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Macht die Pandemie unsere Freundschaften kaputt?

Photographed by Serena Brown
“Ist okay“, sagt eine Freundin zu uns, während sie aus dem Gebüsch krabbelt, in dem sie gerade pinkeln war. „Ich glaube, mich hat irgendwas gestochen… Aber ansonsten geht’s schon.“ „Super“, antwortet meine andere Freundin lachend, während sie ihr Bier auf der Picknickdecke abstellt und sich selbst auf den Weg Richtung Büsche macht.
Freundschaften spielen aus verschiedenen Gründen eine wichtige Rolle in unserem Leben: Sie machen uns glücklich und bestätigen unseren Selbstwert. Sie sorgen für ein Gefühl der Geborgenheit und Zusammengehörigkeit. Sie bieten uns einen Rahmen, in dem wir uns entwickeln können und mehr über uns und andere Menschen lernen können. Das war schon immer so und das wird auch in Zukunft immer so sein.
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2020 erleichtern wir uns im Gebüsch eines Parks. Mitten in einer Pandemie. Damit wir unsere Freund*innen treffen können. Damit wir sie IRL sehen und hören können.
Seit Beginn der Corona-Krise gab es viele Trends in Sachen Freundschaften: Erst kam die Skype-Phase, dann die Houseparty-Era und dann die Zeit der (viel zu langen) WhatsApp-Sprachnachrichten. Während ein Hype den anderen ablöste, setzte gleichzeitig eine längerfristige Entwicklung ein. Eine Entwicklung, die unsere Freundschaften sehr strapazieren oder schlimmstenfalls sogar gefährden könnte.
Laut Robin Dunbar, einem Professor der evolutionären Psychologie an der University of Oxford, hat jede unserer Freundschaften eine sogenannte “Verfallsrate“ – und die ist aktuell höher denn je. „Freundschaften gehen mit der Zeit ein, wenn wir uns nicht sehen; und zwar ziemlich schnell“, so Dunbar. Seine Untersuchungen zum Thema Freundschaft sorgten 2104 weltweit für Schlagzeilen, als er herausfand, unsere Kapazitäten für Freundschaften sind limitiert. Genauer gesagt berechnete er sogar eine konkrete Anzahl und die lautete 150. Das klingt erst Mal nach gar nicht sooo wenig sozialen Kontakten, aber diese Zahl enthält auch all unsere Social-Media-Freund*innen. Außerdem erklärte Dunbar, dass wir nur für einen kleinen Teil dieser Personen tatsächlich Zeit aufbringen – nämlich für nur 15 Personen unseres sozialen Netzwerks! „Aber diese Personen sind wirklich wichtig für uns. Für unser Wohlbefinden, unser Glück, unsere mentale und körperliche Gesundheit. Sogar das Risiko, zu sterben wird von der Anzahl der engen Freund*innen beeinflusst, die ein Mensch hat. Und da haben wir auch schon das Dilemma des Lockdowns“, so Dunbar.

Video-Calls können IRL-Treffen nicht ersetzen

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In den letzten Wochen haben wir, im Sinne des Social Distancings, viele dieser Verbindungen (zeitweise) abgebrochen und dadurch stieg die Verfallsrate unserer Freundschaften an. Warum? Weil die Basis von Freundschaften die Zeit ist, die wir in sie investieren, sagt Dunbar. Wenn diese Basis wegbricht, zerbricht auch irgendwann die Freundschaft und wird zu einer Bekanntschaft.
Dass Freundschaften auseinandergehen, ist nichts Neues. Wir begrüßen nicht nur ständig Menschen in unserem Leben, sondern verabschieden uns auch regelmäßig von ihnen. Wir suchen uns Freund*innen, die zu uns während einer bestimmten Lebensphase passen. Ist diese Phase vorbei, endet oft auch die Freundschaft. So traurig das auch sein mag, es ist nun mal der Lauf der Dinge. Es ist normal. Nicht normal ist dagegen der Lockdown. Und dieser spezielle Lebensabschnitt sorgt dafür, dass wir bei einigen Freundschaften sozusagen unbewusst auf die Vorspultaste drücken. FaceTime und WhatsApp –Video helfen zwar vielleicht, diesem Prozess etwas entgegenzuwirken, doch aufhalten können sie ihn auch nicht.
„Die digitalen Medien überbrücken schon länger derartige Distanzen. Doch weder Zoom, noch FaceTime, noch WhatsApp scheinen IRL-Begegnungen komplett ersetzen zu können, was den Effekt auf unser emotionales Wohlbefinden und unsere Lebenszufriedenheit beeinflusst“, so Dunbar. Es ist einfach ein komplett anderes Gefühl, jemanden direkt in die Augen schauen zu können. Es ist ein komplett anderes Gefühl, jemandem gegenüber stehen zu können; am selben Ort zu sein, dieselben Dinge zu sehen, zu riechen und zu fühlen, wie der oder die andere. Wenn dein Gegenüber beim Video-Call weint, kannst du sie oder ihn nicht umarmen. Wenn dein Gegenüber beim Video-Call von einem erfolgreichen Meeting erzählt, kannst du ihr oder ihm nicht auf die Schulter klopfen. Kleine Berührungen wie diese können einen großen Unterschied machen. „All diese Dinge, die wir tun, ohne wirklich darüber nachzudenken, sind viel wichtiger als wir es vielleicht realisieren“, erklärt Dunbar.
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Die 30-Minuten-Regel

Was die Art der Freundschaft angeht, gibt eine sogenannte 30-Minuten-Regel. Sie gibt an, dass eine Person maximal 30 Minuten von dir entfernt leben darf, um ein*e enge*r Freund*in zu sein. Laut Dunbar ist es dabei egal, ob du die halbe Stunde zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Auto unterwegs bist. Wenn ihr euch innerhalb von 30 Minuten erreichen könnt, trefft ihr euch höchstwahrscheinlich öfter und das wirkt sich positiv auf die Qualität der Freundschaft aus, erklärt der Experte. „Lebt eine Person außerhalb dieses Radius, fällt sie fast schon automatisch in eine “tiefere Freundschaftsgruppe“.
Als ich das gehört habe, wollte ich mich instinktiv dagegen aussprechen. 30 Minuten klingen so willkürlich und – besonders, wenn du in einer Großstadt lebst – unrealistisch. Müssten wir dann nicht alle chronisch einsam sein, wenn das stimmen würde? Und ich meine nicht nur seit Beginn der Pandemie, sondern schon immer? Würden sich Freundschaften dann nicht generell instabil anfühlen?
Tatsächlich gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass dem auch so ist. So gaben bei einer Statista-Umfrage aus dem Jahr 2019 beispielsweise 59 Prozent der 18- bis 29-Jährigen und 57 Prozent der 30- bis 39-Jährigen an, sich manchmal oder häufig einsam zu fühlen.
Und dann kommt dazu, dass wir wegen Corona einige Zeit auf Abstand gehen mussten – sprich auch keine Freund*innen besuchen konnten. Zwar ist das durch die Lockerungen jetzt theoretisch wieder möglich, aber die Frage ist, ob es wirklich so eine gute Idee ist, aktuell mit Bus und Bahn durch die Gegend zu fahren, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Schließlich haben wir die Pandemie noch nicht überstanden.
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In jedem Fall sind die Freund*innen, die in fußläufiger Entfernung von mir wohnen in den letzten Wochen zu meinen Rettungsankern geworden. Und anscheinend geht es anderen Menschen ähnlich. So ergab beispielsweise eine britische Studie, dass die Menschen jetzt näher zusammenrücken und sich viele Nachbar*innen gegenseitig aushelfen. Aus manchen Bekanntschaften in der eigenen Hausgemeinschaft wurden sogar echte Freundschaften.
Die Frage ist, wie sich die ganze Situation nach Corona entwickeln wird. Werden wir unsere eingeschlafenen Freundschaften wieder zum Leben erwecken können?

Was passiert nach Corona?

„Wahrscheinlich wird es so sein, dass die Menschen große Anstrengungen unternehmen werden, die Freund*innen zu treffen, die sie “behalten“ wollen, sobald die Beschränkungen richtig aufgehoben werden. Andere Freundschaften werden dagegen vielleicht auf nicht wieder aufleben“, vermutet Dunbar. „Ähnlich verhält es sich, wenn jemand eine Weile nicht anruft oder schreibt: Wenn die Kommunikationspause deutlich länger war als sonst, wird die folgende Unterhaltung deutlich länger ausfallen.“ Logisch: Man muss dann ja schließlich alles aufarbeiten, was man verpasst hat. „Wir versuchen dann, den Schaden, der unsere Freundschaft durch die Pause davongetragen hat, zu reparieren.“ Aber sicher hast du auch schon beobachtet, dass bei manchen Freundschaften die Abstände immer größer und größer werden, bis der Kontakt schließlich komplett abbricht.
Die Zeit der Krise sorgt dafür, dass wir unsere Freundschaften – bewusst oder unbewusst – analysieren. Wir entscheiden, an welchen wir festhalten und welche wir loslassen wollen. Manche werden abrupt enden, andere werden langsam aber sicher verblassen. Und manche blühen gerade jetzt vielleicht noch mal auf. Zum Beispiel weil wir es für sie riskieren, von Ameisen angepinkelt zu werden, während wir uns hinter einem Busch im Park erleichtern.

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