Wie bei den meisten Leuten hängt meine geistige Gesundheit mit meinen Schlafgewohnheiten zusammen. Ich bin oft deprimiert und immer müde; nie habe ich das Gefühl, genug (guten) Schlaf bekommen zu haben. Als es mir mal psychisch richtig schlecht ging, verbrachte ich eine ganze Woche im Bett, und selbst wenn es mir gut geht, mache ich regelmäßig Nickerchen. Andere haben mein Verhalten als Faulheit oder Zeitverschwendung abgestempelt, und trotzdem habe ich den Eindruck, nie die acht Stunden Schlaf zu kriegen, die mir reine Haut, endlose Energie und ein generell besseres Leben versprechen. Als ich also vom biphasischen Schlaf hörte, wurde ich direkt neugierig.
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„Biphasischer Schlaf“ bedeutet, dass du deinen Schlaf in zwei Intervalle aufteilst, anstatt am Stück durchzuschlafen. („Polyphasischer Schlaf“ ist mit noch mehr Intervallen die Steigerung davon.) Die weitverbreitete Empfehlung von acht Stunden Schlaf am Stück nennt sich übrigens „monophasischer Schlaf“ und ist eigentlich eine ziemlich neue Erfindung; in der klassischen Literatur wird hingegen der biphasische Schlaf als total alltäglich beschrieben – unter anderem bei Homer, Cervantes und Dickens. Der Historiker A. Roger Ekirch schreibt in seinem Buch At Day’s Close: Night in Times Past, der biphasische Schlaf sei vor der industriellen Revolution sogar die Norm gewesen. Er erzählt, die Leute seien damals zum Sonnenuntergang ins Bett gegangen, hätten mehrere Stunden geschlafen, seien dann für ein paar Stunden wieder aufgestanden, um zu beten, Sex zu haben oder den Haushalt zu erledigen, nur um daraufhin bis zum Sonnenaufgang weiterzuschlafen.
Wer heute biphasisch schläft, hält sich dabei aber an ein anderes Muster. Wenn man sich die Posts der Reddit-Community r/polyphasic durchliest, scheinen dort die meisten so gegen Mitternacht schlafen zu gehen, um 6 Uhr aufzustehen und nach dem Mittagessen nochmal ein Nickerchen einzulegen. Da ich selbst nachmittags immer besonders müde bin, fand ich diesen Plan besonders reizvoll.
Dabei geht der biphasische Schlaf eigentlich gegen alles, was ich je über Schlaf gelernt habe. Schließlich wird immer betont, wie wichtig ein guter, langer Block Schlaf für die Gesundheit ist. Aber ich arbeitete gerade von zu Hause aus, musste tagsüber nirgendwo hin und hatte inzwischen so viele Posts gelesen, in denen sich die Leute darüber ausließen, wie energiegeladen und geistig klar sie sich durch den biphasischen Schlaf fühlten. Also stellte ich mir meinen Wecker und schloss mit großen Hoffnungen die Augen.
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Der erste Morgen war furchtbar.
Die Aufregung, ein interessantes Lifestyle-Experiment auszuprobieren, gab mir zwar während der ersten Morgenstunden halbwegs Kraft, aber schon am frühen Vormittag war ich völlig fertig. Immer wieder starrte ich meine Uhr an und wünschte mir, sie würde sich schneller drehen, damit ich endlich wieder schlafen konnte. Endlich zog ich mir ein provisorisches Mittagessen rein und fiel ins Bett, wo der wohl grandioseste Mittagsschlaf meines Lebens folgte. Ich hatte geplant, von 13 bis 15 Uhr zu schlafen, und mein Körper hielt sich perfekt daran; ich wachte genau pünktlich wieder auf, ohne mir einen Wecker stellen zu müssen. Danach fühlte ich mich ziemlich erfrischt, und der Rest des Tages war ordentlich produktiv.
Die folgende Woche lief ziemlich ähnlich ab. Das morgendliche Aufstehen fiel mir mit der Zeit leichter, genau wie das um drei Stunden vorgezogene Frühstück. An einem Tag machte ich vormittags ein bisschen Yoga, an einem anderen fing ich schon vor dem Mittagessen mit meiner Arbeit an, obwohl ich auch da erst so gegen 17 Uhr in meinen produktiven Arbeitsrhythmus kam. So früh aufzustehen fühlte sich irgendwie surreal an; die ganze Woche kam mir vor wie aus einem anderen Leben. Ich glaube, ich hatte vorher nie so richtig bemerkt, wie tief ich in meine Lockdown-Routine abgerutscht war, bei der sich der ganze Tag direkt nach dem Aufstehen endlos vor mir ausdehnte und die Stunden nahtlos ineinander übergingen. Meine neue Struktur trennte den vorher ununterbrochenen Tag in strikte Abschnitte auf, von der jeder eine eigene Funktion erfüllte. Das war zwar echt ungewohnt, zwang mich aber dazu, meinen Tag effizienter zu organisieren als zuvor.
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Nach einer halben Woche verabredete ich mich mit einer Freundin zu einem (sozial distanzierten) Spaziergang, der mich vor ein unerwartetes Problem stellte: Entweder musste ich sie um 8 Uhr morgens treffen, um rechtzeitig zur Arbeit und meinem Mittagsschlaf wieder nach Hause zu kommen – oder ich traf sie nach meinem Nickerchen um 15 Uhr, nur wenige Stunden vorm Sonnenuntergang. Wir einigten uns schließlich auf den Nachmittag, und ich verlegte mein Nickerchen um eine Stunde nach vorne. Das Wissen, dass ich direkt nach dem Aufstehen aber würde rausgehen müssen, machte es mir schwer, mich zu entspannen; die Konsequenz war, dass ich kaum Schlaf bekam. Das Treffen war dann toll, aber als ich danach nach Hause kam, war ich total erledigt.
Meine Freundin wusste allerdings von meinem Experiment und war zeitlich flexibel. Hätte eine von uns beiden einen strikteren Terminplan gehabt, wäre es echt schwer gewesen, uns überhaupt zu treffen. Und da hätten wir auch das größte Problem mit dem biphasischen Schlaf: die Organisation. Wenn du dir deine Arbeitszeit selbst einteilen kannst, könnte das bei dir ganz gut klappen – aber unsere Welt geht eben davon aus, dass ihre Bewohner:innen nachts schlafen, nicht mitten am Tag. Für all diejenigen, deren Arbeitszeiten sich im Lockdown nicht verändert haben, ohnehin bald wieder zu einem „regulären“ Arbeitstag zurückkehren, oder für Menschen mit Kindern ist eigentlich nur der monophasische Schlaf machbar.
Dabei sollten wir uns aber immer wieder daran erinnern, dass acht Stunden ununterbrochener Schlaf zwar die moderne Norm ist, aber nicht, weil die Natur es für uns so vorgesehen hat. Für den Untergang des zweiten Schlafs gibt es einige Gründe; Ekirch macht dafür aber vor allem den wirtschaftlichen Fortschritt verantwortlich. „Die Leute wurden sich der Uhrzeit immer bewusster und legten mehr Wert auf Effizienz – sicher auch schon vor dem 19. Jahrhundert, aber die industrielle Revolution beschleunigte diesen Prozess nochmal.“ Als Fabriken aus dem Boden schossen, die immer mehr Arbeitskräfte brauchten, die wiederum derselben Routine folgen mussten, wurden striktere Schlafzeiten immer mehr zur Gewohnheit. Den ersten mechanischen Wecker erfand übrigens 1787 der amerikanische Uhrmacher Levi Hutchins, damit er rechtzeitig um 4 Uhr für seinen Job aufwachte. Und im Zweiten Weltkrieg gehörten Wecker zu den ersten nichtmilitärischen Produkten, die wieder produziert wurden, damit Arbeitskräfte rechtzeitig für ihre Schichten aufstanden und so ihren Beitrag zum Krieg leisteten.
Mein persönliches Fazit: Ich bin mir nicht sicher, ob der biphasische Schlaf was für mich ist. Es gefiel mir zwar, so viel vom Morgen zu haben, aber der feste Zeitplan stresste mich – obwohl das Ganze ja eigentlich zu meiner geistigen Gesundheit beitragen sollte. Außerdem bestätigte mir das Experiment nur nochmal, dass ich nachmittags einfach kreativer bin als vormittags. Trotzdem fühle ich mich jetzt weniger schuldig für meine Vorliebe fürs Nickerchen, weil ich weiß, dass die sagenumwobenen acht Stunden Schlaf eigentlich bloß ein kapitalistisches Märchen zur Effizienzsteigerung sind. Ich werde von jetzt an aufmerksamer auf meinen Körper hören, wenn er mir mitzuteilen versucht, dass er komplizierte Bedürfnisse hat, die sich durch einen wirtschaftlichen Zeitplan nicht befriedigen lassen.