Das erste Mal, als Kara* einen Orgasmus erlebte, wurde sie daraufhin kurz ohnmächtig. „Das war, als sei ich plötzlich in einer anderen Dimension“, erzählt sie. Sie hatte damals gerade erst das Studium begonnen und war ganz frisch mit ihrem aktuellen Partner zusammen. Und obwohl sie seitdem zwar jede Menge toller Orgasmen hatte, war dieser erste irgendwie… anders. Das geht uns aber nicht allen so.
Der Mythos vom überwältigenden, atemberaubenden allerersten Orgasmus kursiert schon, seit es Orgasmen gibt – und die Medien bekommen nicht genug davon. Zahlreiche (Frauen-)Magazine beschreiben den ersten Orgasmus als „himmlisch“ oder „umwerfend“; hey, sogar wir bei Refinery29 haben 2018 einen Artikel mit 18 Erfahrungsberichten vom ersten Orgasmus veröffentlicht. Eine der befragten Frauen beschrieb ihren Höhepunkt darin als „ziemlich heftig“, und eine andere berichtete, ihr sei am nächsten Tag gesagt worden, sie würde strahlen. Der außergewöhnliche erste Orgasmus hat es auch schon in Filme, Bücher und Serien geschafft: Wer könnte die Szene aus American Pie vergessen, in der Tara Reid bei ihrem ersten Oralsex „Ich komme!“ schreit, oder Aimee Lou Wood beim ersten Masturbieren in Sex Education?
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Aber ist unser erster Orgasmus wirklich so perfekt und lebensverändernd? Und sollten wir unser restliches Leben lang versuchen, diesen Höhepunkt nachzuahmen, und jeden darauffolgenden Orgasmus mit diesem allerersten vergleichen?
Ehrlich gesagt hoffen wir es nicht. Tatsächlich könnte dich die Vorstellung, dass sich dein allererster Orgasmus dermaßen fantastisch anfühlen sollte, sogar davon abhalten, überhaupt zu kommen. Oder vielleicht bist du auch enttäuscht, wenn dein erster Orgasmus dem Hype nicht entspricht. „Wenn du noch jung bist, deinen Körper erst kennenlernst und nicht wirklich weißt, was du tust, kann dein erster Orgasmus verwirrend, überraschend und auch ein bisschen unheimlich sein“, meint Dr. Laura Purdy von der Gesundheitsplattform Wisp. Dr. Purdy zufolge erleben die meisten Menschen mit Vulva ihren Orgasmus tatsächlich auch eher als beruhigend statt atemberaubend. „Es ist ein erleichterndes Gefühl, zu realisieren: ‚Ich bin nicht kaputt, ich kann das empfinden!‘“, sagt sie. „Die Leute, mit denen ich bisher darüber sprechen konnte, haben mir erzählt, dieser erste Orgasmus sei für sie eher eine Art Startpunkt.“
Manchmal fühlt sich der erste Orgasmus vielleicht auch nur deshalb so besonders an, weil er oft der ist, der am stärksten im Gedächtnis bleibt. „Ich glaube, mir war damals einfach nicht klar, wie gut Sex wirklich sein kann – bis zu diesem Moment“, erzählt Kara. Das ist ein bisschen so, als würdest du zum ersten Mal das Meer sehen: Du bist in diesem Moment zwar total beeindruckt, doch heißt das nicht, dass du das Meer beim zweiten Sehen nicht genauso schön (oder sogar schöner!) findest.
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Wenn dein erster Orgasmus einfach nur okay oder sogar ein wenig verwirrend war – oder du noch gar keinen hattest –, denk dran, deine Erwartungen runterzuschrauben. Oft wird uns vermittelt, solche umwerfenden Erlebnisse würden sich uns ganz leicht ergeben. In Wahrheit erfordern sie aber häufig viel Mühe. „Wenn du immer schaust, was andere Leute machen, und du dich mit diesem ‚Standard‘ vergleichst, kann es sein, dass du es dir damit selbst versaust“, meint Dr. Purdy.
Und selbst, wenn dein erster Orgasmus doch unglaublich war, sollte dein Höhepunkt danach eigentlich immer noch besser werden, während du mehr über deinen Körper und deine Lust dazulernst. Der Orgasmus ist auch nicht nur das nette Finale von gutem Sex, sondern eine Fähigkeit, die wir erlernen können, erklärt Dr. Emily Morse, Sextherapeutin und Moderatorin des Podcasts Sex With Emily. Wenn dein erster Orgasmus schöner und stärker war als all die, die du seitdem hattest, steht dir noch ein wenig Arbeit bevor. „Tolle Orgasmen erlernst du erst mit der Zeit“, sagt sie. „Genauso, wie das erste Mal Sex meist nicht das beste Mal ist, ist auch der erste Orgasmus oft nicht der beste. Der erste Höhepunkt ist lediglich die Bestätigung, dass dir dein Körper sehr viel Freude bereiten kann – aber das war’s dann auch schon. Er ist ein Ausgangspunkt.“
Dr. Purdy sieht das ähnlich und ergänzt, dass Orgasmen für viele von uns leider eben auch mit Schamgefühlen und Erwartungen verbunden sind. „Ein Orgasmus ist eine körperliche Funktion, und jeder Körper empfindet ganz eigene Bedürfnisse, Wünsche und Leidenschaften. Es geht darum, dich auf die Erkundung und das Ausprobieren einzulassen und deinen Körper verstehen zu lernen, ohne ihn zu verurteilen – ohne Schuldgefühle, Angst oder Scham“, sagt sie. „Diese Gefühle geraten einer erfüllenden sexuellen Erfahrung nämlich enorm in die Quere. Dir selbst den Freiraum zu lassen, den du brauchst, um einen Orgasmus so zu erleben, wie er eben ist, ist das Beste, was du für dich selbst tun kannst.“
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Wer den eigenen Orgasmus verstärken (oder überhaupt einen ersten erleben) will, sollte es erstmal mit mehr Solo-Sex versuchen – immer eine gute Idee, auch für ein besseres Sexleben. „Dir alleine die Zeit zu nehmen, deinen Körper wirklich zu verstehen und herauszufinden, was dir gefällt, hilft dir auch mit Partner:innen“, meint Dr. Morse. „Achte darauf, was sich dabei gut anfühlt: Wie viel Druck? Wie viel Geschwindigkeit? Welche Techniken?“
Vielleicht ist unser erster Orgasmus also deswegen so etwas Besonderes, weil er uns zeigt, wozu unser Körper imstande ist. Und hey, wenn sich schon dieser erste Orgasmus für dich absolut atemberaubend anfühlt, weißt du genau, worauf du auch in Zukunft hinarbeiten kannst.
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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