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Bin ich noch dieselbe Person wie vor der Pandemie?

Foto: Eylul Aslan
Nur zu gut erinnere ich mich an den Moment, als der erste Lockdown – wie sich später herausstellte, war das der erste von mehreren – öffentlich angekündigt wurde. Kurz darauf erhielt ich eine Nachricht von einem Freund, der schrieb: „Ich fühle mich nicht wie ich selbst. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich will einfach wieder ich selbst sein.“ Jetzt kann ich ein Lied davon singen.
Was ist, wenn wir tatsächlich nicht mehr die Menschen sind, die wir vor der Pandemie einmal waren? Was ist, wenn wir uns verändert haben oder durch die Pandemie verändert worden sind? Und was ist, wenn wir um die Menschen trauern, die wir einmal waren, während wir versuchen zu verstehen, wer wir in der Zwischenzeit geworden sind?
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Mit jedem Lockdown verspürte ich ein schleichendes Gefühl der Erleichterung: Erleichterung, dass wir so beschützt wurden. Erleichterung, dass etwas unternommen wurde, um die Lage zu verbessern. Erleichterung, dass ich zumindest vorübergehend keine großen Entscheidungen treffen musste à la: „Ist es sicher, Freund:innen zu besuchen? Ist es ethisch vertretbar? Werden meine Freundschaften es überleben, wenn ich mich distanziere, bis sich alles wieder normalisiert? Will ich danach überhaupt wieder rausgehen?“
Letztes Wochenende wachte ich nach einen Abend mit Freund:innen in einer Bar zum ersten Mal nach geraumer Zeit mit einem höllischen Kater auf. Mein Kopf tat furchtbar weh und ich hatte einen Bärenhunger. Ich hörte ein Klingeln in den Ohren, denn diese waren offensichtlich nicht mehr daran gewöhnt, von so vielen Menschen umgeben zu sein: Alles fühlt sich nun ganz anders an. Ich fing an, mich zu fragen: „War das Leben draußen immer schon so laut – oder ist es schlimmer geworden? Wie ist es möglich, von so vielen Menschen umgeben zu sein, so viel zu reden und am Ende bloß so wenig zu sagen?“
Wow, ich höre mich wie eine echte Spaßbremse an. Dabei liebte ich es früher, etwas trinken zu gehen und alle möglichen Partys unsicher zu machen. Oder vielleicht doch nicht?
Seit 18 Monaten wird so viel Wert darauf gelegt, „wieder zur Normalität zurückzukehren“. Mit dem Ausbruch der Pandemie begannen wir auf einmal, die jüngste Vergangenheit in höchsten Tönen zu loben: eine beschleunigte Welt, in der steigende Lebenshaltungskosten Hustle Porn und eine Girlboss-Kultur hervorgebracht hatten und in der vor allem junge Frauen wie kopflose Hühner herumliefen. Darin war das „Beschäftigtsein“ zu einem Statussymbol für Millennials aus der Mittelschicht geworden, die sich der Illusion hingaben, in einer Leistungsgesellschaft zu leben. Ruckzuck fühlten wir uns nostalgisch und trauerten Dingen nach, die wir nicht einmal wirklich mochten, aber auch nicht ablehnen konnten: warmer Prosecco, Erschöpfung oder keine freie Zeit zu haben.
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So ist es eben mit der Nostalgie. Dabei spielt uns unser Verstand einen Streich. Sich die Vergangenheit neu oder anders vorzustellen, ist nämlich eine Falle, denn sie existiert nicht mehr; wir können nicht in der Zeit zurückgehen. Nostalgie, sagt Dr. Tim Wildschut, Professor für Psychologie an der Universität von Southampton, „wird oft mit Heimweh verwechselt. Die Wurzeln des Wortes sind griechisch: ‚nostos‘ bedeutet ‚nach Hause zurückkehren‘ und ‚algos‘ ‚Schmerz‘. Es ist die Tatsache, dass wir die Vergangenheit nicht zurückholen können, dass wir nicht ‚heimgehen‘ können, die sie ihr so viel Macht verleiht und unsere Sehnsucht nach Rückkehr schürt. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Version der Vergangenheit, nach der wir uns sehnen, nie der tatsächlichen Vergangenheit entspricht, sondern idealisiert wird und modifiziert ist.“

Du fühlst dich vielleicht nicht mehr wie dieselbe Person. Was diese Pandemie aber bewirkt hat, ist, dass wir jetzt mehr Klarheit darüber haben, wer wir tatsächlich sind, über die Dinge, die wichtig sind, die uns am meisten dienen und die wir zukünftig zu schätzen wissen werden.

Dr Heather Sequeira
Entscheidend dabei ist, so Tim, „dass Menschen, die eine Zeit lang weg von zu Hause sind, oft Einsamkeit und Traurigkeit verspüren. Deshalb ist die Vorstellung, dass diese Faktoren Auslöser für Nostalgie sind, allgemein akzeptiert. Jetzt glauben wir aber, dass es genau umgekehrt ist, dass Nostalgie also nicht die Ursache für Einsamkeit oder Traurigkeit ist, sondern eine adaptive Reaktion darauf.“
Vergangenes ist vergangen und kann nicht mehr umgeschrieben werden. Wir können nicht mehr zu der Version von uns zurückkehren, die wir einmal waren. Das alles liegt jetzt hinter uns. Wenn wir uns nach einer fiktiven Vergangenheit sehnen, um mit dem Chaos und der Isolation unserer Gegenwart zurechtzukommen, verschließen wir uns vielleicht vor der Möglichkeit, uns persönlich weiterzuentwickeln.
Die Psychologin Dr. Heather Sequeira erzählt, dass viele ihrer Patient:innen feststellen, dass sie nicht „zur Normalität zurückkehren“ können. Sie erklärt, dass im Moment „ein enormer Druck herrscht, zu allen sozialen Aktivitäten ‚ja' zu sagen, die unser früheres Leben auszeichneten. Viele Menschen stressen sich selbst und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen“.
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Wenn die Pandemie aber, wie es die indische Schriftstellerin Arundhati Roy formuliert hat, tatsächlich „ein Portal“ ist, dann eröffnet sie uns vielleicht neue Möglichkeiten. „Nach jedem Umbruch und jeder Veränderung gibt es die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und darüber nachzudenken, was wichtig ist“, rät Heather. „Wir sollten uns ernsthafte Gedanken darüber machen, wer oder was uns während der Pandemie gutgetan hat, von wem oder was wir etwas Wertvolles übernehmen konnten und im Umkehrschluss, wen oder was wir am meisten vermisst haben und was wir weiterhin vermissen würden, falls es zu einem weiteren Lockdown kommen würde.“
Wir können nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen. Genauso wenig können wir nach einer Zukunft greifen, die es per Definition noch gar nicht gibt. Wir können uns aber sehr wohl mit der Gegenwart beschäftigen und die Gefühle, die wir dabei haben, hinterfragen. Diese Fragen zu stellen, sagt Heather, ist ein Mittel, um zu uns selbst zurückzufinden. „Du fühlst dich vielleicht nicht mehr wie dieselbe Person“, fährt sie fort. „Was diese Pandemie aber bewirkt hat, ist, dass wir jetzt mehr Klarheit darüber haben, wer wir tatsächlich sind, über die Dinge, die wichtig sind, die uns am meisten dienen und die wir zukünftig zu schätzen wissen werden.“
Das Coronavirus hat uns eine Menge beigebracht, nicht wahr? Über uns selbst, über unsere Freund:innen, über moderne Politik (sowie ihre Versäumnisse) und über die Zerbrechlichkeit unseres gemeinsamen kapitalistischen Ökosystems. Wir haben zu viel gesehen, um es jetzt übersehen zu können.
Die Lockdown-Zeit ist nun vielleicht vorbei. Die Zahl der Geimpften steigt an. Lass dich aber nicht von deiner Angst, etwas zu verpassen, überrollen. Überforder dich nicht damit, zur Normalität zurückkehren zu müssen. Schau lieber auf das, was direkt vor dir liegt. Konzentrier dich auf jene Dinge, die dich im Moment wirklich erfüllen. Vielleicht ging es bei der ganzen Gartenarbeit während der Lockdowns nicht bloß darum, diese Pandemie zu überleben und Zeit totzuschlagen? Möglicherweise macht dir Backen mehr Spaß, als in einer Kneipe zu sitzen. „Wenn du dich damit beschäftigst, was dich erfüllt“, fügt Heather hinzu, „wirst du die Wichtigkeit dieser Personen und Dinge erkennen und ihnen mehr Zeit einräumen. So schützt du dich auch automatisch vor Ablenkungen, die nicht in deinem Interesse sind.“

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