Vor dem Lockdown waren meine Nägel lang und gesund. Doch sobald alle Salons zumachen mussten und uns gesagt wurde, wir sollen zu Hause bleiben, habe ich angefangen, an meinen Fingernägeln zu kauen, bis sie komplett weggeknabbert waren. Und das Traurige daran ist: Für dieses “Kunstwerk“ habe ich sogar nur zwei Tage in der Selbst-Isolation verbracht.
Eigentlich hatte ich vor zwei Jahren erfolgreich mit dem Nagelkauen aufgehört, deshalb war dieses Verhalten von mir wirklich enttäuschend für mich. Gleichzeitig machte ich mir aber auch Sorgen um meine Gesundheit. Warum? Tja, wir erleben gerade eine Pandemie! Das buchstäblich Letzte, was man tun sollte (außer vielleicht über den Zaun zu springen und den Nachbarn zu umarmen) ist, sich die Finger in den Mund zu stecken. Aber ich konnte einfach nicht anders.
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So lustig es auch klingen mag, aber die Lösung für mein Problem habe ich beim Bingen der Kultserie Friends gefunden. In einer Folge fällt Chandler nämlich in einen tiefen Schlaf, während er eine Kassette anhört, die ihn ermutigt, „eine starke, selbstbewusste Frau“ zu sein. Und als er aufwacht, hatte die Hypnose bei ihm Wirkung gezeigt. Inspiriert von Chandlers Verwandlung habe ich beschlossen, es auch mal mit Hypnose zu probieren.
Ich weiß, bei Hypnosen denken die meisten eher an komische Esoterik-Sessions, in denen du später wie ein Huhn gackern wirst. Aber erstaunlicherweise hat die Wissenschaft sehr vielversprechende Forschungsergebnisse dargelegt, die darauf hinweisen, dass Hypnose bei der Behandlung einer Reihe von Beschwerden hilfreich sein kann – darunter Schlafstörungen, chronische Schmerzen und Raucherentwöhnung. Nach einer etwas längeren (und nervigen) Google-Recherche bin ich auf Uncommon Knowledge gestoßen, ein auf Psychologie spezialisiertes Schulungsunternehmen, das seit 2003 Selbsthypnosesitzungen zum Download anbietet. In der Bibliothek gibt es verschiedene Sessions, die bei so ziemlich jedem denkbaren Problem helfen sollen; natürlich auch eine zum Thema Nagelkauen.
Jede Aufnahme wurde von vier Hypnotherapeut*innen oder Therapeut*innen erstellt und ist 15 Minuten lang. Und nur damit du es weißt: Diese Sessions haben nichts mit den Hypnosen, so wie wir sie aus Serien und Filmen kennen, am Hut; es gab keine schwingenden Taschenuhren oder eine*n Hypnotiseur*in , der oder die dir sagt, dass du langsam seeehr müde wirst. Das bestätigt auch der Hypnotherapeut Mark Tyrrell. Er sagt, dass seine Klient*innen eher einen „entspannten und konzentrierten Zustand der Achtsamkeit einnehmen – so wie bei einem Tagtraum.“ Du nimmst deine Umgebung also immer noch wahr, aber bist dabei aufmerksamer und konzentrierter.
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„In der Hypnose bist du stärker mit dem instinktiven Teil deines Geistes verbunden, so dass du dein Unterbewusstsein neu schulen kannst, um auf Situationen anders und erfolgreicher zu reagieren“, erklärt er. Deshalb wird sie oft auch in Verbindung mit kognitiver Verhaltenstherapie eingesetzt, die ebenfalls darauf abzielt, den Geist umzuschulen, damit er positivere Denkmuster annimmt.
Also dachte ich mir, ich gebe dem ganzen eine Chance. Ich habe mich auf meine Couch gelegt und die Aufnahme gestartet – und sofort stellte ich das Ganze auch schon infrage: Ich lag flach da und konzentrierte mich auf meinen Deckenventilator, so wie es mir geraten wurde. Trotzdem schweiften meine Gedanken ständig ab. Was koche ich mir zum Abendessen. Kann sich die Wirtschaft denn überhaupt noch von den Einbußen durch die Krise erholen? Ich darf nicht vergessen, meine Mama danach anzurufen... Wie es sich herausstellte, war das ruhige Daliegen, auch in dieser Zeit, wo wir alle etwas entschleunigen, eine Herausforderung für mich.
Die Stimme des Therapeuten war aber sehr ruhig und half mir, mich etwas zu entspannen. Und obwohl ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl hatte, mein Geist war in einem Zustand der absoluten Achtsamkeit, muss ich zugeben, dass es recht leicht fiel, mich auf seine Worte zu konzentrieren und sie wie eine Stimme in meinem Kopf zu hören.
Die Sprache, die er verwendete, fand ich wirklich faszinierend: Anstatt vom „Nägelkauen“ zu reden, bezeichnete er das, was ich tat, als „Teile von sich selbst abknabbern“. Er brachte mich dazu, den Unterschied zwischen dem Gefühl des Drangs zum Kauen und dem Gefühl nach dem Kauen zu erforschen. Er bat mich, mir eine emotionale Barriere vorzustellen zwischen dem Wunsch, an meinen Nägeln zu kauen, und dem Gefühl, dass es etwas ist, was ich nicht tun sollte.
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Später verglich er meine Nägel mit Menschen, die unter einer gewalttätigen Diktatur leben. Er erklärte mir, dass es ihnen nie erlaubt war, sich zu entfalten und ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Dann sollte ich mir vorstellen, wie meine Nägel aussehen würden, wenn sie lang und stark werden dürften.
Am Ende der Sitzung aufzuwachen war überhaupt kein Problem für mich. Daraus schloss ich, dass ich eigentlich gar nicht “weggetreten“ war. Und später am Abend knabberte ich schon wieder an meinem rechten Daumennagel, bis er wund war.
Trotzdem machte ich die Sitzungen täglich weiter, auch wenn es mir manchmal schwerer fiel, mich dazu zu motivieren. Manchmal war ich sehr ungeduldig und wollte, die 15 Minuten einfach nur schnell hinter mich bringen, weil ich die Aufnahme schon auswendig konnte. Ich konzentrierte mich nicht mehr komplett auf die Worte des Therapeuten, wodurch ich mich dann darüber ärgerte, dass ich die Session nicht so ernst genommen hatte. An anderen Tagen fühlte sich die Sitzung dagegen wie eine schöne, entspannende Meditation an, aus der ich ruhig und energetisiert wieder aufwachte. In all der Zeit knabberte ich weiterhin an meinem rechten Daumennagel, bis ich Schmerzen hatte.
Erst am fünften Tag fiel mir auf, dass ich schon Fortschritte gemacht hatte. Ich knabberte nur an meinem rechten Daumennagel. Die anderen waren vollkommen gesund. – sogar die, die ungleichmäßig gewachsen waren und sich an Stoffen verfingen und die, an denen ich ganz schön viel Nagelhaut hatte. Am siebten Tag benutzte ich zum ersten Mal seit Beginn des Lockdowns aus der Not heraus eine Nagelfeile.
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Ab dem zehnten Tag habe ich mit dem Nagelkauen komplett aufgehört. Meine Fingernägel sind lang genug, um Nagellack zu auftragen, ohne dass es danach so aussieht, als hätte ein Kind seiner Mutter nacheifern wollen.
Seit ein paar Tagen mache ich die Sessions nicht mehr. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob es daran liegt, dass ich weniger Stress habe oder ob die Hypnose mir wirklich geholfen hat, aber ich kann dir stolz sagen, dass ich nicht mehr an meinen Nägeln kaue. Deshalb habe ich mir auch vorgenommen, andere Sessions auszuprobieren.
Das nächste auf meiner Liste: mit dem Rauchen aufhören!
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