Keine Frage, die Pandemie hat uns verändert: Jetzt haben wir eine noch nie dagewesene Angst vor Keimen, waschen wir uns ständig gründlich die Hände und achten wachsam auf mögliche Symptome wie Husten oder Fieber. Gesichtsmasken und Begrüßungen mit dem Ellbogen statt Händeschütteln sind normal geworden. Wir werden einen öffentlichen Wasserbrunnen nie wieder mit den gleichen Augen sehen können wie noch vor Corona-Zeiten. Viele von uns erleben außerdem eine andere, subtilere Nebenwirkung: „Oversharing“. Statt dem guten alten Small Talk geben wir jetzt also eher zu viele persönliche Informationen preis.
„Ich kann nicht damit aufhören, anderen von meinem nicht vorhandenen Sexleben zu erzählen und davon, dass mein:e Partner:in und ich mit einem Kommunikations-Coach zusammenarbeiten, um meine Beziehung verbessern“, erzählt Jenny Pritchett, Autorin von You Look Tired: An Excruciatingly Honest Guide to New Parenthood. „Ich spreche von Haus aus ein bisschen zu viel. Im Moment kann ich mich aber gar nicht mehr bremsen.“
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Die Tatsache, dass wir nicht von Angesicht zu Angesicht kommunizieren können – sei es mit Kolleg:innen, Freund:innen, der Familie oder sogar mit Fremden in der Schlange an der Kasse – hat, wenn wir ehrlich sind, dazu geführt, dass unsere sozialen Fähigkeiten ein wenig eingerostet sind. Ich denke, dass wir ein wenig das Gespür dafür verloren haben, was in einem Gespräch mit Fremden angebracht ist und was nicht – zumindest, bis wir den entsetzten Blick unserer Gesprächspartner:innen bemerken, während wir ihnen unsere Verdauungsprobleme schildern.
Wir hatten schließlich über mehr als ein Jahr lang nur wenig menschliche Interaktion in natura. Im Wesentlichen hat die Pandemie uns die Möglichkeit geraubt, mit anderen so in Kontakt zu treten, wie wir es normalerweise getan hätten (persönlich, häufiger und natürlich ohne die belastenden Umstände, unter denen wir alle leiden). Unser Verlangen nach Kontakt zu anderen kann uns deshalb dazu veranlassen, offener als sonst zu sein, sagt Shontell Cargill, eine Ehe- und Familientherapeutin. „Jetzt, wo wir uns wieder persönlich mit unseren Freund:innen, unserer Familie, unseren Kolleg:innen treffen können, haben viele von uns beim Sprechen keinen richtigen Filter mehr“, sagt sie.
„Ich merke, dass ich zu viel des Guten tue, wann immer ich mich dabei ertappe, wie ich Fremden unaufgefordert zu erklären versuche, warum wir z. B. einer Frau einen Haufen Geld pro Stunde zahlen, um an unserer Beziehung zu arbeiten“, räumt Pritchett ein. „Ohne dass mich jemand darum gebeten hätte, schaffe ich bei meinem Gegenüber eine mentales Bild von uns beim Sex, wann immer ich unser Sexleben erwähne, und wer will das schon?“ Aber selbst dann kann sie sich nicht zurückhalten. „Ich habe eine Pandemie durchlebt und habe keine Zeit mehr für Grenzen“, sagt sie. Sofie Parker erzählt, dass auch sie seit Corona zu viele Informationen mit anderen teilt. „Manchmal, wenn mein Tag sehr gut oder schlecht war, habe ich das Bedürfnis, jemandem – selbst jemand Fremden – davon zu erzählen, weil ich denke, dass es der anderen Person genauso geht“, sagt sie.
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Sie beschreibt, wie sie in einer Buchhandlung anstand und mit einer älteren Frau ins Gespräch kam, die ein Buch für ihre Tochter kaufen wollte. Zunächst unterhielten sie sich über Malerei, eines von Parkers Hobbys. Als die Schlange immer länger wurde, fing diese jedoch an, „persönliche Dinge zu teilen, z. B., dass ich mich an diesem Tag mit meinem Mann gestritten hatte, und über die Entscheidungen, die ich treffen muss, wenn ich nicht genau weiß, wie ich meine Aufgaben zu Hause und bei der Arbeit unter einen Hut bringen soll.“
Später fühlte sich Parker ein wenig unwohl wegen der Wendung, die das Gespräch genommen hatte. „Ich glaube, das liegt daran, dass ich als extrovertierte Person wirklich gerne unter Leute gehe und es mir schwerfällt, mich zu beherrschen. Das ist vor allem jetzt der Fall, da ich meine engsten Freund:innen und Kolleg:innen, mit denen ich normalerweise über meine Gefühle spreche, nicht mehr so oft persönlich treffe“, sagt sie.
Cargill glaubt nicht, dass unsere Tendenz zum Oversharing von Dauer sein wird. Für sie ist dieses Phänomen eher ein Symptom für den Übergang zu einer neuen Normalität. „Ich glaube, dass es sich dabei nur um eine Übergangserscheinung handelt“, sagt sie. „Wir mussten uns zuerst an die Pandemie gewöhnen, und jetzt versuchen wir, uns auf die Zeit danach einzustellen. Das passiert nicht einfach so von heute auf morgen.“ Oversharing an sich ist ja auch nicht einmal etwas Schlechtes, sagt sie. Wenn wenn du dem Ganzen aber ein Ende setzen willst, kann es laut Cargill hilfreich sein, dich zu fragen, warum du so viel mit anderen teilst. „Was ist das Ziel, das du damit verfolgst? Hattest du vielleicht in der Vergangenheit irgendwann einmal das Gefühl, nichts zu sagen zu haben, entweder in deiner Kindheit oder während der Pandemie? Fühlst du dich möglicherweise nicht gesehen oder gehört? Hast du den Anschluss verloren? Was willst du durchs Oversharing erreichen?“ Sobald du einige Antworten auf diese Fragen hast, kannst du über alternative Möglichkeiten nachdenken, um diese Bedürfnisse zu erfüllen. „Wenn es dir an Verbundenheit mangelt, solltest du dich mit deinen Freund:innen verabreden und mehr Zeit mit ihnen verbringen – vorausgesetzt, du fühlst dich wohl mit dieser Entscheidung“, sagt sie. „Was ich festgestellt habe, ist, dass Oversharing meist auf einen Mangel an solcher gemeinsamen Zeit zurückgeführt werden kann.“
Wenn du die Zeit hast, kann es auch eine gute Idee sein, es mit einer Therapie zu probieren. So kannst du dich entladen, denn schließlich ist es die Aufgabe von Therapeut:innen, dir bei der Verarbeitung der Dinge, über die du sonst mit anderen sprechen würdest, zu helfen. Jemanden zu haben, mit dem:der du deine Probleme angehen kannst, kann dich davor bewahren, deine Traumata der nächstmöglichen Person anzuvertrauen, die dich fragt, wie es dir geht. „Eine Therapie ist auch ein Ort, an dem du lernst, mit dem Drang umzugehen, zu viele persönliche Informationen preiszugeben“, sagt Cargill. „Der Grund fürs Oversharing kann tief verwurzelt sein, kann aber in der Therapie analysiert und verarbeitet werden.“
Diese Tipps können dir dabei helfen, den emotionalen Kater zu vermeiden, der sich manchmal durch Oversharing ergibt. Aber auch hier gilt, dass es nicht unbedingt etwas Schlechtes ist, wenn du jemandem dein Herz ausschüttest, dem:der du Persönliches normalerweise nicht erzählen würdest – vorausgesetzt, der- oder diejenige signalisiert nicht demonstrativ, dass er:sie möchte, dass du damit aufhörst. Außerdem stehen die Chancen gut, dass sich das Problem von selbst löst, sobald wir uns wieder daran gewöhnt haben, unter Leute zu gehen. Und was ist, wenn du mal Opfer von Oversharing wirst? Selbst wenn du Grenzen setzen musst, solltest du der Person, mit der du sprichst, ein wenig Nachsicht entgegenbringen, denn wir haben gerade alle noch Mühe, uns in der neuen Normalität zurechtzufinden.
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