels dann auf einen YouTube-Trend, bei dem YouTuber auf ihre eigenen alten „What I eat“-Videos reagierten, und beschloss, da mitzumachen. Als sie sich dazu einen ihrer alten Vlogs ansah, war sie schockiert und stellte das Video sofort auf „Privat“, damit niemand ihrer Follower es mehr sehen konnte. „Ich benutzte ernsthaft Salatblätter statt Wraps… Ich trug selbst zu der Diät-Kultur bei und hielt mich an Low-Carb“, sagt sie heute. „Damals war mir das nicht bewusst, aber ich hatte definitiv eine schlechte Einstellung zum Essen und Gewicht. Bei sowas merkst du erst nach ein paar Jahren: ‚Oh, wow, das war echt nicht gut.‘“
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Obwohl Talia auch heute noch „What I eat in a day“-Videos macht, benutzt sie für das Vorschaubild heute keine Fotos mehr von ihrem Körper, und hat sich auch offen negativ zu ihrem alten Content geäußert. „Ich will für niemanden ein schlechter Einfluss sein“, meint sie. „In den sozialen Medien ist es leicht, sich was einreden zu lassen und sich danach echt schlecht zu fühlen.“
Auch Essstörungsexpert:innen warnen inzwischen vor den potentiellen Schäden dieser Videos. Im Gespräch mit Healthline betonte die Psychologin Alison Chase vom amerikanischen Eating Recovery Center: „Diese Videos können unrealistische Erwartungen in Zuschauer:innen schüren und gestörte Verhaltensweisen auslösen.“
Während manche Millennials zwar glauben, wir hätten die einzig wahre schlimme Diät-Ära durchlebt – als „Heroin-Chic“ angesagt war und Promis regelmäßig von der Presse für ihr Gewicht bloßgestellt wurden –, hat eine Studie des University College London 2020 ergeben, dass sich die Generation Z deutlich mehr den Kopf über ihr Gewicht zerbricht als vorherige Generationen. Die Langzeitstudie mit 22.503 Teilnehmer:innen ergab, dass über 42 Prozent der Teenager 2015 versucht hatten, abzunehmen – verglichen mit nur 28,6 Prozent im Jahr 2005. „Für das Gesundheitswesen sollte es höchste Priorität haben, die Verbreitung von restriktivem Essverhalten und Gewichtsunzufriedenheit einzudämmen“, schlussfolgerten die Forscher:innen.
Oberflächlich betrachtet ergibt das durchaus Sinn. Während sich die Teenies 2005 damals vielleicht mit den digital nachbearbeiteten Promis verglichen, die sie in Zeitschriften sahen, können sich Jugendliche heute mit ganz normalen Leuten vergleichen, die sich selbst mindestens genauso digital nachbearbeiten können. Die App Facetune, mit der du dein Aussehen ganz easy digital verändern kannst, wurde inzwischen über 160 Millionen Mal gedownloadet und erlaubt es jedem:jeder, schädliche Körperideale aufrechtzuerhalten.
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@gracebooth97 London’s secret sandwhich shop moment
♬ original sound - Grackle
Kein Wunder also, dass so viele begonnen haben, sich genau dieser Message zu widersetzen. In den letzten Jahren erstellen immer mehr junge Creators „What I eat“-Content, der sich explizit gegen Diäten richtet und nicht-einschränkende Essgewohnheiten bewirbt.
Grace Booth, zum Beispiel. Die 23-jährige Engländerin filmt seit zwei Jahren „What I eat in a day“-Videos und betont dabei immer wieder das Wort „realistic“, indem sie es beispielsweise in Großbuchstaben in den Titel schreibt. „Ich wollte schon immer so ein Video machen, weil ich nie eins gesehen hatte, in dem sich jemand so ernährte wie ich“, erklärt Grace. „Ich glaube, zu dem Zeitpunkt ging es in ‚What I eat in a day‘-Videos auf YouTube um SEHR viel Grünkohl, Salat und Porridge.“ Grace sagt, dass ihr ganzer Freundeskreis eigentlich so aß wie sie selbst – eine Mischung aus Obst, Gemüse, Sandwiches, Chips und Kuchen quasi –, aber dass diese Essgewohnheiten auf YouTube und Co. nirgendwo zu sehen waren. Obwohl Grace selbst nie eine problematische Beziehung zum Essen hatte, erzählt sie, dass die „What I eat“-Videos anderer Leute sie doch an sich zweifeln ließen.
„Ich denke, [solche Videos] können echt schaden“, sagt sie. „Ich glaube, dass viele junge, leicht zu beeinflussende Teenager diesen Content sehen und sich fragen: ‚Sollte ich das auch so machen?‘ Ich fände es also toll, wenn meine Videos auch nur einem Menschen zu der Einsicht verhelfen können, dass nicht jede:r dasselbe isst. Ich will zeigen, dass man Essen auch genießen kann.“
Letztes Jahr ging ein Audio-Clip auf TikTok viral, in dem eine Frau ihre gesunde tägliche Ernährung mit ruhiger Stimme beschrieb: „Ich fange den Tag mit einem warmen Zitronenwasser an. Dann folgt Müsli mit Hafermilch und Cashew-Butter…“ Direkt untermalten zahlreiche TikToker die Stimme mit Videos und Fotos von ihren zuckerreichen Snacks. Beispiele wie dieses und Graces Videos zeigen: „What I eat“-Content muss nicht zwangsläufig negativ oder schädlich sein. Grace ist tatsächlich sogar davon überzeugt, dass diese Videos Leute zum Kochen inspirieren können. Einige Videos, meint sie, fühlen sich an, „als würdest du zusammen mit Freund:innen essen“. Die Soziologie-Professorin Deborah Lupton sieht das ähnlich. Ihr zufolge können Plattformen wie YouTube und TikTok „kulinarische Vielfalt fördern“ und denen „Inspiration und Ratschlag“ liefern, die sich gern gesünder ernähren möchten. Insbesondere Content zur Überwindung von Essstörungen kann „hilfreich und unterstützend“ für Menschen mit ähnlichen Erfahrungen sein, betont Deborah.
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Das heißt jedoch nicht, dass „What I eat“-Content in den letzten Jahren völlig verharmlost ist. Neben den positiven Geschichten von kurierten Essstörungen und brutal ehrlichen Videos wie „What I eat in a day as a fat person“ stehen nämlich noch immer viele Beiträge, in denen sich alles um strenge Diäten, sichtbare Rippen und Kalorienzählen dreht. „Wenn du merkst, dass dir etwas negativ nah geht, leg dein Handy weg oder sieh dir etwas an, das dich glücklich macht“, empfiehlt Grace. Sie hofft, dass sich auch die Kultur rund um diesen Content mit der Zeit verändert.
„Ich wünsche mir einfach, dass die Leute beim Teilen von Food-Content 100-prozentig ehrlich und transparent sind. Ich kenne einige Influencer, die sich nämlich definitiv nicht so ernähren, wie sie in ihren Videos behaupten“, sagt sie. „Die essen nicht bloß Karotten und Hummus zum Mittagessen und verzichten komplett auf Snacks!“
Obwohl wir davon in den letzten Jahren immer mehr mitbekommen, ist der „What I eat“-Content natürlich keine neue Erfindung – nur lässt er sich durch TikToks unglaubliche Beliebtheit heute schlechter ausblenden. „Dieses Konzept ist nicht neu“, erklärt auch Louise Foxcroft, Historikerin und Autorin von Calories and Corsets: A History of Dieting over 2,000 Years. Louise erzählt, dass selbst der britische Dichter Lord Byron schon in den frühen 1800ern einer strikten Diät folgte, essiggetränkten Kartoffelbrei aß und sich regelmäßig bei einem Weinhändler in London wog. „Viele viktorianische Ärzt:innen machten sich damals große Sorgen um [Byrons] Einfluss auf die Jugend“, sagt sie. „Lord Byron war vielleicht der erste Promi-Diätenanhänger.“
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Zu strengem „What I eat“-Content hat Louise eine klare Meinung: „Das ist genau die Art von Demütigung, Qual und Konkurrenzdenken, die die Diät-Industrie schon seit mindestens 150 Jahren für eigene Zwecke manipuliert.“ Nicht umsonst ist auch Luigi Cornaros venezianischer Diät-Ratgeber schließlich immer noch im Druck.
Vermutlich lässt sich unsere Besessenheit mit der Ernährung anderer Leute ganz einfach mit unserer grundlegenden menschlichen Psychologie erklären: Wir sind neugierige, konkurrenzgeile, ehrgeizige und oft auch gelangweilte Deppen. Wir können nur hoffen, dass das Internet auch weiterhin dafür sorgt, dass wir nicht nur einseitige Diäten präsentiert bekommen. „Ich persönlich liebe es, ‚What I eat‘-Videos anzugucken und selbst zu filmen, solange es dabei nicht um restriktive Essgewohnheiten geht“, meint Talia. Da dürfte sie Glück haben: Nach fast 500 Jahren Ernährungs-Content werden diese Videos wohl so schnell nicht verschwinden.
Wenn du selbst an einer Essstörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe braucht, kannst du dich beispielsweise per Email, Chat, Video-Beratung oder Telefon an das ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen wenden.
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