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Nein, Therapeut:innen sollten nicht über ihre Patient:innen posten

Foto: Paola Vivas.
In vielerlei Hinsicht sind die kurzen Videos der Therapeutin Kristina Virro, in denen sie psychologische Themen schnell erklärt, total typisch für #TherapyTok. Vom Umgang mit Burnout über das Ziehen von Grenzen bis hin zur Bewältigung von Perfektionismus: Ihre Videos erfüllen unseren unersättlichen Wunsch nach Selbstoptimierung – und kassieren dafür jede Menge Lob von ihren über 56.000 Follower:innen.
Kristinas Account ist aber nicht nur eine Quelle für knackig verpackten psychologischen Rat, sondern auch schlichtes Entertainment. In einem TikTok, das inzwischen über 150.000-mal geschaut wurde, erzählt Kristina zum Beispiel von ihren „unangenehmsten Momenten in der Therapie“. Zu denen gehören beispielsweise die „Bombe am Sitzungsende“ (wenn ein:e Patient:in erst kurz vor dem Ende der Stunde eine superwichtige Information teilt) und die „Bitte um Selbstoffenbarung“ (wenn ein:e Patient:in den oder die Therapeut:in darum bittet, von eigenen Erfahrungen zu erzählen). Der Titel des Videos: „Liebe Therapie-Kolleg:innen, ich MUSS bitte eure hören 😂.“
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Natürlich sehen sich nicht bloß Therapeut:innen Kristinas Content an. Da Therapie-Patient:innen nur selten so ehrliche Einblicke in die Gedanken ihrer Therapeut:innen bekommen, ist es kaum überraschend, dass dieser Clip so viral ging. Trotzdem freuen sich nicht alle über solche Einblicke – vor allem diejenigen, die gerade eine Therapie machen. „Jetzt habe ich Schiss vor meiner nächsten Sitzung. Ich will nicht, dass sich mein:e Therapeut:in unwohl fühlt“, kommentierte zum Beispiel @lainey unter Kristinas Video. „Omg, das ist mir jetzt voll peinlich“, schrieb @lruth.art.
Letztes Jahr, als eine Therapeutin ein inzwischen gelöschtes TikTok-Video postete, in dem sie sich über das „Trauma-Abladen“ ihrer Patient:innen ausließ, provozierte das ähnliche Reaktionen. Viele Leute beschwerten sich, „trauma dumping“ sei in diesem Kontext ein irreführender Begriff; andere teilten ihre daraus resultierende Unsicherheit und fragten, ob es denn eine Grenze dabei gebe, wie viel sie in einer Therapie von sich preisgeben dürften. Diese Debatte zeigte auch auf ein weiteres Phänomen auf: Immer mehr Therapeut:innen erzählen online von ihren Patient:innen – und beeinflussen damit die Meinung vieler Leute von Therapien (und ihre Beziehung dazu). 
P.E. Moskowitz schreibt den Newsletter „Mental Hellth“ rund um Kapitalismus und Psychologie und betrachtet diese Entwicklung als Grund zur Sorge. „Es wäre mir extrem peinlich, wenn ich auf TikTok ein Video sehen würde, in dem sich mein:e Therapeut:in kaum anonymisiert über mich auslässt“, meint Moskowitz. „Wenn du eine Therapie machst, sollte die sich um dich und deine Probleme drehen. Der:die Therapeut:in sollte darin keine Rolle spielen. Wenn sich Therapeut:innen jetzt aber online über ihre Patient:innen beschweren – selbst, wenn es nicht dein:e eigene:r ist –, könnte das dazu führen, dass Betroffene ihren Therapeut:innen nicht mehr komplett trauen.“
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Die 21-jährige Miriam* kennt das sehr gut. Sie war über ein solches Video gestolpert, in dem eine Therapeutin über ein:e Patient:in lästerte, und fühlte sich darauf wahnsinnig verunsichert. „Wenn Betroffene online derart mit ihren eigenen Fällen konfrontiert werden, fühlen sie sich wie ein Vorführobjekt – wie ein katastrophales Paradebeispiel, das der:die Therapeut:in für Aufmerksamkeit und zum persönlichen Vorteil ausnutzt“, meint sie. Sie entschied sich dazu, in ihrer eigenen Therapie über diese Gefühle zu sprechen. „Anfangs war ich sehr unsicher. Mein Therapeut versicherte mir aber, er würde nie etwas über mich posten. Heute vertraue ich ihm.“ Miriams Therapeut hat allerdings ohnehin keinen Social-Media-Account; sie sagt, ihr Vertrauen würde ihr schwerer fallen, wenn er einen hätte.
Aber warum sind so viele Therapeut:innen in den sozialen Medien vertreten und erzählen dort von ihren Patient:innen? Sie rechtfertigen das häufig damit, wie wichtig es sei, mit anderen Therapeut:innen in Kontakt zu treten. „Obwohl es ein toller Beruf sein kann, kann man sich darin doch recht einsam fühlen“, erzählt mir Kristina. „Schließlich ist es unsere Aufgabe, jemandem das Gefühl zu geben, ihm oder ihr die komplette Aufmerksamkeit zu schenken. Das heißt aber zwangsläufig, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse und Gefühle während der Sitzung völlig in den Hintergrund stellen. Als mir andere Therapeut:innen schrieben, sie hätten sich mit meinem Content [auf TikTok] total identifizieren können, war das ein starkes Gefühl der Bestätigung. Ich fühlte mich verstanden.“
Trotzdem gibt es Therapeut:innen, die eine völlig andere Meinung vertreten. Die Psychotherapeutin und Beraterin Erin Stevens findet, Therapeut:innen sollten außerhalb der Supervision (das ist der Austausch über eigene Fälle mit anderen Therapeut:innen) überhaupt nicht mit Dritten über ihre Patient:innen sprechen (und tatsächlich ist das sogar in der Schweigepflicht verpflichtend). „[Das Sprechen über Patient:innen durch Therapeut:innen] ist schon lange ein Problem, das wir angehen müssen. Die sozialen Medien haben es nur sichtbarer gemacht“, sagt sie. Ältere Beispiele als #TherapyTok sind unter anderem anonyme Subreddits wie r/askatherapist oder private Facebook-Gruppen, in denen Therapeut:innen ihre Fälle miteinander freier besprechen können. Laut Erin fehlt es dabei aber an seriöser Überwachung, wenn Therapeut:innen ihre Fälle online in teils öffentlichen Foren besprechen. „Eine Supervision ist wirklich nützlich, um die eigene Arbeit zu diskutieren. Wenn du das nicht hast, versuchst du das vermutlich in anderer Form auszugleichen“, sagt sie.
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Gleichzeitig diskutieren manche Therapeut:innen ihre Patient:innen aber auch deswegen online, um ihren Follower:innen damit zu helfen. Divya Robin, eine Therapeutin mit 208.000 Follower:innen auf Instagram, hält das für gerechtfertigt – solange der oder die Patient:in anhand der Informationen nicht identifiziert werden kann. „Nehmen wir zum Beispiel einen Patienten, der Probleme mit Perfektionismus hat“, sagt Divya. „Die meisten Menschen leiden dann und wann unter Perfektionismus. Dadurch ist der Patient nicht identifizierbar.“ Sie ergänzt, dass es für Betroffene sogar hilfreich sein kann, wenn solche Informationen online geteilt werden, weil sie sich „damit in ihrer Situation weniger allein fühlen“.
Erin kritisiert aber genau diese, wie sie es nennt, „willkürlichen Regeln“ – wie die, das der:die Patient:in „unidentifizierbar“ sein sollte –, die Therapeut:innen nutzen, um das Posten über ihre Sitzungen zu rechtfertigen. Schließlich mag es sein, dass ein:e Patient:in für andere nicht in einer Story identifizierbar ist, sich selbst aber sehr wohl in diesem Content wiederkennt oder zumindest befürchtet, es könne hier um ihn oder sie gehen. Erin kennt selbst Menschen, die sich in solchen Posts identifiziert haben. „Ich habe dazu schon Posts gesehen, in denen sich Patient:innen darüber beklagen, sich selbst im Content ihrer Therapeut:innen wiederzuerkennen – selbst wenn der oder die Behandelnde vielleicht zum Beispiel das Gender ausgetauscht hat, um die Identität zu verhüllen.“
Das wirft Fragen dazu auf, wie Therapeut:innen ihre Social-Media-Accounts nutzen sollten – und ob sie es überhaupt tun sollten. Für Divya hängt das davon ab, ob die:der Therapeut:in gewillt ist, offen mit den eigenen Patient:innen darüber zu sprechen und individuelle Grenzen zu vereinbaren. Sie meint, in ihrem Fall habe ihre therapeutische Social-Media-Präsenz durchaus schon für bessere Beziehungen zwischen Behandelnder und Behandelten gesorgt; ihre eigenen Posts dienten manchmal als Ausgangspunkt für wichtige Diskussionen während der Sitzung. „Ich glaube nicht, dass mein Instagram-Account je meinen Patient:innen geschadet hat oder negative Konsequenzen für unsere therapeutische Beziehung hatte“, sagt Divya. „Wenn überhaupt, hat er diese Beziehung sogar gestärkt. Man muss aber offen darüber sprechen können.“
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Erin – die auf Twitter rund 11.000 Follower:innen hat – ist der Meinung, Therapeut:innen sollten durchaus eine Online-Präsenz haben dürfen, aber verantwortungsbewusst damit umgehen. „Je mehr Menschen dir folgen, desto mehr prüfende Blicke musst du über dich ergehen lassen. Das halte ich aber für gerechtfertigt. Schließlich repräsentierst du diese Berufsgruppe dann umso stärker“, meint sie. „Ich glaube aber, dass du dir deines Publikums extrem bewusst sein solltest, ganz egal, ob du 50 oder 100.000 Follower:innen hast.“
Viele Therapeut:innen behaupten, ihre Plattform zum Wohle anderer zu nutzen. Es kann aber schwierig sein, zu erkennen, wer es wirklich nur gut meint. Miriam wäre es zwar lieber, wenn Therapeut:innen nicht online über ihren Job posten würden, sagt aber: „Wenn ihr Ton prinzipiell hilfsbereit ist und sie wirklich nur eine wichtige Message verbreiten wollen, ist das etwas anderes.“ Sie ergänzt aber auch: „In den meisten Fällen scheinen die Leute aber die falsche Motivation zu haben.“ Moskowitz betont, dass Therapeut:innen aber eben genauso empfänglich sind für das Rampenlicht wie wir alle. „In der Therapie geht es um deinen Platz in dieser Welt und um deine Vergangenheit, deine Traumata. Das auszunutzen, um damit viral zu gehen, ist irgendwie ekelhaft.“ Es ist leider nicht schwer, sich eine Situation auszumalen, in der die Sucht nach Aufmerksamkeit und Views eine:n Therapeut:in zu dubioseren Praktiken antreibt – zum Beispiel, indem sie sich in ihren Videos oder Posts auf spezifische Patient:innen beziehen.
Moskowitz ergänzt: „Ich finde, die Therapie sollte etwas Heiliges sein, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist – genauso wie alle anderen ärztlichen Besuche.“ Moskowitz macht sich dabei weniger Sorgen um die kompromittierte Beziehung zwischen Therapeut:in und Patient:in als darum, dass Therapie-Content die Psychoanalyse immer weiter simplifiziert und verallgemeinert. „Das ist gefährlich, denn darum geht es in der Therapie gar nicht wirklich. Therapie bezieht sich immer auf die individuelle Erfahrung.“ Entscheidend dafür ist aber ein ausreichendes Therapieangebot, damit sich Betroffene nicht auf Social Media verlassen müssen, sondern selbst einen Therapieplatz bekommen können.
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Es ist vielleicht unrealistisch, von Therapeut:innen zu erwarten, sich aus den sozialen Netzen rauszuhalten – vor allem, weil der Appetit nach Therapie-Content immer stärker wird. Wenn es aber darum geht, was sie (nicht) posten sollten, sollten wir ihnen definitiv höhere Standards auferlegen als durchschnittlichen Social-Media-Nutzer:innen. Denn ansonsten leiden diejenigen, die es am wenigsten verdient haben: die Patient:innen. 
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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