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Meine Fotos wurden für „Vorher/Nachher“-Diät-Werbung geklaut

„Wenn dicke Körper als ‚Vorher‘-Version abgestempelt werden, vermittelt das den Eindruck, ein dicker Körper sei immer noch ‚in Arbeit‘“, erzählt mir Marie Southard Ospina. „Er ist nie ‚fertig‘ – und verdient demnach keinen Stolz oder auch nur Respekt.“ Bilder der Plus-Size-Autorin und -Bloggerin wurden schon mehrmals für „Vorher/Nachher“-Werbung missbraucht, in der oft fragwürdige Gewichtsverlust-Techniken oder „-Verwandlungen“ beworben wurden. 
Die ganze Idee rund um „Vorher/Nachher“, sagt Marie, „gibt uns das Gefühl, wir könnten mit unserer jetzigen Figur nie erfüllt sein – und dass wir diese Erfüllung nur erreicht können, indem wir schrumpfen“. 
Wenn du jemals im Internet unterwegs warst, wirst du vermutlich irgendwann schon mal eine dieser „Vorher/Nachher“-Werbungen gesehen haben. Das Prinzip ist dabei immer dasselbe: Sie zeigt eine ehemals dicke Person, die jetzt dünn ist. Manchmal ist darauf im „Nachher“ auch ein Mann zu sehen, der jetzt an Barbies durchtrainierten Ken erinnert; meist geht es in diesen Posts aber um eine Plus-Size-Frau, die auf „erstaunliche Art“ enorm viel Gewicht verloren hat.
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Allein schon die Produkte, die mit solchen Werbeposts beworben werden – wie zum Beispiel Abführ-Tees –, sind immer fragwürdig. Die Posts sind aber insbesondere deswegen bedenklich, weil die „Vorher“-Bilder dicker Frauen (die in den meisten Fällen ohne deren Zustimmung verwendet werden) oft nicht dieselben Frauen zeigen, die auf der „Nachher“-Seite zu sehen sind.
„Vor circa acht Jahren sah ich das erste Mal, dass meine Fotos für Diät-Tee-Werbung benutzt wurden“, erzählt mir Jessica Torres per Video-Call, deren TikTok zu dem Thema vor Kurzem viral ging. „Ich dachte erst, das sei ein Witz. Aber nein, mein Foto wurde ernsthaft geklaut, um damit als ‚Vorher‘-Version Diät-Produkte zu verkaufen. Seitdem ist das mindestens zweimal pro Jahr passiert – jedes Jahr.“
Jessica fährt fort: „Jedes Mal, wenn ich meinen Körper im Zusammenhang mit dem Wort ‚Vorher‘ in irgendeiner Gewichtsverlust-Werbung sehe, wird mir wieder bewusst, wie sehr die Leute dicke Körper und dicke Menschen wie mich hassen. Das erinnert mich daran, wie ich mich als kleines Kind fühlte. Das löst Erinnerungen an die Zeit aus, in der ich dachte: ‚Oh, sobald ich abnehme, verliebe ich mich, kriege einen tollen Job, bin eine erfolgreiche Erwachsene und habe tolle Beziehungen zu Freund:innen und Verwandten.‘ All die Gedanken, die mir halt durch den Kopf gingen, als ich noch dachte, ein dünnerer Körper würde alles besser machen. Und jetzt, wo ich älter und dick bin, habe ich all das auch so geschafft.“
Aber wie kann es sein, dass dieser Foto-Diebstahl überhaupt immer so weitergeht? Ich habe bei der britischen Werbebehörde Advertising Standards Authority (ASA) nachgefragt. Via E-Mail erzählt man mir: „Wenn jemand den Verdacht hat, das eigene Foto würde in einer Werbung verwendet, kann eine Beschwerde eingereicht werden.“ Trotzdem sähen sie nicht viele solcher Fälle, betont die Behörde. Jessica kann das kaum glauben. Sie kenne unter ihren dicken Freund:innen „mehr Leute, die als ‚Vorher‘ benutzt wurden, als Leute, die das noch nie erlebt haben“. Marie stimmt ihr zu und kommentiert, dass das ein weit verbreitetes Problem in der Plus-Size-Community sei.
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Meine eigene Recherche scheint das zu bestätigen. Ich habe mich unter meinen Followern auf Instagram und Twitter umgehört (insgesamt sind das rund 19.ooo Leute), von denen die meisten Teil der Plus-Size-Community sind. Zahlreiche Frauen meldeten sich bei mir und erzählten davon, schon als „Vorher“ benutzt worden zu sein. Es ist also wahrscheinlicher, dass diejenigen, die sowas erleben, es einfach nur nicht melden.
Wer als dicker Mensch online ist, steht vor einer nicht enden wollenden Herausforderung: Zwar wollen wir unsere Leben leben und mit den Körpern Frieden schließen, von denen uns immer beigebracht wurde, wir sollten sie hassen. Fatphobia begegnet uns überall, weswegen wir sie tief verinnerlicht mit uns herumtragen. In fast allen Ecken des Internets sprechen Fremde unsere schlimmsten, von Selbsthass erfüllten Gedanken laut aus und stellen sie als Fakten dar – und das wird nirgendwo so deutlich wie in den „Vorher/Nachher“-Posts.
Die Plus-Size-Bloggerin Debz Louise fiel solchen Posts ebenfalls zum Opfer. In einem Reddit-Thread namens „Fat People Hate“ – der inzwischen von der Seite entfernt wurde – riefen User dazu auf, „Fotos von dicken Leuten zu klauen und sie nachzustellen, um zu zeigen, wie viel ‚besser‘ sie [die dünnen Leute] aussehen“. Debz erzählt mir, dass sie dieser brutale Angriff auf ihre dicke Figur weitestgehend kalt ließ, weil allein ihre Existenz als Plus-Size-Bloggerin sie gegenüber unberechtigten, verletzenden Kommentaren schon abgehärtet habe. Trotzdem war sie wütend darüber, dass andere dicke Menschen diese Posts sehen und sich deswegen eventuell schlecht fühlen könnten. 
„Foren wie Reddit erlauben dir zwar die ‚freie Meinungsäußerung‘ – aber die Leute, über die du da schreibst, über die du dich lustig machst und die du beleidigst, sind immer noch echte Menschen.“ Wütend fährt sie fort: „Wie würdest du dich fühlen, wenn jemand etwas Ähnliches über einen dir wichtigen Menschen posten würde? Dicke Leute wissen schon, dass sie dick sind. Deine Worte tun einfach nur sinnlos weh. Dicke Menschen existieren, und wir gehen nirgendwohin.“
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Dabei sollten wir dicke Menschen natürlich nicht erst derart vermenschlichen müssen, um darauf hinzuweisen, wie schlimm dieses Mobbing wirklich ist. Tatsächlich könnte das sogar den umgekehrten Effekt haben. Schließlich leben viele dieser Accounts explizit davon, dicken Leuten wehzutun und uns Scham einzureden. Was danach kommt, ist ihnen egal.

Damit wir auch nur das absolute Minimum an Respekt und Rechten zugesprochen bekommen, müssen wir erstmal erklären, warum wir das überhaupt verdienen.

Den Punkt betont auch Jessica nochmal. Wann immer sie die entsprechenden Brands kontaktiert, die ohne ihre Erlaubnis mit Jessicas Foto werben, bekommt sie bloß eine oberflächliche Entschuldigung zurück. Das Foto wird daraufhin zwar gelöscht, doch der Schaden ist zu diesem Zeitpunkt schon angerichtet – und hat sowohl sie als auch jede dicke Person verletzt, die den Post gesehen hat. 
@thisisjessicatorres

##stitch with @bavamal Martina jumped on me at the perfect moment. I’ll bet you this will get taken down before the other videos

♬ original sound - ThisIsJessicaTorres
Einmal verwies eine Gewichtsverlust-Marke Jessica an einen ganzen Bilderkatalog, den sie für ihre Posts benutzten. Unter den Fotos auf dieser Seite entdeckte Jessica viele ihrer Freund:innen. Die Firma, erzählt Jessica, tat das Ganze als Copyright-Missverständnis ab und sagte ihr, sie solle „jede:n auf den Fotos kontaktieren und darüber informieren“. Sie antwortete: „‚Nein, macht euren verdammten Job.‘ Und dabei beließ ich es dann.“
Die unbezahlte emotionale Arbeit, die hier von ihr verlangt wurde, spiegelt genau die Erwartungen wider, mit denen die Plus-Size-Community jeden Tag konfrontiert wird: Damit wir auch nur das absolute Minimum an Respekt und Rechten zugesprochen bekommen, müssen wir erstmal erklären, warum wir das überhaupt verdienen
Marie Southard Ospinas Fall, in dem die geklauten Fotos sowohl als „Vorher“ als auch als „Nachher“ herhalten mussten, lässt außerdem keine Zweifel offen: Da gab es kein Missverständnis zu den Bildrechten. „Meine Fotos wurden wiederholt von Firmen geklaut, die Detox-Tees oder Diät-Smoothies verkaufen“, sagt sie. „Diese Leute tauchen meist tief in meine Accounts ein und suchen Fotos von mir, auf denen ich am dünnsten bin – als ich unter starker Magersucht litt –, und verwenden die dann als ‚Nachher‘-Foto neben einem neueren Bild, wo ich am dicksten bin.“
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Das hat enorme Auswirkungen auf Maries geistige Gesundheit. „Ich werde nie vergessen, wie ich damals dafür gelobt wurde, so viel Gewicht verloren zu haben“, klagt sie. „Dabei hatte ich das nur geschafft, indem ich meinen Körper hungern ließ. Trotzdem hörte ich immer wieder, wie toll das doch sei und wie schön ich aussähe.“
Genau deswegen fühlt sich jede:r, dessen:deren Foto geklaut und derart missbraucht wird, nicht bloß in der Privatsphäre verletzt, sondern auch persönlich angegriffen. Diese impliziten Übergriffe ertragen wir jeden Tag, in jedem Lebensbereich. Uns wird dadurch von völlig Fremden eingeredet, wir hätten nicht einmal das Mindestmaß an Respekt verdient – und werden nicht nur mit dünnen Leuten verglichen, sondern auch mit ehemals dünnen, weniger glücklichen, weniger gesunden Versionen unserer selbst.
„In unserer Gesellschaft wird Gewichtsverlust gefeiert – egal, unter welchen Umständen“, meint Marie. „Wir glauben immer, das sei ein Zeichen für Wohlbefinden – obwohl es oft ein Symptom vom absoluten Gegenteil ist.“ Wenn eine anfällige Person eine „Vorher/Nachher“-Werbung sieht, kennt sie nicht die wahre Geschichte des dargestellten Menschen und weiß nicht, was dieser durchgemacht hat oder wie er sich wirklich fühlt. Alles, was bei dieser Person ankommt, ist Scham. 

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